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by Michael Braun

Literarische Annäherungen an Herrschaftswissen

Petra Morsbach: Der Elefant im Zimmer. Über Machtmissbrauch und Widerstand. Ein Essay, Penguin Random House Verlag, München 2020, 368 Seiten, 22,00 Euro. Martin Mosebach: Krass. Roman, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 528 Seiten, 25,00 Euro.

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Macht ist in der Literatur ein sehr spezielles Fach. Sie äußert sich in Herrscherfiguren, in Ansprüchen auf Deutungshoheit, exklusivem Stil und sakrosankten Spracheigentümlichkeiten. Wer von der Macht erzählt, kann das aus der Vogelperspektive, also aus der Sicht von oben, tun, etwa in Königsdramen, politischen Essays oder „Staatsromanen“, aber ebenso gut von unten, aus der Sicht der Unterprivilegierten und Ohnmächtigen. „Aber / die Herrschenden / saßen ohne mich sicherer, hoffte ich“, schrieb Bertolt Brecht im dänischen Exil. William Shakespeare brachte die moderne Macht in die Literatur. Viele seiner Dramen, die den Weg eines Mächtigen zur Macht und das Kalkül seiner Helfershelfer inszenieren, sind von erschreckender Aktualität: „eine Machtkunde für das 21. Jahrhundert“, so der Harvard-Forscher und Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt in seiner Studie Der Tyrann (2018). Denn wer dem Mächtigen leichtfertig glaubt, kann betrogen, wer an ihm zweifelt, eingeschüchtert, wer auf Checks and Balances vertraut, eines Schlechteren belehrt werden.

Sprechen und Schreiben über Macht ist seit Beginn der 2020er-Jahre mehr denn je in die Macht-Diskurse von Medien und Politik gebannt. In der „alten“ Bundesrepublik vermochten machtkritische Theaterstücke noch, Mächtige, sofern sie deren üble Vorgeschichten enthüllten, zu Fall zu bringen. Nationalautoren, die allzu selbstgerecht oder „gesinnungsästhetisch“ davon erzählten, wie ihre vermeintliche Macht eingeschränkt worden sei, wurden vom Sockel gestürzt. Öffentliche Reden von Schriftstellern gerieten, wenn sie Tabugrenzen überschritten, ins Mahlwerk von Feuilletondebatten. Heute ist Macht, von ihrem Gebrauch in der Sprache betrachtet, ein Phänomen der Cancel Culture. Es geht um Gesinnungskorridore und Empörungsregie in sozialen Medien, um Meinungsexklusion und Solidaritätsentzug. Was sind die psychosozialen und narrativen Muster der Erprobungen von Diskursmacht? Da ist es an der Zeit, neuere Stimmen aus der Literatur über Macht und Ohnmacht zu hören. Petra Morsbach, Literaturpreisträgerin der Konrad-Adenauer-Stiftung (2007), hat über Machtmissbrauch und Widerstand einen Essay verfasst (Der Elefant im Zimmer, 2020), Martin Mosebach, ebenfalls Preisträger (2013), einen eleganten Roman über Größe und Elend von Herrschaft (Krass, 2021).

„Der Elefant im Zimmer“ ist die deutsche Übersetzung der vor allem im englischen Sprachraum verbreiteten Metapher vom „elephant in the room“: Man pflegt über etwas hinwegzusehen, das doch unleugbar mächtig da ist. Wie eben die Macht. Petra Morsbach untersucht drei Fälle von Machtmissbrauch und die Möglichkeiten des Widerstands. Es geht um Sexualität und Kindesmissbrauch im Fall eines hohen österreichischen Klerikers und um Macht und Amtsmissbrauch im Fall einer bayerischen Staatsministerin. Diese Szenarien haben spektakuläre Schauplätze und öffentliches Interesse.

Anders der dritte Fall: Er spielt im geschlossenen Raum einer Institution des literarischen Lebens. Und Petra Morsbach hat ihn im Jahr 2010/11 selbst erlebt: Es begann, als ihr Vorschlag, Norbert Gstrein, Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung 2001, zu einer Lesung aus seinem, in der Verlagswelt spielenden Schlüsselroman Die ganze Wahrheit (2010) einzuladen, von der Leitung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste abgelehnt wurde. Begründung: eine protokollarisch festgehaltene Vorschrift des Präsidiums mit dem Wortlaut „Buchvorstellungen macht die Akademie nicht“. Petra Morsbach beanstandete an dieser „Regel“ Machtwillkür und Einschränkung der künstlerischen Freiheit. Sie problematisierte, was sie an der „Regel“ destruktiv und grundlos fand, bei dem damals amtierenden Präsidenten und dem Literaturdirektor, initiierte eine Umfrage unter den Schriftstellerkollegen, bei der sich zwölf von zwanzig der Antwortenden gegen die „Regel“ aussprachen. Es folgten ein Memorandum und eine Petition. Als Reaktion kamen Wutbriefe der Akademieleitung. Am Ende hat Morsbach den ihr vorgeschlagenen Ausweg einer Akademieveranstaltung mit Gstrein über die Problematik des Schlüsselromans angenommen, sich dann aber ans Publikum gewandt: Dies sei ihr „letzter Auftritt auf dieser Bühne, da neuerdings eine ‚Regel‘ gelte, die Buchvorstellungen in der Akademie verbiete“.

Petra Morsbachs Bericht aus einer Akademie ist kein Enthüllungsjournalismus und vordergründig auch keine machtkritische Reportage. Schlüssellochperspektive und Aufklärungshysterie sind ihre Sache nicht, Klarnamen lässt sie weitgehend aus. Es geht ihr um die Frage, wie man sich unter ethischem Stress verhält und was die Sprache der Macht über den Sprecher, der sie beansprucht, aussagt. Sie zeigt, mit welchen Sprachtricks man sich des Diskurses bemächtigt: mit schwammiger, generalisierender Terminologie, hoheitlichem Schweigen, würdevoller Pilatus-Attitüde, absichtlichem Missverstehen, ablenkenden Entlastungsklagen und Zerreden der Sache.

Auf diese Weise entsteht ein Lehrstück über freiwillige Selbstunterwerfung und Entmündigung von Kunstfreiheit. Nicht ohne Selbstkritik. Petra Morsbach kennt ihr Milieu und Metier gut genug, um einzuräumen, wie man aus den eigenen Fehlern lernen und Selbstidealisierungen von Künstlern, verleugnete Ängste und Einzelkämpferambitionen abstreifen kann. So treten subtile Einsichten über die Scheu, über Macht zu reden, zutage. Das ist hochaktuell in Zeiten von #MeToo-Debatten und einer Staatsautorität, die in Pandemiezeiten beständig den Begründungsdruck mit einem Handlungsdruck ausgleichen und zwischen virologischen Erkenntnissen und ökonomischen Interessen balancieren muss. An das Ende ihres Essays stellt Petra Morsbach einen Katalog mit Handlungsempfehlungen angesichts von Machtmissbrauch.

Der 1951 geborene Martin Mosebach hat Macht und Ohnmacht des modernen Bürgertums zurück in die Literatur gebracht, aus der dieser Bereich seit Thomas Mann verschwunden schien. Keiner seiner Romane kommt ohne manierliche Dialoge und erlesene Tafelrunden aus, ohne den Herrn mit Krawatte und Einstecktuch. Das Neuartige an Mosebachs Büchern aber ist ihre musikalisch komponierte Kunst, von der sogenannten guten Gesellschaft mit Ironie und Weltzweifel zu erzählen. Seine Figuren sind Mutbürger mit Unternehmungsgeist, naturtalentierte „Weltherrscher im Verborgenen“.

 

Hochvitaler Bürgerkönig

 

Solch ein Machtmensch ist „Krass“, der Titelheld mit dem sprechenden Namen in dem neuen Roman, den Martin Mosebach sich und seinen Lesern zum 70. Geburtstag geschenkt hat: Ralph Krass ist ein weit vernetzter Waffen- und Drogenhändler. Aber wichtiger ist das, was hinter seinen Geschäften steht. Er selbst hat es nicht nötig, Geld auszugeben und seine Tagesgeschäfte zu planen. Wir sehen einen hochvitalen Bürgerkönig, der herrscht, global reist, großzügig genießt, aber nicht regiert. Dafür hält er sich Angestellte.

Dr. Jüngel ist einer von ihnen: ein unterwürfiger Kunsthistoriker. Mit ihm betreten wir die Szene. Er hat sich beim Abendprogramm im Ort geirrt und führt Krass’ Entourage nicht in das geplante neapolitanische Volksstück, sondern in eine Veranstaltung mit einem Illusionisten. Dort muss er dem geizigen Zauberer dessen Assistentin, die Belgierin Lidewine Schoonemaker, für seinen Herrn ausspannen. Sie gehört zu den bei Mosebach häufig vorkommenden Frauen, die sich erobern lassen, sich aber nicht fest binden. Ein weiterer faustischer Pakt wird geschlossen: Mit Jüngel muss nun auch Lidewine die Machtwünsche von Krass in die Tagesdramaturgie übertragen, ökonomische Privilegien ein- und erotische Techtelmechtel ausgeschlossen. Das kann nicht gutgehen, und es geht auch nicht gut aus. Jüngel zeigt einen One-Night-Stand Lidewines mit einem Hotelkellner bei Krass an. Der entlässt beide. Im zweiten Kapitel, das etwas langsamer in Fahrt kommt als das fröhlich beginnende erste, finden wir Jüngel in der französischen Provinz wieder, geschieden, wohnungslos, verarmt, in der angenehm unbürgerlichen Gesellschaft eines stummen Kuhhirten, eines Klosterschusters und einer verblühten Frau, die zweifelhafte Experimente mit Wellensittichen anstellt. Im dritten sehen wir dann Krass in Kairo wieder, vereinsamt, gedankenklar, aber sterbenskrank. Es gehört zu Mosebachs „Schicksalsregie“ eines Pechvogellebens, dass Pech eben auch diejenigen schwarz macht, die einem Pechvogel helfen wollen. Wie nah die Macht am Wahn wohnt und das Pech am Privileg klebt, was die Mächtigen vermögen und was nicht, weshalb deren Helfer ihre Ohnmacht überwinden müssen und welche Tücken ein Lebenswerk durchkreuzen können: Davon erzählt Martin Mosebach, ganz ohne Revolutionsdrang und Bekehrungseifer. Behutsam kommt sein Roman dem Machtwahn auf die Schliche. Es gibt Kapitel mit erlesenen Dialogen, andere mit spannenden Szenen; einmal überschätzt sich Krass beim Hinausschwimmen aus einer Meeresbucht und erfährt eine elementare Machtlosigkeit. Eine Geschichte, elegant, geistreich und mit staunendem Realismus erzählt, ein intellektuelles Vergnügen, eine Einladung zum nachdenkenden Lesen.

 

Psychoregie der Macht

 

Petra Morsbachs Erkenntnisabenteuer beleuchtet die Strategien der Macht von unten. Mosebachs Roman betrachtet die Psychoregie der Macht von oben. Beide Bücher, so unterschiedlich sie in Gattung, Anlage und Stil auch sind, bezeugen die Selbstverpflichtung der Literatur auf Wahrheit und Schönheit. Wer erzählt, ist nur einer Macht verpflichtet: der des Erzählens.

Und das zeigte sich auf wunderbare Weise im Oktober 2013, ausgerechnet in der Münchner Residenz, am Sitz der Bayerischen Akademie der Schönen Künste: Dort laudierte Martin Mosebach die damalige Jean-Paul-Preisträgerin Petra Morsbach. Er rühmte ihr der Wahrheit verpflichtetes Erzählen und hob hervor, wie genau, an Émile Zola orientiert, die Preisträgerin ihr jeweiliges Milieu beobachte und studiere, bevor sie es dann im Roman beschreibe. Im Gegenzug schätzte Morsbach ihren Laudator als einen großen Sprachkünstler und versäumte es nicht, die manchmal selbstvergessene, aber höchst wortfindige Phantasie Jean Pauls zu rühmen, dem die deutsche Sprache unter anderem den „Weltschmerz“ und die „Gänsefüßchen“ verdankt.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

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