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Sicherheitspolitische Perspektiven für Deutschland, Frankreich und die Europäische Union

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Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat schwerwiegende Konsequenzen für die europäische Sicherheitsarchitektur. Sowohl die Europäische Union (EU) als auch die NATO stellen infolgedessen die Weichen für die Zukunft neu und reagieren mit Strategiepapieren – die Europäische Union mit dem „Strategischen Kompass“. Der russische Angriffskrieg hat an vielen, scheinbar in Stein gemeißelten Standpunkten der europäischen Sicherheitspolitik gerüttelt und die Grenzen des politisch Möglichen geweitet. Während die deutsche Sicherheitspolitik vor dem 24. Februar 2022 maßgeblich vom Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr von 2016 geprägt war, forderte der Ukraine-Krieg nun eine tiefgreifende Neuausrichtung.

Frankreich ist seit Kriegsbeginn von der Linie abgerückt, dass die NATO „hirntot“ sei und die Europäische Union eine eigene Armee benötige. Die von Emmanuel Macron bereits 2017 geforderte Stärkung der europäischen Verteidigung in Komplementarität zur NATO hat hingegen neuen Aufwind erfahren. Zuletzt wiederholte Frankreich diese Zielsetzung in seinem Programm für die europäische Ratspräsidentschaft.

Ähnliche Entwicklungen sind festzustellen, wenn man die Versionen des „Strategischen Kompasses“ auf EU-Ebene vergleicht: Während Russland in den Entwürfen vor Kriegsbeginn kaum eine Rolle spielte oder sogar als potenzieller Wirtschaftspartner Erwähnung fand, wurden die von Russland ausgehenden Gefahren in der finalen Version nach Kriegsbeginn zum zentralen Thema gemacht und das Land als Gegner der westlichen Wertestruktur definiert.

Die Ampelkoalition hatte in ihrem Koalitionsvertrag vor Kriegsbeginn angekündigt, eine neue und umfassende Nationale Sicherheitsstrategie vorzulegen. Während diese Ankündigung mit Leben gefüllt werden muss, steht außer Zweifel, dass sich die inhaltlichen Vorhaben seit Kriegsbeginn massiv verschoben haben. Die Verteidigung der eigenen Grenzen wird künftig einen zentralen Stellenwert haben, auch wenn Auslandsmissionen zur Bekämpfung des globalen Terrorismus nicht ausgesetzt werden. Angekündigt ist außerdem, dass die bundesdeutsche Außenpolitik fortan den Begriff „Sicherheit“ anders definieren wird und darunter nicht mehr „nur“ den Schutz vor Krieg und Gewalt versteht, sondern auch den Schutz von Demokratie, Leben und Freiheit – inklusive Klimaschutz.

 

„Soft Power“ plus „Hard Power“

 

Fraglich bleibt allerdings, ob alle Beteiligten der Ampelkoalition verstanden haben, dass die Ausrichtung auf Soft Power nicht länger das Mittel der Wahl sein kann. Erstmals muss der deutsche Ansatz der Diplomatie-basierten Außenpolitik, den die Bundesrepublik auch für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union präferiert hat, hinterfragt und durch einen Hard Power-Ansatz ergänzt werden. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik muss in Zukunft auch wieder militärisch gedacht werden. Damit würde Deutschland zugleich einer französischen Forderung entsprechen, die dort seit fünf Jahren formuliert wird: Die Europäische Union müsse sicherheits- und verteidigungspolitisch eigenständiger werden. Die Parteien der Ampelkoalition scheinen sich diesem Ansatz zwar nicht vollends verschlossen zu haben, zögern aber, wenn es um die konkrete Umsetzung geht. Die verzögerten Waffenlieferungen an die Ukraine sind ein mahnendes Beispiel der deutschen Zaghaftigkeit.

Dabei sollte es gerade jetzt ein strategisches Anliegen Berlins sein, die Situation für eigene Interessen zu „nutzen“ und zum Beispiel Deutschlands Rolle in der NATO zu stärken, jetzt, wo die Nordatlantische Allianz so relevant ist wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr, und zu einem Zeitpunkt, an dem sich Frankreich ebenfalls zu ihr bekennt und ihre grundlegende Bedeutung anerkennt. Es wäre eine gute Gelegenheit, um den EU-Stuhl am NATO-Tisch, also die Beteiligung der Europäischen Union (als Nicht-Mitglied) an NATO-Maßnahmen, zu vergrößern und Abhängigkeiten von den USA zu verringern. Stattdessen verspielt Deutschland durch Zögern und Abwarten viel.

Der Krieg in der Ukraine erinnert daran, dass das Friedensideal, das durch die europäische Integration erreicht wurde, ein zerbrechliches und gefährdetes Gut ist. In diesem Zusammenhang wurde die Realität einer europäischen Verteidigung ins Spiel gebracht; zumindest die Notwendigkeit, die Streitkräfte der EU-Mitgliedstaaten zu harmonisieren. So plädieren einige Mitgliedstaaten dafür, in Brüssel einen Dialog über die Schaffung eines europäischen militärischen Ankers in der NATO zu eröffnen, die den amerikanischen Verbündeten entlasten und die europäische Autonomie erhöhen soll.

 

Nicht Konkurrenz, sondern Ergänzung zur NATO

 

Die Frage, die sich nun stellt, betrifft die potenzielle Koexistenz einer europäischen Verteidigung und der NATO. Obwohl die „Berlin-plus“-Vereinbarungen von 2003 die Grundlagen für eine EU-NATO-Zusammenarbeit markieren, gelingt es ihnen nicht, die Gräben zu überwinden und den Bedürfnissen der Partnerstaaten gerecht zu werden. Die Realität ist, dass die Verbündeten in dieser Frage viel zu gespalten sind, um mehr als bloße Grundsatzerklärungen hervorzubringen.

Präsident Macron forderte in seiner Rede 2017 eine „ständige strukturierte Zusammenarbeit, die es uns ermöglicht, größere Verpflichtungen einzugehen, gemeinsam voranzukommen und uns besser zu koordinieren“. Obwohl sich einige Regierungen der Europäischen Union querlegten, beispielsweise Berlin, nutzte Macron die sechsmonatige EU-Ratspräsidentschaft Frankreichs, um die europäische Verteidigungspolitik zu beschleunigen. Durch das Erbe Charles de Gaulles hatten die Franzosen lange ein gespaltenes Verhältnis zur NATO und der mit der Bündnismitgliedschaft einhergehenden Abhängigkeit von den USA, die Frankreich durch eine europäische Verteidigung reduzieren will. Jedoch erachtet die heutige französische Regierung eine kollektive europäische Verteidigung nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zur NATO.

Laut Alain Lamassoure, Europa-Minister unter François Mitterrand und Jacques Chirac, müsse über eine gemeinsame Außenpolitik gesprochen werden, bevor man eine gemeinsame europäische Verteidigung erörtert. Lamassoure zufolge wäre es ein riesiger Schritt in Richtung einer gemeinsamen Außenpolitik, wenn Frankreich, das als einziges Mitglied der Europäischen Union einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen innehat, diesen Platz an die Europäische Union beziehungsweise an den Europäischen Rat abtreten würde.

Das Projekt einer europäischen Verteidigung hat dann Chancen, umgesetzt zu werden, wenn dies in Komplementarität zur NATO geschieht. Auch wenn die USA andere militärische und geopolitische Interessen hegen, bleibt das Nordatlantische Bündnis ein Pfeiler für die transatlantischen Beziehungen, die seit 1945 den Frieden gesichert haben.

 

Europäische Differenzen

 

Die Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich werden unter den aktuellen, veränderten Voraussetzungen zunehmend sichtbar. Während Deutschland auf EU-Ebene lange als Zugpferd auftrat und dabei nicht selten schwierige Kompromisse unter den EU27 aushandelte, fällt es nun öfter als bremsendes Element in der politischen Willensbildung zum Beispiel im Europäischen Rat auf. Die Europäische Union hat in ihrem Strategischen Kompass klar definiert, dass sie in Komplementarität zu Partnerorganisationen und dabei insbesondere zur NATO handeln und ihre strategische Autonomie und Rolle in der Welt stärken wolle. Deutschland und Frankreich haben diese Position mitgetragen, wenngleich dieses Bestreben eher der Position der französischen Ratspräsidentschaft zuzuordnen sein dürfte.

Auch das Strategische Konzept der NATO, das die Allianz mit konkreten Etappen und Zielen an die neuen Gegebenheiten anpassen soll, wurde von den beiden europäischen Schwergewichten unterstützt. Die Bundesregierung will das Zwei-Prozent-Ziel der NATO unter anderem mit dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro erreichen. Frankreich hingegen erreicht dieses Ziel bereits seit einigen Jahren. Wenn es jedoch um die effektive Umsetzung dieser Vorhaben geht, sollte ein generelles Umdenken stattfinden, denn insgesamt haben weder Frankreich noch die Bundesrepublik oder die übrigen EU-Staaten wirklich viel dafür getan, dass sich die Europäische Union bislang in der Außenpolitik aus ihrer oftmals zu beobachtenden Manövrierunfähigkeit befreien könnte. Besonders bei der Verabschiedung des letzten EU-Sanktionspakets, das erstmals auch den russischen Energiesektor betreffen sollte, wurde deutlich, wie simpel es derzeit ist, eine Entscheidungsfindung im Europäischen Rat zu blockieren oder aufzuweichen, um eigene politische Interessen durchzusetzen.

Hinzu kommt, dass Deutschland seinem großen Nachbarn zwar quantitativ überlegen ist, wenn es um die Lieferung von Waffen geht, und auch finanziell einen größeren Beitrag zu den EU-Hilfeleistungen für die Ukraine geleistet hat, Frankreich jedoch zwischenzeitlich schwere und moderne Waffen lieferte, während in Deutschland über Waffenart und Lieferzeitpunkt noch weiter gestritten wurde. Teilweise liegt das an fehlenden Kapazitäten der Bundeswehr, die wiederum darauf zurückzuführen sind, dass die Europäische Union vermutlich über die größte Ausprägung an grundverschiedenen Waffensystemen in der westlichen Hemisphäre verfügt und ihrer Rolle als „norm setter“ in diesem Bereich bisher nicht gerecht wurde. Wenn sie allerdings verteidigungspolitisch an Boden sowie an strategischer Autonomie gegenüber den USA gewinnen möchte, ist es höchste Zeit, dass die Rüstungsindustrien in Deutschland, Frankreich und in der Europäischen Union insgesamt an gemeinsamen Systemen und Standards arbeiten. So könnten Lieferketten harmonisiert, Anforderungen an Zulieferer vereinfacht und Kosten reduziert werden.

Über die regelmäßigen außenpolitischen Blockaden im Europäischen Rat hinaus wäre eine wesentlich gesteigerte Kooperation in der Rüstungsindustrie einer der Kernpunkte, in denen sich die Europäische Union besser und effizienter aufstellen müsste. Der Anfang einer verbesserten internen und externen Abstimmung war festzustellen, als die EU-Staaten in ungewohnter Einigkeit die Europäische Friedensfazilität, ein seit 2021 bestehendes globales Instrument zur Finanzierung außenpolitischer Maßnahmen mit militärischen Bezügen, nutzten, um die Ukraine mit Verteidigungsmitteln auszustatten. Hierbei fand laut Experten vermutlich ebenfalls zum ersten Mal eine enge und effiziente Abstimmung mit der NATO statt. Dieses Vorgehen sollte in Zukunft Grundlage für jedes sicherheits- und verteidigungspolitische Vorhaben auf EU-Ebene sein. Nur so könnte es der Europäischen Union auch gelingen, ihren Einfluss innerhalb der NATO langfristig und effektiv zu steigern und dafür zu sorgen, dass europäische Interessen jenseits des großen Teichs größere Beachtung finden.

 

Neupositionierung des deutsch-französischen Motors

 

Die Bundesrepublik und Frankreich müssen in absehbarer Zeit wieder ihrer Rolle als Zugpferde der Europäischen Union gerecht werden, damit sie insgesamt ihre Ziele hinsichtlich der strategischen Autonomie erreichen kann. Eine gesteigerte Kooperation in Rüstungsangelegenheiten, die Aufwertung und Deblockierung der EU-Außenpolitik sowie eine Neupositionierung des deutsch-französischen Motors als Antrieb der Europäischen Gemeinschaft werden unerlässlich sein, wenn die Europäische Union ihre neugesteckten sicherheitspolitischen Ziele erreichen und langfristig bestehen will.

Der Europäischen Union den französischen Platz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu übertragen, ist ein gut gemeinter Ansatz, wobei erst die außenpolitische Lähmung im Europäischen Rat beseitigt werden müsste, damit diese Idee Früchte tragen kann. Jedenfalls würde der Europäischen Union dadurch unweigerlich eine größere Rolle in der Weltpolitik zuteil, die ihr bei der Umsetzung ihrer Ziele zugutekommen könnte, sofern sie sich selbst befähigt, diese Rolle auch angemessen und effizient auszufüllen. Sollte dies der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten hingegen nicht gelingen, könnte die russische Invasion in der Ukraine nur der Anfang einer sicherheitspolitisch heiklen Zeit auf dem europäischen Kontinent sein.

 

Hardy Ostry, geboren 1970 in Ziegenhain, Leiter des Europabüros Brüssel der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Lukas Wick, geboren 1997 in Zams (Österreich), Referent im Europabüro Brüssel der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Adrien Ayrinhac, geboren 1998 in Ostfildern, Referent im Europabüro Brüssel der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Literatur

Auswärtiges Amt: „Auf dem Weg zur Nationalen Sicherheitsstrategie – Der Dialogprozess“, Berlin, 26.07.2022, www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/Nationale_Sicherheitsstrategie/nationale-sicherheitsstrategie/2532862#:~:text=Auf%20dem%20Weg%20zur%20Nationalen%20 Sicherheitsstrategie%20%2D%20Der%20Dialogprozess,-Nationale%20Sicherheitsstrategie%2C% 20%C2%A9&text=Deutschland%20gibt%20sich%20erstmals%20eine,%C3%96ffentlichkeit%20 sowie%20Expertinnen%20und%20Experten [letzter Zugriff: 22.08.2022].

Bundesministerium der Verteidigung: Sicherheitspolitik. Ukraine-Krieg: Wie reagiert die NATO?, Berlin, 09.03.2022, www.bmvg.de/de/themen/sicherheitspolitik#:~:text=Sicherheitspolitik%20ist%20Friedenspolitik.,auch%20von%20der%20Bundeswehr%20unterst%C3%BCtzt [letzter Zugriff: 22.08.2022].

Europäischer Rat: Ein Strategischer Kompass für mehr Sicherheit und Verteidigung der EU im nächsten Jahrzehnt, Brüssel, 21.03.2022, www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/ 2022/03/21/a-strategic-compass-for-a-stronger-eu-security-and-defence-in-the-next-decade/ [letzter Zugriff: 22.08.2022].

Lamassoure, Alain: „Tout ce que vous avez toujours voulu savoir sur l’Union européenne sans oser le demander à vos professeurs“, Konferenz im Europarecht, 5. April 2022, Université de Tours.

NATO: NATO 2022 Strategic Concept, NATO-Gipfel Madrid, 29.06.2022, www.nato.int/strategicconcept/ [letzter Zugriff: 22.08.2022].

Schmid, Martin / Varwick, Johannes: „Perspektiven für die deutsche NATO-Politik“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, APuZ 10/2012, Bundeszentrale für politische Bildung, S. 23–26, www.johannesvarwick.de/rauf/beitrag-nato-apuz-10-2012.pdf [letzter Zugriff: 22.08.2022].