Im Jahr 1500 kamen die ersten Portugiesen nach Brasilien und feierten in Sichtweite ihrer Segelschiffe die erste Messe. 1.200 Europäer nahmen daran teil, und einige Hundert erstaunte Indigene hörten zum ersten Mal Gregorianischen Choral und mehrstimmige Renaissancemusik. Ein neuer Strang der Musikgeschichte hatte seinen Anfang genommen, selbst wenn die überlegen auftretende Kultur der europäischen Eroberer die eigenen Traditionen weitgehend durchsetzte. Erst seit jüngster Zeit werden Stimmen wie die des Schamanen Karamakate aus dem Amazonasgebiet ernst genommen, die dazu aufrufen, indigene Überlieferungen wertzuschätzen und zu bewahren: „Lasst nicht zu, dass unser Lied verstummt!“
Längst ist es an der Zeit, die indigenen Traditionen und die durch die Europäer beschädigte Identität der Völker Amerikas in den Blick zu nehmen – dem im weiten Panorama der amerikanischen Musikgeschichte seinen gebührenden Stellenwert einzuräumen. Allzu oft wurden Verbindungen und Vermischungen des musikalischen Erbes der „heidnischen“ Einwohner mit der noch lange europäisch dominierten Musikkultur übersehen.
Die Oper gelangte primär mit den aus Italien stammenden barocken Formen des Musiktheaters über den Atlantik und fasste dort Wurzeln – nicht allein entlang der Küsten und in den Hafenstädten. Seit dem 18. Jahrhundert wurden im Landesinneren – beispielsweise in Minas Gerais, Goiás oder Cuiabá – Opernhäuser gebaut.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich zunehmend Musiktraditionen aus der Vermischung von kulturellen Strömungen. In den Gebieten, in denen Plantagenwirtschaft betrieben wurde – in Brasilien, danach im karibischen Raum und in südlichen Gebieten der späteren USA – kam eine neue, bedeutende musikalische Einflussgröße hinzu: von den Menschen, die als Sklaven aus Afrika nach Amerika gezwungen worden waren.
Im 19. Jahrhundert entwickelten sich im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen eigene, nationale Musiksprachen. Sie orientierten sich unter anderem an den Konzepten des Indianismus und Indigenismus, die durch Altamerikanisten und Literaten formuliert worden waren. Eine Besonderheit stellte die brasilianische Hofmusik dar, die dadurch initialisiert wurde, dass sich das portugiesische Königshaus 1808 vor Napoleon in Rio de Janeiro in Sicherheit brachte. 15.000 Menschen umfasste diese neue Hofhaltung, die bis zur Ausrufung der Republik 1889 fortlebte.
All dies sind nur Ausschnitte. Faszinierend ist trotz aller historischen Belastungen, was man den Columbian Exchange nennt – eine „Kultur in Bewegung“. Heute sind viele Werke der lateinamerikanischen Populärmusik Weltmusik. Weniger bekannt sind die großartigen Kompositionen amerikanischer Komponisten der Kunstmusik. Sie in einem neuen Columbian Exchange auch in Deutschland verstärkt wahrzunehmen, ist längst nicht nur musikhistorisch lohnend, sondern ein Hörgenuss. Die Beschäftigung mit der lateinamerikanischen Musikgeschichte ist ein später „Nachhall“ meiner Tätigkeit für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien.
Lothar Kraft, geboren 1935 in Wasserburg am Bodensee, promovierter Musikhistoriker, bis 2000 Stellv. Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Zum Weiterlesen
Kraft, Lothar: „Lasst nicht zu, dass unser Lied verstummt“. Indigenes Erbe und Oper in Lateinamerika, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2023, 278 Seiten, 22,80 Euro.