„Wer für die Politik lebt, macht im innerlichen Sinne sein Leben daraus, er genießt entweder den nackten Besitz der Macht, die er ausübt, oder er speist sein inneres Gleichgewicht und Selbstwertgefühl aus dem Bewusstsein, durch Dienst an einer ‚Sache‘ seinem Leben einen Sinn zu verleihen. In diesem innerlichen Sinn lebt wohl jeder ernste Mensch, der für eine Sache lebt, auch von dieser.“
Wenn man sich dem komplexen und kraftstrotzenden Lebenswerk von Bernhard Vogel anlässlich seines 85. Geburtstages nähern will, kann das einleitende Zitat von Max Weber eine den Kern der Sache erreichende Formel sein. Natürlich ist über diesen Mann, Bernhard Vogel, alles schon einmal gesagt und geschrieben worden. Eine Festschrift ohne Oberflächlichkeit zu seinem 80. Geburtstag lässt da wenig offen. Doch weder sein Wirken noch seine Wirkung enden. Wer ihn auf Tagungen – und wahrlich nicht nur auf denen seiner so geschätzten Konrad-Adenauer-Stiftung – beobachtet, sieht ihn weiter im Mittelpunkt. Er kennt die Akteure und weiß die Debatte zu beeinflussen. Er ist immer wohlvorbereitet und verliert sich nicht in der Vergangenheit.
Es gibt keine formale Ausbildung für Politiker. Aber der Weg Vogels wäre dafür überaus geeignet. Ein erfolgreiches Studium, Tätigkeit im direkten Umfeld eines der politischen Wissenschaft verbundenen Gelehrten (Dolf Sternberger), Befassung und eigenständige Vermittlung einer prägenden Idee (Katholische Soziallehre) und das behutsame, aber beharrliche Eindringen in die Welt der Parteipolitik (Stadtrat, Bundestagskandidat): So könnte auch ein Curriculum für jemanden, der in der Politik sein „inneres Gleichgewicht und Selbstwertgefühl“ sucht, beschrieben sein.
Dieser Start legte den Grundstein für eine explosive Karriere: nach kurzer Zeit im Bundestag Landesminister – ernannt auf Druck der Landtagsfraktion gegen den Willen des Ministerpräsidenten; nach einer Kampfabstimmung für exakt zwölf Jahre Ministerpräsident, dann ein theaterreifer Abgang; nochmals elf Jahre Ministerpräsident in einem „jungen“ Bundesland; Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken; langjähriger und zweifacher Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, heute ihr Ehrenvorsitzender. Es waren Hunderte von Ämtern und Herausforderungen, aber bereits diese knappe Liste zeigt das Außergewöhnliche.
So lässt sich auch in der Mitte des neunten Lebensjahrzehnts erneut die Frage stellen, was im Sinne von Max Weber Bernhard Vogels „Sache“ war und ist, die seinem Leben von „innen und außen“ den Sinn gibt. Dabei geht es um die politischen Ideen. Deshalb sei nur kurz gesagt: Ich habe Bernhard Vogel aus der Perspektive des Jahrzehnte jüngeren, politischen Weggefährten und Amtskollegen als einen immer zugewandten und verlässlichen Freund kennengelernt. Ich habe ihm manches zu verdanken und habe oft versucht, es ihm gleichzutun.
Christ und Föderalist
Besonders zwei Aspekte scheinen mir auch durch die Brille des heute Aktuellen von besonderer Bedeutung: seine Grundüberzeugungen als katholischer Christ und sein überzeugtes Beharren auf dem Primat des Föderalismus in der Staatsorganisation.
Wir leben in einer Zeit, in der die ernsthafte Gefahr besteht, dass beide Gedanken, sowohl die Verwurzelung im christlichen Glauben als auch die Überzeugung von der Leistungsfähigkeit dezentraler Verantwortung, als rückwärtsgewandt und überflüssig beiseitegelegt werden. Die Überzeugung, dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen getragen wird, die er aus eigener Kraft nicht bewältigen kann, ist zwar politrhetorisches Allgemeingut, aber sie verliert als Leitlinie praktischer Politik an Stellenwert. Wer will denn heute das Familienbild noch aus christlicher Überzeugung definieren? Vielmehr herrscht doch die Angst, man grenze andere aus, wenn man auf das Primat des eigenen Glaubens verweist.
Bernhard Vogel war niemals klerikal. Zu seinen Lebensleistungen gehört das Herausführen der Katholiken in eine offene Gesellschaft entlang den Pfaden des Zweiten Vatikanischen Konzils. Aber er hat immer darauf bestanden, dass es Werte gibt, nach denen man lebt, und diese auch offen benannt werden. Deutschland ist ein christliches Land, selbst wenn andere Religionen ebenfalls viele Anhänger haben. Die „Verantwortung vor Gott“ im Grundgesetz hat nicht irgendeinen Gott gemeint. Das ist kein Herrschafts-, sondern ein Lebensprinzip. Die defensive missionarische Ruhe der christlichen Kirchen, ihre zunehmende Unfähigkeit, Sprachrohr gesellschaftlicher Zukunftskonzepte zu sein, und die immer geringere Notwendigkeit, politische Entscheidungen auch an den die Gesellschaft prägenden Prinzipien zu rechtfertigen, können Bernhard Vogel nicht ruhen lassen. Ich bin der festen Überzeugung, dass in den Bestrebungen, ein größeres Maß an europäischem Zusammenhalt zu schaff n, um einen Kontinent ohne einheitliches Staatsvolk zu einem politischen, ökonomischen und philosophischen Block in der globalen Welt zu formen, das offene Bekenntnis zur selbstbindenden Kraft religiöser Haltungen unersetzbar bleibt. Vogel kann das erklären, aber wie viele außer ihm?
Mitverantwortung für das Ganze
Nicht viel anders ist es mit dem Föderalismus. Wer Ministerpräsident in zwei Bundesländern war, und dies auch noch in den sogenannten „alten“ und „jungen“, hat zu diesem Ordnungsprinzip einer modernen Gesellschaft eine sachliche und emotional tiefe Beziehung. Bernhard Vogel hat die Aufgabe des Ministerpräsidenten in allen Dimensionen ausgefüllt. Da sind die gradlinige Führung einer großen und vielschichtigen öffentlichen Verwaltung, die intellektuelle Führung der Bevölkerung und der eigenen politischen Partei sowie die Präsenz vor Ort. Aber zugleich ist es eben auch die Mitverantwortung für das Ganze. Wir sind beide davon überzeugt, dass es richtig ist, dass Deutschland aus der Bundeshauptstadt und den Hauptstädten der Bundesländer gemeinsam regiert wird.
Dieses Prinzip der föderalen Ordnung steht heute zumindest auf dem populistischen Prüfstand. Die wohlfeile Behauptung, unwichtige Fragen könnten dezentral, wichtige Fragen aber müssten zentral entschieden werden, stellt die Wirkmechanismen von Föderalismus und Subsidiarität auf den Kopf. Die Herausforderung der Unterbringung der eigentlich nicht zu bewältigenden Zahl von flüchtenden Menschen im Herbst 2015 konnte gemeistert werden, weil eine föderale Ordnung von Bund, Ländern und Gemeinden eigenverantwortlich Lösungen schuf, ohne jeweils auf andere zu warten.
Leuchtturm der Bildungspolitik
Noch fundamentaler konnte Bernhard Vogel diese Erfahrung in der Bildungspolitik machen. Er war ein wahrer Leuchtturm der Bildungspolitik. Seine Zeit als Kultusminister von Rheinland-Pfalz fiel mitten in den Schulkampf: Einheitsschule oder Vielfalt, Konfessionsschule oder gemeinsame Wege, Lehrerausbildung in der Nachkriegswelt, die Umwälzungen an den Hochschulen und die Verbreiterung der Bildungsangebote durch neue Universitäten. Das war schon in einem Bundesland schwer zu bewältigen; eine Bundesverwaltung hätte es überfordert. Schon an der hessischen Landesgrenze und seinem dortigen Amtskollegen Ludwig von Friedeburg (SPD) konnte Vogel immer erkennen, dass jede bildungspolitische Entscheidung auch eine gesellschaftspolitische Dimension hatte. In welchem ideologischen Einheitsbrei wäre Deutschland untergegangen? Möglicherweise hätte der bundesweite Zeitgeist ein weniger geeignetes System allgemein verbindlich durchgesetzt. Bernhard Vogel stand dabei immer unter Druck. Er verließ sich auf seinen inneren Kompass, auf seine Katholische Soziallehre, sein Vertrauen in jeden Einzelnen und den Wettbewerb der Ideen.
Auch heute brauchen wir Misstrauen gegen einheitliche, vermeintlich alternativlose Konzepte. Deutschland muss dem Einzelnen vertrauen und wird seine Stärken behalten. Aber auch jeder Einzelne muss an seine Stärke und die eigene Verantwortung glauben. Auf der Basis eines verbindlich bleibenden europäischen Wertefundaments und in Respekt vor der Lösungskraft und dem Lösungswillen der Völker und Regionen Europas kann eine weitere Epoche des Erfolgs entstehen. Alle werden dabei immer wieder nach dem Sinn fragen, den es braucht, um Gleichgewicht und Selbstgefühl zu bewahren. Bernhard Vogel ist darin ein Lehrmeister.
Es bleibt eine persönliche Bemerkung: Bei den Hunderten von Begegnungen, die ich bis heute mit dem Jubilar haben durfte, habe ich das feste Ritual erkannt, dass Bernhard Vogel keinen Diskussionsbeitrag und keine Rede beginnen konnte, ohne zunächst zu danken. Sein Dank galt den Menschen, der Einladung, dem Projekt oder einfach dem zuletzt geäußerten Gedanken. Damit konnte nie ein Zweifel über seine Haltung entstehen. Er ist weder selbstverliebt, noch hält er sich für überlegen. Er zieht die Kraft aus den Begegnungen und nutzt sie, um seine Gedanken auf den Prüfstand zu stellen. Mit dieser Geisteshaltung hat er sehr viele Ämter geprägt, nicht zuletzt jenes, die weltweit und national so bedeutende Stiftung mit dem Namen Konrad Adenauers zu führen. Statt zu Beginn tue ich es zum Schluss: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und vielen, vielen Dank!
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Roland Koch, geboren 1958 in Frankfurt am Main, Politiker, Manager und Rechtsanwalt, 19 99 bis 2010 Ministerpräsident Hessens, 1998 bis 2010 Landesvorsitzender der CDU Hessen, seit 2010 Ehrenvorsitzender der CDU Hessen, 2011 bis 2014 Vorstandsvorsitzender der Bilfinger SE. Heute führt er den Aufsichtsrat der UBS Europe SE und ist Mitglied im Aufsichtsrat von Vodafone Deutschland.