„Als ich die mediterrane Welt zum ersten Mal zu Gesicht bekam, wurde mir klar, dass ich nie zuvor gewusst hatte, was Licht ist.
Ich kam aus einer Welt der Dunkelheit. London war nicht so schlimm,
aber das Licht im Nordwesten ist sehr trüb. Das Licht des Mittelmeeres nahm meine Augen gefangen, also entschloss ich mich, eine Weile zu bleiben.“
Albert Hourani (1915–1993)
Hört man das Wort „mediterran“, dann sieht man vor seinem geistigen Auge Kreuzfahrten, goldene Strände, sattgrüne Hügel und wohlschmeckendes Essen. Fügt man dem Begriff „mediterran“ noch die Worte „Sonnenuntergang“ und „Villa“ hinzu, so entsteht ein geistiges Bild von einer Art Paradies auf Erden. Jedoch handelt es sich bei der „mediterranen Lebensart“ oft um eine explosive Mischung aus westlichen Konsumgewohnheiten, Urlaubsbroschüren und Gedanken über die Diaspora, vorzugsweise mit Bezug auf Griechenland, Italien und Spanien, wobei die anderen Länder am Mittelmeer gelegentlich als Hintergrundstaffage dienen. Die Lebensart wird gewohnheitsmäßig als gegeben betrachtet – Wirtschafts-, Gender- und Klassenprobleme werden außer Acht gelassen, und es wird angenommen, dass nur die Geografie allein zählt. Ich möchte mir diese Vorstellung von einer mediterranen Lebensart vornehmen, ihre Bedeutung ausweiten und beleuchten, wie sehr die neuzeitliche Entfremdung die Vorstellung von einer mediterranen Lebensart beeinträchtigt und wie wir sie über das olivenölgetränkte Wappen hinaus betrachten können.
In der Literatur und der populären Kultur steht der mediterrane Lebensstil hauptsächlich mit Essen in Verbindung, gefolgt von Lachen, Einfachheit, Leidenschaft, Freude, Genuss des Augenblicks und Besuchen bei der Familie und bei Freunden. Das soll nicht heißen, dass nichts von alledem wahr sein oder man auf keiner Ebene einen Bezug dazu haben kann, aber ein idealisierter mediterraner Lebensstil erhebt jedoch Anspruch auf eine gemeinsame Identität und einen gemeinsamen Lebensraum, der für viele nicht unbedingt existiert.
Die mediterrane Lebensart vermählt eine kollektive Vorstellung mit einer individuellen Identität. Daraus erwachsen Perspektiven, Haltungen, soziale Beziehungen und Besitztümer. Als eines der Hauptkennzeichen der Sozialgeografie ist das Meer ein integraler Bestandteil des Mosaiks einer persönlichen Identität. Menschen, die in Städten an Meeresufern leben, haben gewöhnlich eine Vorstellung von einer Lebensart, die ausschließlich mit dem Meer verbunden ist. Das zeichnet ihre Küstenmetropolen aufgrund der Nähe des Wassers als andersartig oder als „privilegiert“ aus, auch wenn sie den Ausdruck „mediterrane Lebensart“ nicht unbedingt verwenden. Ein Spanier in Barcelona und ein Palästinenser in Gaza, die an gegenüberliegenden Ufern des Mittelmeers beheimatet sind, haben unterschiedliche Vorstellungen von der See. Sie kann ebenso ein poetischer wie ein verstörender Raum sein, aber auch einer, der gemeinsame Möglichkeiten zu bieten hat.
Rückschau auf ein wunderbares Meer
Jedoch ist es eine Ironie der Geschichte, dass auch die schönste Landschaft zugleich die unwirtschaftlichste sein kann. Die Szenerie ist nur allzu vertraut: Der frischgebackene Universitätsabsolvent aus Alexandria, der zum letzten Mal mit seinen Freunden Fisch isst, bevor er zu dem Zug eilt, der ihn nach Kairo zu seinem neuen Job bringt; der junge Sizilianer, der in Palermo einen letzten Blick auf das Meer wirft, bevor er in den wohlhabenden Norden auswandert, um in Mailand nach Arbeit zu suchen; der unterbeschäftigte Grieche, der seine Heimat auf dem Weg in die kälteren, aber reicheren Länder der Europäischen Union verlässt; die junge Libanesin, die jahrelang in der Kulturszene von Beirut tätig war und jetzt nach Montreal geht, um Philosophie zu studieren, nicht nur der Bildung wegen, sondern um einen westlichen Pass zu erwerben, der Mobilität erlaubt und in einer ungleichen Welt die Gerechtigkeit wiederherstellt. Im Laufe der Jahre erhält man den Eindruck, dass niemand das Mittelmeer verlassen will, aber auch niemand eine andere Wahl hat. Ohne familiäre Verbindungen, ein ausreichendes Erbe oder Zugang zu einer lohnenden Beschäftigung, ohne eine Möglichkeit, zu sparen, zu heiraten und ein Heim zu erwerben, entscheidet sich eine wachsende Anzahl dafür, ein wunderbares Meer hinter sich zu lassen, das es nicht verdient, verlassen zu werden.
Historisch betrachtet, ist das Mittelmeer nicht frei von dunklen Flecken. Hier starben im Lauf der Jahrhunderte Millionen Menschen, hier wurden Ströme von Blut vergossen, um Weltreiche zu errichten, Kolonien zu erobern, Piraten abzuwehren oder zwei Weltkriege auszufechten, die den blauen Himmel immer wieder grau erscheinen ließen. Ganz zu schweigen von den Menschen, die vor politischer Verfolgung und wirtschaftlicher Not flüchten und fürchten, dass die See ihr Grab werden könnte.
Die Geschichte besteht jedoch nicht immer nur aus Kummer und Verzweiflung. Es gab eine Zeit, in der die mediterrane Lebensart als Teil des heiligen Weges verstanden wurde, auf dem etwa ein muslimischer Pilger aus Algier über verschiedene Städte am Mittelmeer nach Mekka strebte. Die Händler aus Venedig und Damaskus, die sich im Hafen von Alexandria trafen. Der Syrer, der sich nach seiner Heirat entschloss, Tunis nicht zu verlassen, sondern sich dort niederzulassen. Der aufstrebende Student, der von der libyschen Küste nach Andalusien reiste, um seine Studien voranzutreiben.
Verzerrung von Zeit und Raum
Ich möchte damit nicht eine Utopie der Vergangenheit aufleben lassen, sondern betonen, dass die damals in wesentlichen Bevölkerungsgruppen viel weiter verbreitete Mobilität eine ganzheitliche Herangehensweise an das Mittelmeer ermöglichte; ganz anders als die Jetztzeit, die immer stärker durch Formen der Entfremdung gekennzeichnet ist.
Will man heutzutage von einer dynamischen mediterranen Lebensart sprechen, muss man über die fehlenden zwischenmenschlichen Kontakte nachdenken und den mutierten kapitalistischen Diskurs hinter sich lassen, der Individuen als Objekte betrachtet, die in den Urlaubsresorts Instagram-Fotos schießen und zumeist aus dem Norden stammen.
Zumindest teilweise begann die Entfremdung vor langer Zeit, als die Hafenstädte aus der Mode kamen, weil sich Mitte des 20. Jahrhunderts der Reiseverkehr auf See dramatisch verringerte, während gleichzeitig die Bedeutung der kommerziellen Fluglinien anstieg. Mit ihnen konnte jemand von Athen nach Kairo reisen, ohne Alexandria zu berühren. Die einstmals kräftezehrende, aber rhythmische Abfolge von Ankunft und Abreise über See änderte sich radikal, wobei der Mensch die irdische Ordnung hinter sich ließ, sich über die See erhob und sich mit hoher Geschwindigkeit am Himmel bewegte. Dadurch wurden nicht nur Zeit und Raum verzerrt – die holistische Beziehung zwischen Mensch und Meer wurde gewissermaßen verfremdet und darauf beschränkt, in den Gewässern der eigenen Stadt zu schwimmen, anstatt sie zu durchqueren. Die einstmals vertrauten Szenen von Ankunft und Abschied in den Häfen wurden seltener. Der zivile Verkehr auf See beschränkte sich nunmehr auf Reisen von beschränkter Dauer und umweltschädliche Kreuzfahrten.
„Ich erkenne meine eigene Stadt nicht wieder“
In den 1990er-Jahren erholten sich die Hafenstädte wieder; auch Tanger und Alexandria, die durch Handel und Transnationalismus begünstigt wurden und – anders als die Hauptstädte, die in großem Umfang in die nationale Kultur investieren – kulturelle Experimente unterstützten, vorausgesetzt, sie ließen sich zu Geld machen. Diese neue mediterrane Welt fiel jedoch dem Washington-Konsens, den nordeuropäischen Banken, der Privatisierung, der Umweltzerstörung und den schädlichen Ausläufern der neoliberalen Moderne zum Opfer. Der Satz „Ich erkenne meine eigene Stadt nicht wieder“ wurde zum häufigen Mantra des neuen inneren Exils im Mittelmeerraum.
Die andere Art der Entfremdung ist auf Visavorschriften und die Tyrannei der Pässe zurückzuführen, ganz besonders an der südlichen und östlichen Küste. Wie ich bereits an anderer Stelle erklärt habe, „kann kein transnationales Mittelmeer-Projekt Wirklichkeit werden, wenn man sich unüberwindlichen Ungleichheiten im Hinblick auf Partnerschaften, die Sicherheit, die Bewegungsfreiheit und die Verpflichtungen gegenübersieht“.1
Ursprünglich habe ich mich hier zwar auf die Idee eines Gesellschaftsvertrags und Projekte im Mittelmeerraum bezogen – der Mangel an fairen Pass- und Visaregelungen führt jedoch nach wie vor zu Schieflagen in den Ländern der Südhalbkugel, deren Bevölkerung sinnvolle Reisen und Kontakte in der Nachbarschaft sowie Wachstum vorenthalten werden. Dies ist nicht nur von Süd nach Nord offensichtlich; ein gebürtiger Italiener kann praktisch ohne großen Aufwand alle Länder Nordafrikas und der Levante bereisen, weil er kein Visum benötigt oder es bei seiner Ankunft leicht erwerben kann. Ein gebürtiger Ägypter kennt diese Welt nicht; Reisen sind zwar möglich, die Chancen einer Ablehnung durch das Konsulat sind jedoch hoch. Das postkoloniale Szenario ist auch mit Bezug auf Bruderländer im Süden der Welt unsicher. Im Endergebnis ist der Italiener in der Lage, sich mit der Region vertraut zu machen und sein Verständnis mediterraner Lebensart zu erweitern, während der Ägypter in der Provinzialität seiner Vorstellung von dieser Lebensart gefangen bleibt. Die mediterrane Lebensart ist nicht nur eine soziale oder wirtschaftliche Frage, sondern sie ist letztendlich auch politischer Natur.
Vielleicht benötigt die mediterrane Lebensart einen begleitenden Diskurs über die Entwicklung einer mediterranen Anschauung, die mit stärker werdenden politischen Gedanken und Aktivitäten in einem gemeinsamen Raum jenseits der Märkte verbunden ist. Aktivisten und Organisationen sind sich der Ungleichmäßigkeiten nur allzu bewusst und versuchen, eine Philosophie oder einen Gesellschaftsvertrag, der auf Menschenrechten gründet, oder Klimaschutzinitiativen, die sich auf das pandemiebedingte Meiden von Langstreckenflügen zugunsten von Kurzreisen stützen, wieder zu beleben. Und dennoch: Als ein Mensch, der in zahllosen Sitzungen auf institutioneller Ebene Themen diskutiert hat, die sich auf das Mittelmeer beziehen, frage ich mich gelegentlich, wohin uns das alles führen soll. Der Schriftsteller und Aktivist Gianluca Solera, der sich für eine „Renaissance“ des Mittelmeers eingesetzt hat, weist darauf hin, alle Institutionen mit einem mediterranen Mandat litten unter „schädlichen Entwicklungsvorstellungen, denselben alten inhaltsleeren Beschlussfassungsmechanismen, demselben diskriminierenden Verständnis der Staatsbürgerschaft und derselben laxen Haltung gegenüber ihren Gründungswerten mitten in einer Krise, die zunächst politischer und kultureller Natur ist und dann erst wirtschaftlich“.2
Mythos einer „Rückkehr zum Ursprung“
Ermutigend ist das steigende Interesse am Mittelmeer, das von Organisationen, Kulturströmungen, Universitäten und internationalen Körperschaften genauso angetrieben wird wie von der Tatsache, dass das Mittelmeer sich selbst verkauft: Es ist eine metaphysische Blaupause und ein soziogeografischer Kreuzweg, der Jahrhunderte an Zivilisationen, Wissen, Handel, Religionen, Philosophien und Eheschließungen hervorgebracht hat. Gewissermaßen handelt es sich um den Mythos einer „Rückkehr zum Ursprung“, der auch die kälteste all jener kalten internationalen Bürokratien verzaubert, die sich mit dem Thema Mittelmeer beschäftigen.
Es bleibt dennoch die Frage, wie der oft trügerische Blick auf dieses Meer neu ausgerichtet werden sollte. Verschärft wird das Ganze durch die übermäßige Konzentration auf die Themen Sicherheit und Flüchtlingskrise, die wenig zur Lösung der Entfremdungsfrage beiträgt. Es bedarf eines demokratischen Bottom-up-Ansatzes, um die Tausende zeitgleicher Initiativen zu lenken, die Geschichten, die man sich erzählt, die Nächte, die man durchdiskutiert, die Workshops und Lehrgänge und die stützenden Basisnetzwerke im ganzen Mittelmeerraum, also das, was nach Solera eine mediterrane „Schattenregierung“ darstellt. 2019 nahm ich an einem Gipfeltreffen der Friends of Europe in Brüssel teil, bei dem von einem „Talentpass“ die Rede war, der nach wie vor als problematisch empfunden wurde; jedoch wurde zumindest die Frage der globalen Mobilität im Süden erkannt und von Aktivisten und Kulturschaffenden vorangetrieben.
Eine entpolitisierte mediterrane Lebensart verdient Respekt, aber wir sollten ihrem politischen Pendant auch gestatten, einen weiteren Weg aus dem Entfremdungsabgrund aufzuzeigen. In ihrer jetzigen Form handelt es sich bei der mediterranen Lebensart um ein unbestimmtes, fließendes, elastisches Konzept, das jedem etwas anderes bedeutet, jedoch auch durch die natürlichen Grenzen eines uralten Meeres bestimmt wird, wo Geschichte, Handel, Tourismus, kulturelle Bindungen und soziale Gerechtigkeit innerhalb größerer Narrative ineinanderfließen. Trotz des kulturellen Reichtums ist das innere Exil ein Phänomen unserer Zeit. Entfremdung inmitten wenig genutzter kultureller Bindungen ist kennzeichnend für den modernen mediterranen Lebensstil.
Als ich einmal an Wellenbrechern an Alexandrias Ufern vorbeikam, traf ich auf einen armen Jungen, der sehnsuchtsvoll auf das Meer blickte. Ich fragte ihn nach seinem Namen; er antwortete „Shaaban“. Ich fragte ihn auch danach, wovon er träume, wenn er älter geworden sei: „Pilot sein.“ Mir war klar, dass sich die Welt gegen ihn verschworen hatte, aber ich sagte ihm dennoch: „Ich hoffe, dass du Pilot wirst, Inshallah.“ Seine Antwort war ein breites Lächeln. Diese kleinen Augenblicke sind immer noch wichtig in unserer mediterranen Welt.
Amro Ali, geboren in Alexandria (Ägypten), Dozent für Soziologie, American University in Kairo, Research Fellow am Forschungsprogramm Forum Transregionale Studien / Middle East in Europe (EUME), Berlin, Mitglied der „Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities“, Doktorand an der University of Sydney, Absolvent der Australian National University („Master of Arts in Middle Eastern and Central Asian Studies“ und „Master of Diplomacy“).
Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim
1 Ali Amro: „Re-envisioning civil society and social movements in the Mediterranean in an era of techno-fundamentalism“, European Institute of the Mediterranean, 25. Papier, Barcelona 2020, www.iemed.org/publicacions-en/historic-de-publicacions/papersiemed/25.-re-envisioning-civilsociety-and-social-movements-in-the-mediterranean-in-an-era-of-techno-fundamental [letzter Zugriff: 25.05.2021].
2 Gianluca Solera: Citizen Activism and Mediterranean Identity. Beyond Eurocentrism, Palgrave Macmillan, London 2017.