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Syrische Flüchtlinge im Stimmungsbild der türkischen Bevölkerung

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Der syrische Bürgerkrieg begann im März 2011. Seitdem haben mehr als 250.000 Menschen – die meisten davon Zivilisten – ihr Leben verloren. Millionen von Menschen waren gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Vier bis fünf Millionen flüchteten aus ihrem Heimatland.

Laut den Vereinten Nationen erleben wir aufgrund des syrischen Bürgerkrieges eine der größten humanitären Katastrophen, die die Welt je erlebt hat. Die Chancen, dass diese Grauen – trotz des Waffenstillstandes – bald ein Ende haben könnte, stehen nicht gut. Schließlich geht es um viel mehr als um einen Machtkampf zwischen dem Assad-Regime und den Oppositionskräften. Längst hat der Krieg internationale Dimensionen, neue Akteure wie ISIS und andere radikale Gruppierungen tragen zur Verschärfung des Konflikts bei.

Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) leben heute mehr als 5,6 Millionen Syrerinnen und Syrer außerhalb ihres Landes.1 84 Prozent sind in die „Nachbarländer“ Türkei, Libanon, Jordanien, Irak und Ägypten geflohen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die realen Zahlen höher liegen, weil UNHCR nur die registrierten syrischen Flüchtlinge erfasst. Etwa eine Million Syrer hat sich auf den Weg in entwickelte Länder – vornehmlich nach Europa – gemacht. Das entspricht einem Anteil von 15,7 Prozent aller Syrien-Flüchtlinge.

Nach UNHCR-Angaben leben mit 2.715.789 Menschen die meisten der geflüchteten Syrer in der Türkei – das entspricht 47,7 Prozent. An zweiter Stelle steht der Libanon mit 1,06 Millionen (18,6 Prozent). In Jordanien leben 639.000 (11,2 Prozent), im Irak 245.000 (4,3 Prozent) und in Ägypten 118.000 (zwei Prozent). In europäischen Ländern befinden sich etwa 900.000 Flüchtlinge (15,7 Prozent) aus Syrien.

Die Türkei hat im April 2014 erstmals ihre Grenze für eine Gruppe von 250 Syrern geöffnet und erklärt, dass sie im Rahmen ihrer „Politik der offenen Tür“ allen Flüchtlingen vorübergehenden Schutz gewähren und keinen Flüchtling in sein Land zurückschicken würde, solange der Frieden nicht wiederhergestellt sei. Diese Politik wurde bis heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, beibehalten. Da die Türkei die Genfer Konvention von 1951 nach wie vor auf jene Nationen bezieht, die diese auch unterzeichnet haben – Syrien gehört nicht dazu –, wurden die Syrer nicht als „Flüchtlinge“, sondern als vorübergehend Zuflucht suchende Personen oder als Flüchtlinge mit Vorbehalt aufgenommen.

Von den über 2,7 Millionen Syrern in der Türkei leben neun Prozent, also 272.000 Menschen, in 25 Lagern, die innerhalb der Grenzregionen in zehn Provinzen speziell für sie errichtet wurden. Die weit überwiegende Mehrzahl von 90 bis 91 Prozent lebt außerhalb der Lager überall in der Türkei verteilt. Mehr als 75 Prozent der syrischen Flüchtlinge sind Frauen und Kinder, einen Anteil von 53 Prozent machen allein Kinder und Jugendliche unter achtzehn Jahren aus. Laut Schätzungen wurden innerhalb der letzten fünf Jahre über 200.000 syrisch-stämmige Kinder in der Türkei geboren.

Während dieses Zeitraums hat die Türkei finanzielle Hilfen in Höhe von zehn Milliarden Dollar für die syrischen Flüchtlinge erbracht.2 Die Hilfen, welche sie aus dem Ausland erhalten hat, belaufen sich bislang auf 417 Millionen Dollar, betragen also unter fünf Prozent der aufgewendeten Mittel.

In der Erwartung, dass der „Arabische Frühling“ auch in Syrien zu einem schnellen Regimewechsel führen würde, glaubte die türkische Regierung an eine baldige Rückkehr der geflohenen Syrer in ihr Land. Daher konzentrierte man sich zunächst auf Dienstleistungen und Hilfen zur Bewältigung des Alltags; erst 2013 begann eine genaue Registrierung; von einem „dauerhafter Status“ wurde erstmals im August 2014 öffentlich gesprochen. Inzwischen sind 2,7 Millionen Syrer erfasst, und der Registrierungsvorgang dauert an; immer noch versucht jedoch ein Teil der Flüchtlinge, die Registrierung zu vermeiden. Hinzu kommt, dass an den ungeschützten Abschnitten der 911 Kilometer langen Grenze einzelne Personen oder kleine Gruppen unkontrolliert in die Türkei kommen.

 

Gewandelte Einstellung zur Flüchtlingspolitik

Die allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber den syrischen Flüchtlingen ist in der Türkei außerordentlich hoch, selbst wenn es in den letzten Jahren vereinzelt Anti-Flüchtlings-Aktionen, fremdenfeindliche Proteste oder gar Übergriffe gegeben hat. Eine Garantie dafür, dass die Akzeptanz künftig so hoch bleibt, gibt es freilich nicht. Der heutige Status („under temporary protection“) kann nicht von übermäßig langer Dauer sein, und die Grenzen der Belastbarkeit scheinen erreicht. Noch trägt die Türkei die finanzielle und menschliche Last in Bezug auf die im Land befindlichen Syrer hauptsächlich allein. Niemanden wird es überraschen, dass die Situation zu einem wichtigen sozialen und hochbrisanten innenpolitischen Thema des Landes geworden ist.3

Ein sehr großer Teil der syrischen Flüchtlinge sind sunnitische Araber. Durch den Vormarsch von ISIS in Syrien setzte 2014 ein demografischer und ethnisch-religiöser Wandel in der Zusammensetzung der Fluchtbewegung ein, sodass Menschen verschiedener Religion, Konfession und ethnischer Herkunft in die Türkei kamen – darunter vor allem auch Kurden. Die türkischen Kurden sahen in der Fluchtbewegung anfangs ein bewusst gesteuertes Projekt zur sunnitischen Arabisierung der Region seitens der türkischen Regierung und nahmen eine eher ablehnende Haltung gegenüber den hinzukommenden Syrern ein. Einhergehend mit den Entwicklungen im syrischen Grenzort Kobane wandelte sich diese Ablehnung in eine Unterstützung der Zuflucht suchenden Menschen.

Während die Türkei 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge innerhalb ihrer Grenzen aufgenommen hat, haben es die reichen, entwickelten westlichen Länder mit weit weniger Flüchtlingen zu tun. Ihre unausgesprochene Forderung an die Türkei lautet: Haltet aus humanitären Gründen eure Ostgrenze zu Syrien offen, aber verschließt eure Westgrenze, damit sie nicht in die EU gelangen! Hinzu kommt, dass UNHCR in den Nachbarländern Syriens selbst die Grundbedürfnisse von Essen und Unterkunft nur zu fünfzig Prozent erbringen kann. Rigorose Grenzschließungen mit den entsprechenden unmenschlichen Folgen sind daher künftig nicht auszuschließen.

 

Längere Bleibeperspektive

Diejenigen Syrer, die es schaffen, sich im Exilland Türkei eine Existenz aufzubauen, ziehen es inzwischen häufig vor, dort zu bleiben. Gleichwohl wollen sie unter Friedensbedingungen wieder in ihr Heimatland zurückkehren, wissen aber, dass die Erfüllung dieses Wunsches noch in weiter Ferne liegt. Damit geht einher, dass die Syrer von den Einheimischen immer weniger als „Gäste“ erlebt werden. Somit kann die auf einen begrenzten Zeitraum ausgerichtete Flüchtlingspolitik der Türkei nicht so mehr weitergeführt werden wie bisher, sondern muss in eine aktive Integrationspolitik überführt werden. Die Zahl der zu integrierenden Menschen wird durch zu erwartende Familienzusammenführungen noch steigen. Der erste Schritt muss sein, den außerordentlich niedrigen Einschulungsanteil von fünfzehn Prozent der syrischen Kinder und Jugendlichen unter achtzehn Jahren zu erhöhen.

Dabei muss darauf geachtet werden, dass die einheimische Bevölkerung keine Einbußen erleidet und etwa bei der Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen Engpässe entstehen. Trotz einer Arbeitslosenquote von zehn Prozent hat die türkische Regierung am 11. Januar 2016 die Entscheidung getroffen, die Arbeitsaufnahme syrischer Flüchtlinge in der Türkei zu ermöglichen. Beim Arbeitsrecht gilt erst recht, dass der Integrationsprozess die einheimische Bevölkerung nicht benachteiligen darf.

 

Studien über Integration in der Türkei

Das Forschungszentrum für Migration und Politik der Hacettepe-Universität (HUGO) hat eine umfassende Studie über die gesellschaftliche Akzeptanz und Integration von Syrern erstellt, die aufgrund der Konflikte und des darauffolgenden syrischen Bürgerkriegs in die Türkei geflohen sind.4 Dabei sind auch die aktuelle Situation der Syrer in der Türkei sowie Themen wie Qualifikationen, Zufriedenheit, Probleme und Dauer des Aufenthalts in der Türkei betrachtet worden.5

64,6 Prozent der Befragten sehen in den syrischen Flüchtlingen Verfolgte, die vor Unterdrückung und Tod Schutz suchen. Sie unterstützen die Aussage: „Es ist unsere menschliche Pflicht, die Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, ohne nach Religion, Sprache und ethnischen Wurzeln zu unterscheiden.“ Gefragt, ob sie der provokativen Aussage „Die Flüchtlinge sollten in ihre Heimat zurückgeschickt werden, auch wenn der Krieg andauert“ zustimmen, bejahen das 30,6 Prozent der türkischen Bevölkerung. Der weitaus größere Anteil von 57,8 Prozent lehnt diese Aussage ab. Dieses Ergebnis zeigt eine mehrheitliche Sensibilität in Bezug auf die grundlegenden Menschenrechte.

In der türkischen Bevölkerung gibt es durchaus auch die Meinung, dass die syrischen Flüchtlinge dem Wohle der Türkei nicht unbedingt zuträglich sind. Umso bemerkenswerter ist, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung der Flüchtlingsfrage unter humanitären, nicht profitorientierten Aspekten nähert. Dabei ist das Arbeitsrecht für Syrer das Thema, über das am intensivsten diskutiert wird. Die Syrer haben lange von Hilfsleistungen und ihren Ersparnissen gelebt. Als sich ihr Aufenthalt verlängerte, haben sie betont, dass sie an der Arbeitswelt teilnehmen und ihr Leben selbst finanzieren möchten. Das hat viele Menschen verunsichert – insbesondere in den Grenzregionen. So sind 56,1 Prozent der türkischen Bevölkerung und 68,9 Prozent der Menschen in den Grenzregionen der Meinung, „die Syrerinnen und Syrer nehmen uns die Arbeit weg“. 30,5 Prozent stimmen dieser Meinung nicht zu.

Mit Sicht auf eine langfristige Perspektive ist die türkische Bevölkerung der Meinung, dass „der dauerhafte Aufenthalt der Syrerinnen und Syrer in der Türkei große Probleme verursachen wird“. Der Anteil der Befragten, die dieser Aussage „zustimmen“ und „absolut zustimmen“, ist mit 76 Prozent sehr hoch. In den besonders betroffenen Regionen sind die Befürchtungen noch deutlich höher (81,7 Prozent). Dabei spielt auch eine Rolle, dass die kulturellen Gemeinsamkeiten nicht als überaus hoch eingeschätzt werden. Die türkische Bevölkerung stimmt der Aussage „Die Syrerinnen und Syrer haben die gleiche Kultur wie wir“ nur in einem geringfügigem Umfang zu. Lediglich 17,2 Prozent teilen diese Meinung. Dagegen sind 70,8 Prozent der Ansicht, dass es kulturelle Verschiedenheiten gibt.

Momentan glauben die Türken nicht, dass die Syrer für immer im Land bleiben werden. Ausgehend von den Erfahrungen der im Ausland lebenden türkischstämmigen Menschen muss die Türkei aber unverzüglich eine Bildungs- und Integrationspolitik für das „Miteinanderleben“ entwickeln – nicht zuletzt, weil sich die Perspektive einer Rückkehr hinzieht. Obwohl die bis heute vorherrschende sehr hohe gesellschaftliche Akzeptanz ein wesentlicher Vorteil ist, sollte man sich nicht nur darauf verlassen. Die nächsten Schritte sollten mindestens genauso gut wie die vorherigen geplant werden. Die westlichen Länder sollten sich mehr engagieren – zumindest, was die finanzielle Last betrifft. Sonst wäre es durchaus möglich, dass die Nachbarländer Syriens ihre Grenzen in naher Zukunft schließen, was zu einer weiteren Verschärfung der humanitären Katastrophe führen würde. Der Libanon hat die Einreise bereits im Januar 2015 deutlich erschwert.6

M. Murat Erdoğan, geboren 1964 in Erciş (Provinz Van, Türkei), Direktor des Forschungszentrums für Migration und Politik der Hacettepe-Universität (HUGO), Ankara (Türkei).


1 Http://data.unhcr.org/syrianrefugees/regional.php (04.03.2016).
2 Erdoğan, M. Murat/ Ünver, Can: Perspectives, Expectations and Suggestions of the Turkish Business Sector on Syrians in Turkey, TISK, Ankara 2015.
3 Erdoğan, M. Murat: Syrians in Turkey: Social Acceptance and Integration, HUGO, Ankara 2014.
4 Die Forschung wurde mit der Unterstützung des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Türkei und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) Türkei von Januar bis Oktober 2014 durchgeführt.
5 Die Untersuchung wurde in sechs Provinzen der Türkei, das heißt in den Grenzgebieten Gaziantep, Kilis und Hatay, sowie außerhalb der Grenzgebiete in Istanbul, Izmir und Mersin durchgeführt. Dafür wurden zwischen Februar und März 2014 insgesamt 144 Personen, davon 72 Syrer und 72 Einheimische, ausführlich befragt. Darüber hinaus wurden im Rahmen einer Meinungsumfrage mit dem Titel „Wahrnehmung der Syrerinnen und Syrer in der Türkei“ zwischen September und Oktober 2014 in zwanzig Provinzen 1.501 Personen befragt. Zusätzlich zu diesen Untersuchungen wurden Nachrichten, Kommentare und Beurteilungen analysiert, die 21 nationale und 56 lokale Medienorganisationen im Internet veröffentlicht haben. Des Weiteren wurden Gespräche mit 38 nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen geführt, die sich mit diesem Thema beschäftigten, und die Arbeiten dieser Institutionen ausgewertet. Diese Meinungsumfrage wurde vom Umfrageinstitut OPTIMAR mit Sitz in Ankara durchgeführt. Sie besteht aus insgesamt 31 Fragen, die hauptsächlich mit fünf Antwortalternativen („ich stimme absolut zu“, „ich stimme zu“, „weder-noch“, „ich stimme nicht zu“, „ich stimme absolut nicht zu“) beantwortet werden konnten. Die Umfrage wurde mit einer Fehlerquote von ± 2,5 innerhalb einer Zuverlässigkeitsgrenze von 0,95 abgeschlossen. Einige Ergebnisse der Meinungsumfrage, die HUGO türkeiweit durchgeführt hat, geben wichtige Hinweise auf die Stimmung in der türkischen Bevölkerung.
6 Http://www.nzz.ch/libanon-schliesst-grenze-fuer-fluechtlinge-1.18454633.

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