Vor Jahren erwähnte eine armenische Kollegin einmal, sie habe bei ihrer Arbeit stets den Berg Ararat vor ihrem inneren Auge gesehen. Dieser Tage hatte ich einen erfreulichen Anlass, Aufzeichnungen von Marica Bodrožić zu lesen: „Ich sah mir [als Kind] Stunde um Stunde die Veränderungen am Himmel an, beobachtete die Wolken, die sich um den Gipfel des Biokovo sammelten, eines mächtigen Abschnitts des Dinarischen Gebirges, welches zu meinen stärksten inneren Bildern zählt.“ Es gibt sie, Wahrnehmungsverwandtschaften, Stoffe, die bereits Literatur sind, bevor wir im eigentlichen Sinne mit dem Schreiben begonnen haben. Bodrožić spricht vom „Blick hinter dem Blick“, der allem Sehen zugrunde liege.
Wie jemanden vorstellen, dem man selbst persönlich noch nie begegnet ist, aber den man – was wichtiger sein kann – durch das, was er geschrieben hat, kennenzulernen glaubt? Entstehen aus den Sätzen, den bevorzugten Worten des Autors Vorstellungen über ihn, über sie, die dalmatische, in Berlin wohnhafte, bekennende Europäerin Marica Bodrožić? Oder wäre dies der Name einer Selbsterfindung? Oder lieferten ihre Bücher Zwischenergebnisse in der Selbstfindung dieser bedeutenden Autorin?
Wie stelle ich sie mir vor, diese Autorin, damit ich sie anderen vorstellen kann? Viertausend Zeichen mit Leerstellen stehen dafür hier zur Verfügung – und jedes vorsichtige Wort dieses Annäherungsversuches kostet wertvolle Zeichen, jeder Gedankenstrich will angesichts der Umfangsvorgabe sorgfältig erwogen sein. Auch die Leerstellen zählen dabei, fürwahr; denn im Leben haben diese ebenso ihr Gewicht wie die erfüllten Augenblicke, von denen die Texte Marica Bodrožićs selbst dann zeugen, wenn sie von Leid handeln – und seiner Verwandlung.
Was zu entstehen hat, entsteht …
Der unerbittliche, unbestechliche digitale Wortzähler behauptet, es sei bereits weit über ein Viertel der mir zugemessenen Zeichen aufgebraucht, und dabei habe ich über Marica Bodrožić noch nichts gesagt, nichts über ihr Geburtsdatum, ihre Herkunft, ihr Schaffen, das schon jetzt einen unvergänglichen Beitrag zur deutschsprachigen Literatur darstellt.
Das lässt sich nachholen, auch wenn mit solchen Angaben ein Leben nicht einzuholen ist: geboren wurde die Autorin im dörflichen Svib, im südlichen Kroatien; die Örtlichkeit mit weit unter tausend Seelen gehört zur Region Split-Dalmatien, einer kroatischen Verwaltungseinheit, die gemäß einem aus der mittelalterlichen Ständezeit stammendem Begriff eine Gespanschaft genannt wird. Der Name Bodrožić wird dort unter den fünf häufigsten aufgeführt. Nach eigener Auskunft – sie gab sie im Rahmen einer jüngst (2015) gehaltenen Poetik-Vorlesung in Wiesbaden – wuchs die Autorin „ohne Eltern und Geschwister auf, unser Haus lag weit vom Dorf entfernt, und es kam selten jemand zu Besuch“. Verhilft das zur Vorstellung, die wir uns von dieser Autorin zurechtlegen?
Wir lesen, dass sie 1983 als Zehnjährige in die Bundesrepublik Deutschland kam, wo sich dann über Jahre vieles in ihr bewegt haben muss, damit seit 2002 ihre Bücher, Zeugnisse hoher Sprachkunst, möglich wurden: Erzählungen, Romane, Gedichte, Essays. Die Zeitangabe „in rascher Folge“ hinzuzufügen, erscheint überflüssig. Denn was zu entstehen hat, entsteht; das Wie des Arbeitens, die inneren Umstände, das innerlich Drängende – so entscheidend für den Autor dies auch ist –, es zählt am Ende nicht, nur das, was entstanden ist. Dann erst stellt sich für Leser die Frage nach dem Wie der Form, nach dem Gelungenen in der Komposition.
Vielleicht aber wäre eine Arbeitsbedingung dieser Autorin doch bedeutsam zu erfahren, nein, nicht die Wirkung der zerklüfteten Küstenform der dalmatischen Küste, nicht einmal die des Balkan-Krieges, der die Mär vom friedlichen Europa nach 1945 zerrüttete, sondern die Frage, ob der Kirschholztisch, den Arjeta Filipo, Protagonistin in Bodrožićs Roman kirschholz und alte gefühle (2012) von ihrer Großmutter geschenkt bekam und den sie mit nach Berlin brachte, auch der Arbeitstisch der Marica Bodrožić geworden oder gewesen ist.
Tische sind Orte der Verwandlung
Bei Ilse Aichinger war es der Küchentisch der Großmutter, auf dem sie Die größere Hoffnung schrieb; und Inge Jens tat gut daran, die Geschichte des Schreibtisches der Schreibtische, desjenigen von Thomas Mann, zu verfassen. Tische symbolisieren in der Literatur Orte der Verwandlung. In Bodrožićs Schreiben, das immer ein Dichten ist, erinnern sich Steine, Tische und Libellen, sprich: Die Dinge werden beredt.
Längst sind meine Zeichen aufgebraucht, nicht aber der Wille zum weiteren Vorstellen, der sich bald andernorts neu manifestieren darf. Diese Zeichen, sie wollten gesetzt sein als Richtungsweiser auf das Werk der Marica Bodrožić, in dem sie Seite um Seite ihre Welt poetisiert, ein Werk, das uns das Staunen vor dem Wort neu lehrt.
Rüdiger Görner, geboren 1957 in Rottweil, Professor für Neuere deutsche Literatur am Queen Mary College, University of London, und dortiger Direktor des „Centre for Anglo-German Cultural Relations“.
Der Autor ist Laudator der Empfängerin des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung 2015 in Weimar.