Ludwig Erhard zählte nicht zu den Befürwortern der Regierungsverhandlungen, die in die Römischen Verträge vom 25. März 1957 münden sollten. Der Bundeswirtschaftsminister votierte gegen den „gefährlichen Hang zum Perfektionismus“ und den „kleinlichen Krämergeist“, den er in diesen Vereinbarungen zu erkennen glaubte. Die Möglichkeit des Vetos eines einzelnen Mitgliedsstaates hielt er für nicht zielführend.
An der mit den Römischen Verträgen gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kritisierte er, dass sie nur ein „Kleineuropa“ repräsentiere, vor allem weil Großbritannien weiter fernblieb. Außerdem war der Wirtschaftsprofessor nicht mit der ökonomischen Ausformung zufrieden. Zwar akzeptierte er schließlich die EWG, setzte sich aber gleichzeitig für die Gründung einer Freihandelszone für ganz Europa ein. Das hieß natürlich zu Zeiten des Eisernen Vorhangs faktisch Westeuropa.
Das Scheitern der Verhandlungen über eine gesamt-westeuropäische Freihandelszone und die Gründung der European Free Trade Association (EFTA) unter englischer Führung am 4. Januar 1960 enttäuschte Erhard. Doch er gab nicht auf. In großen deutschen Tageszeitungen warb er mit der Formel „6 EWG-Staaten + 7 EFTA-Staaten + 5 restliche westeuropäische Staaten = 1“ für sein Ziel eines geeinigten Gesamteuropas.
Eindeutige Worte zum Regierungsbeginn
In seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler am 18. Oktober 1963 führte Ludwig Erhard aus, er wolle „durch neue Aktivität in der politischen Formierung Europas Fortschritte … erreichen“ und das solle auch in einer „europäischen politischen Gestalt mit parlamentarisch-demokratischer Verantwortung eine Entsprechung“ finden. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister nahm damit eine weitere Stufe der europäischen Integration in den Blick: die politische Gemeinschaft.
Allerdings bedeutete für ihn die Intensivierung der EWG nicht die Vernachlässigung der Beziehungen zu den angelsächsischen Mächten, er forderte „nicht ein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch“. Darin enthalten war eine Relativierung der späten Politik seines Vorgängers Konrad Adenauer. Dieser hatte enge Beziehungen zu Frankreich geknüpft, symbolisiert im Élysée-Vertrag vom 22. Januar 1963. In den Jahren seiner Kanzlerschaft versuchte Erhard zwar immer, diesem Erbe gerecht zu werden. Wichtig war für ihn aber auch, die Beziehungen zu anderen Staaten nicht zu vernachlässigen.
Dazu gehörten in erster Linie Großbritannien und die USA. Doch mit beiden stand Frankreich unter dem Präsidenten Charles de Gaulle nicht im besten Einvernehmen. Zum einen lehnte sich Paris gegen die amerikanische außen- und sicherheitspolitische Vorherrschaft auf, zum anderen lehnte es die Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft um Großbritannien vehement ab. Aufgrund der britischen Beitrittsfrage, der Verhandlungen um den Gemeinsamen Agrarmarkt und die Weiterentwicklung der Gemeinschaft steckte die EWG Anfang/Mitte der 1960er-Jahre in einer Krise. Diese zu überwinden, sollte Erhard sich zur Aufgabe machen.
Erhards Europainitiative
In einer Regierungserklärung am 9. Januar 1964 im Deutschen Bundestag, nur drei Monate nach seiner Wahl zum Bundeskanzler, versuchte Ludwig Erhard, Europa wieder wachzurütteln: „Die Müdigkeit darf nicht länger auf Europa lasten. Es scheint mir dringend notwendig zu sein, daß wir einen neuen Anlauf nehmen.“ In dieser „Initiative“ betonte er, „daß wir Deutsche das jetzige Europa im Bereich der Sechs nicht als der Weisheit letzten Schluß ansehen“, und forderte, „Europa nicht allein zu einem technokratischen, sondern zu einem politischen Europa“ zusammenzufassen.
Dabei stand er der Abgabe weiterer Kompetenzen an die Kommission der EWG, die deren Präsident Walter Hallstein zu dieser Zeit forderte, kritisch gegenüber. Dafür plädierte Erhard im Hinblick auf das Europäische Parlament für die „Erweiterung seiner Kompetenzen“ inklusive „echter Haushaltsbefugnisse“. So steht es in der offiziellen Form der Europainitiative, die am 4. November 1964 den europäischen Partnern übermittelt wurde.
Einleitend heißt es in der Veröffentlichung: „Der … Einigungsprozeß hat wiederholt Rückschläge erfahren, aber die Kraft der europäischen Idee hat sich immer wieder als stark genug erwiesen, um die Mißerfolge zu überwinden und auf Fehlschläge Erfolge und weiteren Fortschritt folgen zu lassen.“ Doch trotz Erhards Bemühungen und seiner Reisen in die europäischen Hauptstädte verlief seine Initiative im Sande.
Seine Idee eines Europas der „Freien und Gleichen“ konnte sich – auch gegenüber den hegemonialen Vorstellungen von de Gaulles „Europe européenne“ – nicht durchsetzen. Trotz Annäherungen in der Frage der Getreidepreise und des Agrarmarkts eskalierte die Krise in der EWG im Sommer 1965, als Frankreich mit seiner „Politik des leeren Stuhls“ die Mitarbeit in den EWG-Gremien einstellte.
Doch Europa machte weiter, unbeirrt und getrieben von den verbleibenden Staaten und deren Regierungen – auch von Bundeskanzler Ludwig Erhard. Im Januar 1966 fand man sich mit dem sogenannten Luxemburger Kompromiss wieder zusammen. Dabei spielte sicherlich auch eine Rolle, dass Erhard bei der Bundestagswahl 1965 mit einer soliden Mehrheit von 47,6 Prozent für die CDU/CSU wiedergewählt wurde, während Charles de Gaulles Wahlsieg eher bescheiden ausgefallen war.
Trotz des ausgehandelten Kompromisses verharrte die EWG weiter in einer gewissen Stagnation, die erst Ende der 1960er/ Anfang der 1970er-Jahre überwunden werden konnte. Zu dieser Zeit war Ludwig Erhard bereits von der politischen Bühne abgetreten, im Dezember 1966 als Bundeskanzler, im Mai 1967 auch als Parteivorsitzender. In den gut drei Jahren als Regierungschef konnte er Europa nicht weiter voranbringen.
Einen „Scherbenhaufen“, wie mancher ihm nachsagte, hat er allerdings nicht hinterlassen, vielmehr hat er mit dazu beigetragen, die Gemeinschaft vor einem Bruch zu bewahren, und so den Grundstein für ihr weiteres Gedeihen gelegt. Ein Gedeihen übrigens, das die Ausdehnung der Gemeinschaft auf weite Teile Europas brachte, so wie Erhard das immer vertreten hatte – auch wenn die Freude, die er darüber empfände, heute sicherlich getrübt würde durch den beabsichtigten Austritt Großbritanniens (Brexit). Denn für den Beitritt des Königreiches hatte er sich immer starkgemacht.
Vater der europäischen Sozialen Marktwirtschaft?
Ludwig Erhard war vor allem eines: Ökonom. Als Professor der Wirtschaftswissenschaften, Staatsminister für Wirtschaft in Bayern, Organisator der Einführung der D-Mark 1948, Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets der amerikanischen und britischen Besatzungszonen und Bundeswirtschaftsminister. Seinen zusätzlichen Titel „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“ trägt er zudem unbestritten – wenn auch inzwischen vielleicht nicht mehr allein.
In den 1950er-Jahren, als Erhard die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzte und damit das „Wirtschaftswunder“ ermöglichte, wäre deren Übernahme in Europa unmöglich gewesen. Natürlich galt das für den östlichen Teil des Kontinents, der unter sowjetischer Unterdrückung und Planwirtschaft litt, aber auch für einige westeuropäische Staaten.
Deshalb war es für Erhard auf dem Weg zur Integration Europas immer wichtig, dass substanzielle Elemente der von ihm vertretenen Wirtschaftslehre auch in den entstehenden europäischen Institutionen Einzug finden würden. Einer dieser Grundsätze, oder vielleicht der Grundsatz, war die Forderung nach Freiheit. So forderte er schon während des ersten Stadiums der europäischen Integration, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), in einer Rede vor dem Schweizerischen Institut für Auslandsforschung in Zürich am 6. Februar 1952, „dass die europäische Lösung im Zeichen der Freiheit“ stehen müsse, um hinzuzufügen: „Freiheit meine ich hier zuerst im ökonomischen Sinne, aber wir wissen, dass auch politische Freiheit wirtschaftliche Freizügigkeit voraussetzt.“
Bei der Gründung der EGKS 1951 – zurückgehend auf die Erklärung von Robert Schuman vom 9. Mai 1950 – warnte er als Bundeswirtschaftsminister vor der dadurch möglicherweise erfolgenden Reglementierung der Montanindustrie. In seinem 1953 erstmals erschienenen Buch „Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt“ kritisierte er die „stark dirigistische Neigung in den neuen supranationalen Behörden“. Während der Verhandlungen, die in die Römischen Verträge münden sollten, forderte er in einem Programm vom Oktober 1956 eine „freizügigere Form der Europäischen Zusammenarbeit“.
Dabei hatte er schon Ende der 1950er-/ Anfang der 1960er-Jahre sehr klare und zu diesem Zeitpunkt sehr weitblickende Ideen für die europäische Integration. In seinem Buch Wohlstand für Alle forderte er: „Wir müssen zur Integration im Totalen hinfinden. … Diese liegen aber nach meiner Auffassung in erster Linie auf einem andern Sektor: in einer währungspolitischen Ordnung.“ Diese Ordnung der gemeinsamen Finanzen reichte ihm allerdings nicht aus. Er warnte die europäischen Staaten: „Alles Streben nach politischer und wirtschaftlicher Integration muß scheitern, wenn nicht endlich alle Beteiligten den Mut und die Kraft finden, sich zu einer ständig fortschreitenden Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, eines raschen Abbaues der Zölle sowie anderer protektionistischer Schranken und Manipulationen zu bekennen und danach zu handeln.“
Diese Freiheiten auf ökonomischem Gebiet verlangten nach Erhards Auffassung nach einem weiteren, noch wichtigeren Schritt: „Nach meinem Geschmack klingt es auch nicht gerade überzeugend, wenn man mit Pathos von einer europäischen Integration spricht, aber gleichzeitig neben einem freien Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht auch den Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich überall frei zu betätigen.“ Das waren in die Zukunft weisende, wichtige Bekenntnisse zu einem „Europa der Bürger“.
Soziale Marktwirtschaft in der Europäischen Union
Inzwischen, rund ein halbes Jahrhundert später, sind diese Forderungen Erhards Realität: die gemeinsame Währung, die Freizügigkeit nicht nur von Waren, Dienstleistungen und Kapital, sondern auch der Menschen in der Europäischen Union sind hergestellt.
Darüber hinaus hat der Vertrag von Lissabon 2007 direkt am Anfang unter den „Gemeinsamen Bestimmungen“ den Passus aufgenommen: „Die Union … wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.“ Damit ist die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards die Wirtschaftsordnung der Europäischen Union, wie ich anlässlich der Verleihung des Preises Soziale Marktwirtschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung 2011 in der Frankfurter Paulskirche festgestellt habe.
Als Präsident des Europäischen Parlaments betonte ich am 13. Dezember 2007 in Lissabon bei meiner Rede zur Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon darüber hinaus: „Heute aber, wie schon oft in den vergangenen Zyklen von Krisen und Selbstzweifeln, die unsere Union durchlaufen hat, tritt die Europäische Union gestärkt aus dieser Krise hervor.“ Ähnliche Worte wie die, die Erhards Europainitiative 1964 gewählt hatte, um die damalige schwierige Situation in den Integrationsbemühungen zu überwinden.
Der Vertrag von Lissabon mit der Anerkennung von Erhards Sozialer Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung der Europäischen Union hat 2007 genauso eine Krise überwunden wie die EWG gut fünfzig Jahre zuvor mit dem Luxemburger Kompromiss. An beiden Lösungen war Ludwig Erhard beteiligt: 1966 als Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland, 2007 als „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“, dessen Erbe bis heute fortwirkt.
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Hans-Gert Pöttering, geboren 1945 in Bersenbrück, Mitglied des Europäischen Parlaments (1979 bis 2014), Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion (1999 bis 2007), Präsident des Europäischen Parlaments (2007 bis 2009), Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.