Martin Luther ist am 31. Oktober 1517 ein knapp 34-jähriger Mann. Er weiß, dass er in elf Tagen Namenstag hat, doch dass er in zehn Tagen seinen 34. Geburtstag feiern kann, ist ihm unklar, ja ist ihm – in guter katholischer Tradition – auch völlig unwichtig. Denn aus einer Diskussion mit seinem Kollegen Philipp Melanchthon, die er viel später – 1542 – führt, wird deutlich: Luther kennt seinen Tauftag, den Martinstag, doch sein genaues Geburtsjahr ist strittig: „Dornach redten die hern, wie alt sie warn. Do sagte der Doctor (das heißt Martin Luther): Ich bin itzo 60 jar alt. Sprach Philippus (Melanchthon): Nein Her Doctor, ir seidt erst 58 jar alt, das hat mir eur mutter gesagt. Sprach der Doctor: Ir must mich nicht zcu jung machen! Ich bin gewißlich 60 jar alt. Aber Philippus wolts nicht zcugeben.“
Für die damalige Zeit ist ein Mann in diesem Alter, sei er nun 33, 34 oder 35 Jahre alt, kein junger Mann mehr, denn bei einer durchschnittlichen (männlichen!) Lebenserwartung von circa fünfzig bis sechzig Jahren hat Luther 1517 schon die Hälfte seines Lebens hinter sich; so hat er auch tatsächlich nur noch etwas mehr als 28 Jahre zu leben.
Der hagere Luther
Der Luther des 31. Oktober 1517 ist also kein stürmischer junger Mann, sondern ein Mann in der zweiten Hälfte seines Lebens, ein arrivierter Theologieprofessor, Subprior seines Wittenberger Augustinerklosters, Regens des dortigen Generalstudiums und als Distriktsvikar eine leitende Persönlichkeit seines Ordens. Allerdings ist Luther auch noch nicht der eher behäbig erscheinende Gelehrte, wie ihn die heute landläufige Porträttradition zeigt. Dieser Typus wird seit 1525 von der Cranach-Werkstatt in hohen Stückzahlen verbreitet: der Reformator in der Kleidung des Professors und vor allem wohlgenährt. Der Mönch Luther tritt hingegen völlig anders auf; auch von ihm gibt es eine Darstellung Cranachs aus dem Jahr 1520: asketisch, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen. Der Eindruck, den Luther in diesen Jahren macht, wird plastisch in einer Beschreibung – der ersten übrigens überhaupt von Luther –, die der Leipziger Gräzist Peter Mosellan als Augenzeuge von der im Juni und Juli 1519 stattfindenden Leipziger Disputation liefert: „Martinus ist von mittlerer Gestalt. Er hat einen hageren Körper, gleichermaßen von Sorgen und Studien erschöpft, so dass der, der genau hinsieht, fast alle seine Knochen zählen kann. Er ist noch immer von jugendlichem und frischem Lebensalter und hat eine scharfe und deutliche Stimme. (…) Ferner ist er in seinem Leben und in seinem Betragen umgänglich und freundlich. Er trägt nichts Stoisches und Sauertöpfisches zur Schau und kann sich in alle Zeiten schicken. In Gesellschaft ist er ein heiterer und scherzhafter Unterhalter, der überall munter und sorglos und immer mit fröhlichem Gesicht erstrahlt, wenn die Feinde auch noch so wild drohen (…). Aber eins rechnen ihm meist alle als Fehler an: Wenn er jemanden widerlegt, tut er es ein wenig zu unbesorgt und zu bissig.“
Luthers klösterlicher Alltag wird von den Stundengebeten strukturiert. Das erste Stundengebet beginnt schon nach Mitternacht, meist um circa zwei Uhr, und dauert als Frühmesse („Matutin“ oder „Vigil“) ein bis zwei Stunden. Dieses gemeinsame Chorgebet unterbricht den Schlaf, der nach Sonnenuntergang beginnt und nach der Matutin fortgesetzt wird. Während des Tages finden ab dem Sonnenaufgang alle drei Stunden die weiteren Stundengebete statt (sechs, neun, zwölf, fünfzehn Uhr), bis zum Tagesende gegen siebzehn Uhr die Vesper und zum Sonnenuntergang die Komplet gebetet wird.
Religiöser Perfektionismus und tiefe Ausweglosigkeit
Die Pflicht der sieben täglichen Stundengebete ist für Luther angesichts seiner sonstigen universitären und administrativen Belastungen oft kaum einzuhalten, sodass er das Pensum, das heißt alle 150 Psalmen, die auf die Gebete und die Tage verteilt sind, ansammelt und am Wochenende geballt „abarbeitet“. Im Rückblick kommt Luther bei einer Tischrede auf die Leiden des auferlegten Gebetspensums zu sprechen: „‚Als ich‘, sprach D. Martin Luther, ‚noch im Kloster ein Mönch war, hatte ich so viel zu schaffen mit Lesen, Schreiben, Predigen und Singen in der Kirche, daß ich dafür meine horas canonicas (= Stundengebete) nicht beten konnte. Darum wenn ich sie die sechs Tage über in der Woche nicht beten konnte, so nahm ich den Sonnabend für mich und blieb ohne Essen den Mittag und bis zum Abend und betete den ganzen Tag über. Wir waren also arme geplagte Leute mit den Decretis und Satzungen des Papsts. Davon wissen jetzt die jungen Leute nichts.‘“ Luther hält sich streng an die Ordensregeln, wie er selbst später bekennt: Er habe nicht zu den sündigen Mönchen, die den Bauch als Gott verehren, gehört, sondern zu den besten, „die heilig lebten und mit größter Anstrengung und voller Eifer versuchten, durch gewissenhafte Befolgung des Ordensideals den Zorn Gottes zu versöhnen und Vergebung der Sünden und das ewige Leben zu verdienen“. Dazu zählen auch nächtelanges Arbeiten und Fasten- und Bußübungen mit Selbstkasteiung bei der verzweifelten Suche nach Heil und Gnade. Perfektionismus führt zwangsläufig zum ständigen Gefühl des Scheiterns, und so fällt auch Luther in seinem religiösen Perfektionismus in tiefe Ausweglosigkeit:
„Da erscheint Gott in fürchterlichem Zorn und mit ihm zugleich die ganze Schöpfung. Da gibt es nirgends ein Entrinnen, nirgends einen Trost, weder innen noch außen, sondern alles klagt uns an. … Da bleibt nichts übrig als das nackte Verlangen nach Hilfe und ein schreckliches Seufzen, aber die Seele weiß nicht, wo Hilfe zu finden ist.“ Kein Wunder, dass Luther einen körperlich ausgemergelten Eindruck macht.
Wann Luther seine 95 Thesen über den Ablass verfasst hat, ist unklar, doch wohl bereits einige Tage vor dem 31. Oktober 1517, da auch die Drucklegung ihre Zeit braucht. Die Auflage ist niedrig, muss aber nicht nur die angeschlagenen, sondern auch die für den Versand vorgesehenen Exemplare berücksichtigen. Denn Luther treibt wie bei seiner im September 1517 diskutierten Thesenreihe „Gegen die scholastische Theologie“ das Anliegen um, die Debatte auch außerhalb Wittenbergs zu führen. So schickt er seine Ablassthesen am 31. Oktober 1517 nach Halle an Erzbischof Albrecht von Mainz, an den Verantwortlichen der Ablasskampagne, denn Johann Tetzel treibt den Petersablass im Namen und Auftrag Albrechts ein. Luther fordert den Erzbischof auf, die Kampagne zu beenden, da die aktuelle Ablasspraxis voller Missbräuche sei, und würzt seine Worte sogar mit einem drohenden Unterton, wenn er schreibt, dass eine öffentliche Diskussion und Widerlegung dem Erzbischof Schande einbringen würden. Luther argumentiert mit der Verantwortung Albrechts für das gläubige Volk, sodass daraus klar die Intention des Briefschreibers ersichtlich wird: Luther geht es nicht nur um eine wissenschaftliche Disputation, sondern maßgeblich um eine Frage von hoher seelsorgerlicher Relevanz.
Erstmals „Luther“
Der Brief vom 31. Oktober 1517 an Erzbischof Albrecht darf auch aus einem weiteren Grund besondere Aufmerksamkeit beanspruchen: Er trägt erstmals die Unterschrift „Luther“! Martin stammt aus einer in Mansfeld ansässigen Familie, die sich durchweg „Luder“ nennt, sodass auch der älteste Sohn Martin – sei es bei den Immatrikulationseinträgen oder den frühen Briefunterschriften – mit dem Familiennamen abzeichnet. Im Herbst 1517 greift Luther den humanistischen Brauch der Latinisierung beziehungsweise Gräzisierung des Namens auf und setzt seinen persönlichen Kernbegriff der Freiheit (eleutheros = frei) gleichsam als Identitätsmarker ein.
Mit dem 31. Oktober 1517 ist Luthers Phase der Selbstfindung und Selbstdefinition abgeschlossen, indem er in seinen deutschen Familiennamen „Luder“ das „th“ aus eleutheros integriert: Martin „Luther“, das ist der von der alten scholastischen Theologie Befreite und zugleich der für die wahre evangelische biblische Theologie Freie. So ist der 31. Oktober 1517 die Geburtsstunde des Reformators Martin Luther, gesiegelt von ihm selbst mit erstaunlichem Selbstbewusstsein. Sein Selbstverständnis, von den Fesseln der Scholastik befreit zu sein und die Sache Jesu Christi zu vertreten, spiegelt sich übrigens auch in seinem Vorspann zu den 95 Thesen wider, denn hier lädt er „im Namen unseres Herrn Jesu Christi“ ein, eine Einleitung, die Luther in keiner anderen seiner zahlreichen Disputationen verwendet. Dabei ist auch dieser Tag nicht von einem Wende- oder Brucherlebnis bestimmt, sondern er gehört in einen lange währenden Prozess der Entdeckung und Entfaltung des reformatorischen Denkens und Wollens bei Luther, dem dieses allmähliche Sich-Lösen und Voranschreiten selbst sehr wohl bewusst ist: „Ich habe meine Theologie nicht auf einmal gelernt, sondern habe immer tiefer und tiefer graben müssen; dahin haben mich meine Anfechtungen gebracht, weil man ohne Übung nichts lernt.“
„Großer Ablasskram“ und Thesenanschlag
Luther hat seine 95 Thesen am 31. Oktober 1517 verschickt, doch hat er sie auch an die Schlosskirchentür angeschlagen? Mögen seit den 1960er-Jahren gern und häufig Zweifel vorgebracht werden, so sprechen zeitgenössische Quellen sehr wohl für den Thesenanschlag: In den Wittenberger Universitätsstatuten von 1508 ist genau geregelt, dass Thesen als Grundlage einer Disputation öffentlich bekanntgegeben werden müssen, indem sie an die Türen der Wittenberger Kirchen (also nicht nur der Schlosskirche) angeschlagen werden. Genau dies teilt Georg Rörer, ein enger Mitarbeiter Luthers, noch zu Lebzeiten des Reformators mit, wenn er in dem Redaktionsexemplar der Wittenberger Bibelübersetzer, in einer 1540 in Wittenberg gedruckten deutschen Ausgabe des Neuen Testaments, eigenhändig notiert: „Am Vorabend des Allerheiligenfestes im Jahre des Herrn 1517 sind von Doktor Martin Luther Thesen über den Ablass an die Türen der Wittenberger Kirchen angeschlagen worden.“ Rörer steht in engem Kontakt mit Luther, ja fungiert als sein Sekretär, schreibt zum Beispiel viele Predigten und Vorlesungen mit und befördert die Drucklegung der Werke des Reformators. So darf er als sehr vertrauenswürdiger Gewährsmann gelten, auch wenn er 1517 noch nicht in Wittenberg ist.
Vor Ort ist 1517 Georg Major, damals fünfzehn Jahre alt und ganz nah am Geschehen, da er am Allerheiligenfest 1517 in der Messe der Schlosskirche als Chorknabe auftritt. Er erinnert sich als Augenzeuge und schreibt am 31. Oktober 1553 von ebendiesem Tag, „an welchem (…) vor 36 Jahren der Ehrwürdige und Hochgelehrte Herr Dr. Martinus Lutherus (…) erstlich an die Schlosskirche hier zu Wittenberg, da dann zu Allerheiligen der große Ablaßkram war, gegen solchen Ablaßkram Tetzels und anderer die Thesen angeschlagen hat, welche die erste Ursache zur Reinigung der christlichen Lehre gewesen sind.“ Damit stimmt Melanchthons Bericht überein, der kurz nach Luthers Tod im Vorwort zum zweiten Band der Wittenberger Edition von Luthers lateinischen Werken erscheint: „Es wurden in dieser Gegend vom Dominikaner Tetzel, einem unverschämten Gauner, käuflich erwerbbare Ablässe unter die Leute gebracht. Weil Luther über seine gottlosen und frevelhaften Predigten aufgebracht war, veröffentlichte er in seinem leidenschaftlichen Streben nach Frömmigkeit die Thesen über die Ablässe (…). Er schlug sie am Vortag von Allerheiligen 1517 öffentlich an der Kirche an, die an das Schloss von Wittenberg grenzt.“
Engel als Botenläufer
Die Thesen entwickeln ihre Sprengkraft rasch außerhalb der Mauern der Universität und der Stadt Wittenberg. Bereits 1517 werden sie mindestens dreimal gedruckt, in Leipzig, Nürnberg und Basel. Der Bericht des Gothaer Theologen Friedrich Myconius lässt erahnen, wie schnell die Thesen sich in Deutschland verbreiten: „Und (Luther) ließ dieselbigen (das heißt, die 95 Thesen) drucken und wollt nur mit den Gelehrten der hohen Schule Wittenberg davon disputieren, was doch Ablaß wäre, was er vermöcht, wo er herkäme und wie viel er gülte etc. Aber ehe 14 Tag vergingen, hatten diese propositiones das ganze Deutschland und in vier Wochen schier die ganze Christenheit durchlaufen, als wären die Engel selbst Botenläufer und trügen’s vor aller Menschen Augen.“
Zehn Jahre nach dem Thesenanschlag datiert Luther einen Brief mit dem Hinweis auf seine Anfänge: „Wittenberg am Allerheiligentag 1527, zehn Jahre nachdem die Ablässe vernichtet wurden; in der Erinnerung daran trinken wir beide getröstet in dieser Stunde“ – eine schöne Einladung, auch 500 Jahre später das Jubiläum eines Weltereignisses gemeinsam zu feiern.
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Stefan Rhein, geboren 1958 in Stuttgart, Vorstand und Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.