Die Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge läuft auf Hochtouren. Die akute Not der Menschen zu lindern, ist sehr wichtig, reicht aber nicht aus. Was es bedeutet, Heimat und Angehörige zurückzulassen und in einem fremden Land neu anzufangen, kann man nur erahnen. Die Betroffenen sind angewiesen auf Solidarität und Mitmenschlichkeit, aber auch auf zielgerichtete Begleitung und zeitnahe, realistische Perspektiven. Hierbei stoßen derzeit bestehende Strukturen und veraltete Verfahren an ihre Grenzen. Kommunalpolitische Verantwortungsträger sind besonders gefordert, denn vielseitige Wechselwirkungen, zum Beispiel mit der Bevölkerung und örtlichen Infrastruktureinrichtungen, werden fatalerweise häufig aus geblendet.
„Wir ducken uns nicht weg“, lautet der Tenor im Landratsamt des Zollernalbkreises. Hier sind inzwischen knapp 4.000 Flüchtlinge in diversen Einrichtungen untergebracht: Im Herbst 2014 wurde eine Landeserstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (LEA) eingerichtet, die aktuell um eine Notunterkunft erweitert wurde. Parallel leben Asylsuchende in Gemeinschaftsunterkünften des Landkreises, bevor sie auf die Städte und Gemein den zur Anschlussunterbringung verteilt werden.
Unkonventionelle Kooperation
In unkonventioneller, behördenübergreifender Kooperation ist es 2014 innerhalb von nur sechs Wochen gelungen, auf einem ehemaligen Kasernengelände eine Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge einzurichten. Das Landratsamt – originär nur im Bereich des Gesundheitsamtes verantwortlich – hat tatkräftig dazu beigetragen. Neben der Behördenleitung haben Mitarbeiter des Sozialdezernates, von Straßenbauamt, Bauamt, Forst, Landwirtschaft oder Wirtschaftsförderung ihr Fachwissen eingebracht und tat kräftig geholfen. Das Verwaltungsreformgesetz war dabei sehr von Nutzen. Die große Toleranz, Hilfsbereitschaft und Solidarität der Menschen der Umgebung hat ein bundesweites Zeichen gesetzt. Stadt und Landkreisverwaltung war es von Anfang an wichtig, dass Entscheidungen und Entwicklungen von lokalem Sachverstand begleitet und transparent gehandhabt werden. Dafür sind Bürgerinformationsveranstaltungen, wöchentliche Information in lokalen Medien, Besichtigungstermine für die Öffentlichkeit und ein kontinuierlicher Dialog wichtig.
Das Land hatte eine zeitliche Befristung der LEA bis 2016 angekündigt und die Aufnahmekapazität auf regulär 500, maximal jedoch 1.000 Personen begrenzt. Aktuell aber sind dort über 3.000 Asylsuchende untergebracht. Diese Überfrachtung ist schlichtweg unverantwortlich. Sie hat dramatische Auswirkungen auf die Qualität der Unterbringung, birgt erhebliches Konfliktpotenzial unter den Flüchtlingen und führt zu Personalengpässen im Betrieb und in der Betreuung.
Die Situation in der Kernstadt Meßstetten (rund 5.400 Einwohner) ist angespannt. Die Kommunen müssen sicherstellen, dass die Bevölkerung mit Sorgen, Ängsten und Unmut nicht alleingelassen wird. Wachsame, wirkungsvolle und kreative Begleitung der Menschen inner und außerhalb der Flüchtlingsunterkunft ist geboten. Dazu gehören eine soziale Betreuung und der Einsatz von Streetworkern ebenso wie öffentliche Toilettenanlagen dort, wo sich Flüchtlinge in der Stadt aufhalten. Das Landratsamt hat in Kooperation mit dem Deutschen Roten Kreuz und Ehrenamtlichen ein Begegnungszentrum in unmittelbarer Nähe der LEA eingerichtet. Mit viel Herzblut werden ein Begegnungs-Café mit Kegelbahn und ein Internet-Café betrieben. Helfer organisieren Sprachunterricht und Freizeitangebote und nehmen Kleider und Sachspenden entgegen. Dieses eindrucksvolle Beispiel bürgerschaftlichen Engagements wird jedoch von der drastisch steigenden Personenzahl förmlich überrollt. Die gelebte Mitmenschlichkeit kommt an ihre Grenzen und droht zu verschleißen.
Zur kurzfristigen Entlastung für die LEA hat die Kreisverwaltung dem Land einen Flügel des ehemaligen Krankenhauses im dreißig Kilometer entfernten Hechingen als befristete Notunterkunft für 125 Personen bereit gestellt. Gemeinsam mit der Stadt wurde eine Bürgerinformationsveranstaltung durchgeführt und die Sozialbetreuung durch Ehrenamtliche, allen voran durch den örtlichen Arbeitskreis Asyl, angestoßen.
Besonders schutzbedürftig
Erstaufnahme von Flüchtlingen ist eine Aufgabe des Landes. Kommen je doch Minderjährige ohne sorgeberechtigte Erwachsene an, haben sie nach internationalen Konventionen und nationalem Recht Anspruch auf besonderen Schutz. Sie werden vom Jugendamt in Obhut genommen. Gegebenenfalls bestellt das Familiengericht einen Vormund. Zuständig sind bisher die Jugendämter am Ankunftsort, also in grenznahen Kreisen oder in Kreisen mit einer LEA. Die Einhaltung der geforderten Standards in der Kinder und Jugendhilfe bedeutet angesichts der explodierenden Fallzahlen eine enorme Herausforderung. Das Jugendamt im Zollernalbkreis hat allein in der ersten Hälfte dieses Jahres über 100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut. Hierfür wurden zwei zusätzliche Personalstellen notwendig. Die ungleiche Lastenverteilung unter den Stadt und Landkreisen ist inakzeptabel.
Um dem abzuhelfen, hat das Bundeskabinett im Juli das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ verabschiedet. Dieses soll eine bundesweite Umverteilung der Jugendlichen nach Quote regeln. Jedoch kann es das Dilemma der Kommunen nur bedingt lösen und eine Einhaltung der Kinderrechte nicht garantieren. Für die zum Teil traumatisierten Jugendlichen werden im Zollernalbkreis Möglichkeiten zur dezentralen Unterbringung in Gastfamilien oder kleineren Einheiten gesucht. Ältere Jugendliche werden zum Teil in der LEA betreut, insbesondere wenn Angehörige (entfernte Verwandte oder Bekannte) sich dort aufhalten. Die dezentrale Unterbringung bietet bessere Möglichkeiten zur frühzeitigen Integration, zum Spracherwerb und zur Vermittlung gesellschaftlicher Normen. Eine umgehende Einbindung ist entscheidend, da unbegleitete minderjährige Flüchtlinge faktisch ein Bleiberecht in Deutschland haben.
Dezentral untergebracht
Bei der vorläufigen Unterbringung von Asylsuchenden ist im Zollernalbkreis „Dezentralität“ ebenfalls Grundsatz. Durch mehrere kleinere Gemeinschaftsunterkünfte und bedarfsorientierte Lösungen wurden Alternativen zur großen Sammelunterkunft geschaffen. Dies bietet insbesondere Kindern, Jugendlichen und Familien bessere Wohnbedingungen, ein friedvolleres Miteinander und mehr Möglichkeiten der Teilhabe an einer örtlichen Gemeinschaft. Wie Integration gelebt werden kann, belegen Projekte und Erfahrungen in zahlreichen Kreisgemeinden. Dorthin kommen Asylbewerber zur sogenannten Anschlussunterbringung nach Beendigung des Asylverfahrens, Erteilung eines Aufenthaltstitels oder nach spätestens zwei Jahren. Viele Gemeinden haben Unterbringung und Betreuung von Asylsuchenden zur Chefsache erklärt und so auf örtlicher Ebene Vorbildliches ermöglicht.
Durch Sprache und Bildung eingebunden
Bildung und Sprache sind der Schlüssel für erfolgreiche Integration. Häufig sind Flüchtlinge jedoch zum Nichtstun verdammt, weil Ressourcen, rechtliche Voraussetzungen oder treibende Kräfte fehlen. Ein regelmäßiger verpflichtender Sprachunterricht für Erwachsene muss dringend ausgebaut werden. Neben Spracherwerb ist ein Austausch der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Wertvorstellungen unerlässlich. Dazu gehören auch grundsätzliche Verhaltensregeln in Sachen Hygiene, Abfallentsorgung, Pünktlichkeit oder Verlässlichkeit. Bildung und Spracherwerb müssen so früh wie möglich gefördert werden. Vorbereitungsklassen an Grund und weiterführenden Schulen unterstützen dabei, schnell Deutsch zu lernen, und ermöglichen die Integration in eine reguläre Klasse. An den beruflichen Schulen des Landkreises wird ein Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen angeboten. Die regionale Wirtschaft ist durch Praktikumsangebote zum wertvollen Partner geworden.
Erfolgreiche Begleitung von Flüchtlingen gelingt nur durch Einbindung der Bevölkerung, denn Integration findet vor allem vor Ort statt: Bildungseinrichtungen, Arbeitgeber, kirchliche und soziale Organisationen, Vereine und Ehrenamtliche übernehmen Funktionen, die von einer Kommunalverwaltung nicht zu leisten sind. Beispiele sind das Begegnungszentrum LEA, die örtlichen Arbeitsgruppen Asyl oder private Initiativen. Wichtig ist dabei für Kommunen, die Helfenden von Anfang an einzubinden, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen und sie dabei gleichzeitig nicht zu überfordern. Zur Koordination dieser Arbeit wurde im Landratsamt Zollernalbkreis eine ressortübergreifende Stabsstelle Integration geschaffen.
Den enormen Herausforderungen der Flüchtlingsströme kann nur gemein sam von Bund, Land und Kommunen, Kirchen und Verbänden sowie vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern begegnet werden. Auf nationaler Ebene ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Erhöhung der Geldleistungen für Flüchtlinge zumindest in Erstaufnahmeeinrichtungen zu hinterfragen. Im Zollernalbkreis wurden jahrelang gute Erfahrungen mit Sachleistungen (Shops in Einrichtungen) gemacht. Eine Beschleunigung der Asylverfahren durch personelle Aufstockung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und gleichzeitige Verfahrensvereinfachungen sollte machbar sein, die Gesundheitschecks in der LEA etwa könnten auch an Wochenenden durchgeführt werden. Auf Landesebene muss eine weitere Bündelung von Kräften, Bürokratieabbau und Vereinfachung von Kommunikationswegen erfolgen. So können finanzielle, personelle und vor allem zeitliche Synergien genutzt und Effizienz erhöht werden.
Die Bewältigung der Flüchtlingssituation ist eine humanitäre – und nicht zuletzt eine christliche – Pflicht. Darüber hinaus bedeutet Zuwanderung auch eine Chance, nicht nur angesichts der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels. Integration bleibt ein dynamischer Prozess, den wir nicht fürchten, sondern offenherzig gestalten müssen!
Günther Martin Pauli, geboren 1965 in Saulgau, seit 2001 Mitglied der CDU-Fraktion im Landtag Baden-Württemberg, seit 2007 Landrat des Zollernalbkreises.