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Bei den wichtigsten Verfahren des Bundesverfassungsgerichts 2015 führt kein Weg an Europa vorbei

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Es passiert meist schleichend. Große Veränderungen kündigen sich durch Kleinigkeiten an. Und irgendwann ist es zu spät, bestimmte Entwicklungen aufzuhalten oder umzukehren. Von dieser Sorge ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur europäischen Einigung geprägt. Die Stärkung der Rechte des Bundestages und das Ringen um das letzte Wort mit dem Europäischen Gerichtshof sollen sicherstellen, dass wir nicht eines Tages in einem europäischen Bundesstaat aufwachen, ohne dass das Volk das so entschieden hat. Um diese Letztverantwortung dreht sich auch der Streit über das Verhalten der Europäischen Zentralbank (EZB) – erstmalig hat das Bundesverfassungsgericht einen Fall dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Und im Jahr 2015 werden sowohl die Luxemburger Richter als auch voraussichtlich ihre Karlsruher Kollegen Farbe bekennen müssen.

Wie umstritten diese Vorlage im Bundesverfassungsgericht war, zeigt das Sondervotum der mittlerweile aus dem Zweiten Senat ausgeschiedenen Gertrude Lübbe-Wolff: „In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten. Das ist meiner Meinung nach hier geschehen.“ Sie meint, es gebe vielfältige Möglichkeiten, gegen eine falsche, gar rechtswidrige Politik der EZB vorzugehen. Jedenfalls sei es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, auf eine Verfassungsbeschwerde von Bürgern hin (hier unter anderen des CSU-Politikers Peter Gauweiler) im Sinne einer Art präventiver Aufsicht über europäische Organe zu urteilen.

Das war eine Steilvorlage für all jene, nicht zuletzt in der Bundesregierung, denen es schon lange ein Dorn im Auge ist, dass das Bundesverfassungsgericht ein europapolitischer Spieler ist, dessen Einfluss weit über Deutschland hinausreicht. Andererseits erfreut es nicht wenige in Berlin, dass bei jeder heiklen Entscheidung alle nach Karlsruhe blicken. Das ist den Verfassungsrichtern durchaus nicht nur angenehm. Aber sie müssen sich äußern, wenn sie angerufen werden. Und tatsächlich kann jeder Bürger – das ist mittlerweile gefestigte Rechtsprechung – unter Berufung auf sein Wahlrecht in Karlsruhe überprüfen lassen, ob dieses Recht im Zuge der fortschreitenden europäischen Integration ausgehöhlt zu werden droht. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht die europäischen Leitentscheidungen stets mitgetragen, aber eben auch immer wieder deutlich hervorgehoben, dass der Bundestag das entscheidende Wort sprechen muss.

 

Karlsruhe macht Ernst

So auch im Fall der EZB: Verstieße der sogenannte Outright Monetary Transactions-Beschluss (OMT, EZB-Programm für Geschäfte am Sekundärmarkt über kurzfristige Anleihen von Staaten im Euro-Währungsgebiet) gegen das währungspolitische Mandat der Europäischen Zentralbank oder gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, so die Karlsruher Richter, dann läge darin ein „Ultra-vires-Akt“, also ein offensichtlich kompetenzwidriges Handeln der Unionsgewalt, das zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führte. Die EZB sei nach ihrem Mandat nicht zu einer eigenständigen Wirtschaftspolitik ermächtigt, sondern darauf beschränkt, die Wirtschaftspolitik in der Union zu unterstützen. Der Beschluss „dürfte nicht vom Mandat der Europäischen Zentralbank gedeckt sein“, meint das Verfassungsgericht. Denn die Währungspolitik sei nach Wortlaut, Systematik und Zielsetzung der Verträge insbesondere von der zuerst den Mitgliedstaaten zustehenden Wirtschaftspolitik abzugrenzen. Doch wäre der Beschluss aus Karlsruher Sicht möglicherweise dann nicht zu beanstanden, wenn er so ausgelegt würde, „dass er die Konditionalität der Hilfsprogramme von EFSF und ESM nicht unterläuft und tatsächlich einen die Wirtschaftspolitik in der Union nur unterstützenden Charakter behält“. Immerhin hat der Zweite Senat aus der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe den Schluss gezogen, dass eine europarechtskonforme Auslegung des OMT-Beschlusses möglich sei.

Karlsruhe hat also vorgelegt: Es macht Ernst mit dem selbst erklärten „Kooperationsverhältnis“, gibt dem Europäischen Gerichtshof, wie hinter vorgehaltener Hand bemerkt wird, Gelegenheit zur Profilierung. Zugleich aber verzichtet das Bundesverfassungsgericht in einem geschickten wie riskanten Schachzug nicht auf das letzte Wort. Nur unter bestimmten Bedingungen, so die Botschaft, ist der Ankauf von Staatsanleihen zulässig: Der Rettungsschirm ESM wird nicht unterlaufen, ein Schuldenschnitt wird ausgeschlossen, Staatsanleihen werden gerade nicht in unbegrenzter Höhe aufgekauft. Nur dann steht das Handeln der EZB aus Karlsruher Sicht im Einklang mit Europarecht und ist auch für Deutschland unbedenklich.

 

Feinsinnige Töne aus Luxemburg

Wie kommt das bei den selbstbewussten Luxemburger Richtern an, zu denen man durchaus gute Kontakte pflegt, die aber ihren Karlsruher Kollegen keinesfalls eine Sonderrolle zugestehen wollen? Aus dem Luxemburger Gericht hört man schon feinsinnig, das sei die beste Vorlage aller Zeiten. Aber für die Auslegung europäischen Rechts ist nun einmal der Europäische Gerichtshof zuständig. In der mündlichen Verhandlung in Luxemburg hat die EZB betont, sie habe in der Krise einschreiten müssen, um ein Auseinanderbrechen des Euro zu verhindern. „Die Feuerwehr löscht ein brennendes Haus und setzt nicht gleich das ganze Viertel unter Wasser.“

Auffällig ist die Unterstützung der EZB durch die europäischen Regierungen, auch durch die deutsche Bundesregierung. Sie sprach in Luxemburg von einem „weiten Ermessensspielraum“. Und: „Solange das OMT noch nicht umgesetzt ist, kann die EZB ihr Mandat nicht überschritten haben.“ Im Übrigen lautet die Ansicht: Der Zweck heiligt die Mittel. Das scheint generell die Haltung nicht nur der immer mächtiger werdenden EZB, die passenderweise gerade ihren neuen, hoch aufragenden Turm im Frankfurter Ostend bezieht. Das ist die Auffassung eines Europa, das eben nicht vom deutschen Kompetenzdenken geprägt ist.

Was für eine Entscheidung wird also im Jahr 2015 gefällt? Es wäre eine Überraschung, sollte der Gerichtshof das Verhalten der EZB für europarechtswidrig erklären. Bezweifeln darf man aber, dass sich die Luxemburger Richter die Karlsruher Maßstäbe voll und ganz zu eigen machen. Spannend wird es, falls sie dabei Karlsruher Mindeststandards unterschreiten sollten. Das Verfassungsgericht ist dann ohnehin wieder am Zug – und es wird sicherstellen, dass es das letzte Wort behält. Es hat sich freilich auch dabei stets kompromissbereit gezeigt. Denn weder Luxemburg noch Karlsruhe sind dazu da, die europäische Sinnkrise zu lösen. Gewiss geht es hier auch um die Rolle des Bundesverfassungsgerichts – die Karlsruher Richter kämpfen gegen einen drohenden Bedeutungsverlust an. Bemerkenswerterweise ist die EZB eine der Form nach ähnliche Institution wie ein Gericht: unabhängig, niemandem untergeordnet. Aber eben nicht unabhängig vom Recht. So steht 2015 eine bedeutende Entscheidung an: Es geht um den Euro und damit – der Bundeskanzlerin Angela Merkel folgend – auch um Europa. Die Selbstbehauptung Deutschlands steht auf dem Spiel – in einem Europa, in dem die anderen großen Staaten ebenfalls ihre Interessen definieren.

 

Erneutes Scheitern? Das NPD-Verbotsverfahren

Nicht ganz so existenziell wird eine andere Entscheidung des kommenden Jahres sein. Aber auch sie könnte den Zweiten Senat wie auch die Berliner Polit-Szene in eine Krise stürzen: Im zweiten NPD-Verbotsverfahren werden im kommenden Jahr zumindest die Weichen gestellt. Auch hier kann man sagen: Vieles passiert schleichend. Gemeint ist die Unterwanderung des freiheitlichen Rechtsstaats durch Verfassungsfeinde. Mit einem NPD-Verbot hat der Staat allerdings schon einmal Schiffbruch erlitten. Eine ganze Armada von Verfassungsorganen war nach Karlsruhe gezogen, um die NPD verbieten zu lassen. Doch Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat scheiterten im März 2003 – weil eine entscheidende Minderheit der Richter des Zweiten Senats fand, das Verfahren müsse eingestellt werden. Der Grund: Die Führungsgremien der NPD waren durchsetzt mit V-Leuten des Verfassungsschutzes. Deshalb galt die Partei, die verboten werden sollte, nicht mehr als „staatsfrei“. Die Richter, die das Verfahren nicht fortführen sollten, hielten die Beweislage für völlig verkorkst.

Dieses Mal hat nur der Bundesrat einen Verbotsantrag gestellt. Man bemühte sich, alle V-Leute abzuschalten, und ließ jüngere Staatsrechtslehrer einen stringenten Antrag ausarbeiten, der belegen soll, dass die NPD in aggressiv-kämpferischer Weise die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpft. Politische Bedingung dieses zweiten Anlaufs war: Das Desaster des ersten darf sich keinesfalls wiederholen. Doch das ist keineswegs ausgeschlossen. Sind womöglich immer noch Quellen, auf die sich der Antrag stützt, infiltriert? Der ursprüngliche Berichterstatter für das zweite NPD-Verbotsverfahren, Michael Gerhardt, ist auf eigenen Wunsch vorzeitig aus dem Gericht geschieden. Die Federführung hat nun der frühere saarländische Ministerpräsident Peter Müller. Der Senat hat sich schon einige Gedanken gemacht – freilich ist bereits ein Jahr seit Antragstellung vergangen. Da geht es um die alten Parteiverbote – natürlich vor allem um die Einstellung des letzten Verbotsverfahrens im Jahr 2003. Wie damals hat jetzt die NPD die Einstellung des Verfahrens beantragt. Allerdings hatte es zum damaligen Zeitpunkt noch keine NSA-Affäre gegeben! Die Begründung der Partei lautet sinngemäß: Wenn die NPD wirklich gefährlich ist, muss sie geheimdienstlich beobachtet werden. Wenn sie aber intensiv beobachtet wird, ist sie infiltriert, kann sich also nicht mehr richtig verteidigen. Der Senat nimmt das ernst. Hinzu kommt die Frage der Verhältnismäßigkeit eines Parteiverbots, wie sie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt.

Man sieht: Auch hier führt an Europa kaum ein Weg vorbei. Letztlich geht es aber nicht um Sieg oder Niederlage. Sondern in beiden bedeutenden Verfahren, die das Jahr 2015 prägen werden, um ein gedeihliches Miteinander.

 

Reinhard Müller, geboren 1968 in Walsrode, verantwortlicher Redakteur „Zeitgeschehen“ und „Staat und Recht“ der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

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