Können Frankreich und Deutschland überhaupt noch etwas gemeinsam bewegen? Oder ist Europa handlungsunfähig geworden? Frankreich und Deutschland müssen Europa zusammen bewegen, und sie können es auch. Auch wenn der viel gerühmte „Motor“ ruckelt und stottert, so läuft er doch. In den letzten Jahren haben zahlreiche Krisen die deutsch-französischen Beziehungen auf harte Proben gestellt. Die Finanz- und Schuldenkrise hat grundlegend unterschiedliche Sichtweisen auf die europäische Wirtschaftspolitik offenbart. Während die Deutschen für eine strenge Sparpolitik plädieren, setzen die Franzosen auf weniger strikte Regelungen – um zum Beispiel das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Auch bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise kam es zu einer deutsch-französischen Asymmetrie mit unterschiedlichen Ansatzpunkten. Erst im Laufe vieler bilateraler Gespräche und EU-Gipfel konnten wesentliche Übereinstimmungen für ein abgestimmtes Vorgehen erreicht werden.
Höhepunkt der Krise war sicherlich das Brexit-Votum. Für Franzosen und Deutsche muss es ein Weckruf sein: weg von der Ereignispolitik, die erst dann reagiert, wenn die Krise schon ins Haus steht, hin zu einer strategischen Europapolitik. Damit der Brexit nicht zum Damoklesschwert wird, sind die Europäer zum Handeln gezwungen. Insbesondere Franzosen und Deutsche müssen sich dazu noch stärker zusammenzuraufen.
Reaktionen auf den Brexit
Auf dem ersten informellen EU-Gipfel nach dem britischen Referendum in Bratislava im September 2016 haben sich die Staatsund Regierungschefs einen Fahrplan für die nächsten sechs Monate bis zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im März 2017 gegeben. Ziel ist es, der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern wieder Orientierung zu geben. Die Herausforderungen, auf die die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Antwort finden wollen, sind enorm. Zum einen wird der Brexit Verschiebungen im Kräftegleichgewicht in Europa hervorrufen. Die Briten hinterlassen als große europäische Volkswirtschaft eine Lücke in der Wirtschaftspolitik und als diplomatisches Schwergewicht eine weitere in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Diese gilt es zu schließen. Hinzu kommt die Bewältigung weiterer Krisen und ihrer Folgen. Niedriges Wirtschaftswachstum und hohe Arbeitslosigkeit im Süden Europas, politische Instabilitäten in einigen Ländern, aber auch terroristische Anschläge verunsichern die Menschen. Auch die kriegerischen Auseinandersetzungen „vor der Haustür“ in der Ukraine, in Syrien und im Irak geben Anlass zur Sorge. Glasklar ist, dass ein Staat allein gegen diese Herausforderungen nichts ausrichten kann und dass nur ein starkes, handlungsfähiges Europa den Krisen gewachsen sein kann. Das Bewusstsein dafür teilen Franzosen und Deutsche. Als größte Mitgliedstaaten der EU sind sie in der Pflicht, voranzugehen. Franzosen und Deutsche „müssen“ Europa bewegen, auch weil sie die Fähigkeit besitzen, Kompromisse auszuhandeln und Initiativen auf europäischer Ebene zu schmieden.
Beide Länder haben in der Vergangenheit unter Beweis gestellt, dass der Motor der europäischen Integration funktionsfähig ist. Da hilft es, dass sie sich auf viele erprobte Kooperationsformate berufen können, die auch in Krisen funktionieren – vom jährlichen Deutsch-Französischen Ministerrat bis zum Beamtenaustausch in den Ministerien. Beide Länder sind wirtschaftlich, zivilgesellschaftlich und institutionell so eng miteinander verwoben, dass eine starke Interdependenz besteht. Im Abstimmungsprozess der Mitgliedstaaten für eine gemeinsame Politik haben beide Länder zudem die Fähigkeit, die Zustimmung anderer EU-Mitgliedstaaten sowie die der EU-Kommission zu gewinnen und somit Gemeinschaftsentscheidungen zu beeinflussen. Paradoxerweise ist es daher von Vorteil, dass sie bei vielen Themen abweichende Ausgangspunkte haben. Wenn Franzosen und Deutsche nach vielen Diskussionen einen Kompromiss ausgehandelt haben, finden sich häufig andere EU-Mitgliedstaaten darin wieder. Beispiele, wie gut diese „Konsensmaschine“ funktioniert, gibt es zuhauf. Eines ist das Zustandekommen des Pariser Klimaabkommens 2015, für das der französische Außenminister Laurent Fabius zu Recht viel Anerkennung erhalten hat. Der vorbereitende G-7-Gipfel unter deutscher Führung, der sechs Monate zuvor im bayerischen Schloss Elmau stattfand, hat für dieses Abkommen den Grundstein gelegt und wurde eng zwischen Frankreich und Deutschland abgestimmt.
Auch im Ukraine-Konflikt haben die Außenminister – zunächst Laurent Fabius, dann Jean-Marc Ayrault und Frank-Walter Steinmeier – ihr diplomatisches Geschick unter Beweis gestellt und eine Waffenruhe erreicht sowie den Minsker Prozess angestoßen. Es ist eine Politik der kleinen Schritte. Aber immerhin geht es voran, wenn Frankreich und Deutschland an einem Strang ziehen.
Kleine Schritte sind zu wenig
Kleine Schritte sind besser als Stillstand, aber zu wenig, um Europa in dieser Phase der Bewährung voranzubringen. Mit Trippelschritten kann die notwendige neue europäische Perspektive nicht ausgemessen werden. Wenn schon eine Verfassungsreform angesichts der Meinungsverschiedenheiten der Mitgliedstaaten als nicht realistisch erscheint, so muss der Anspruch zumindest sein, von reiner Krisenpolitik zu strategischer Neuausrichtung zu kommen. Es gilt, dort aktiv voranzugehen, wo es möglich ist. Das heißt, es müssen Handlungsfelder ausgemacht werden, in denen zwischen den Mitgliedstaaten Einigkeit besteht. Sicherheit und Verteidigung ist ein Politikfeld, bei dem es viele Übereinstimmungen gibt. Daher erstaunt es nicht, dass die beiden Verteidigungsminister Ursula von der Leyen und Jean-Yves Le Drian vor dem „Sinnstiftungs“-Gipfel in Bratislava im September 2016 eine deutsch-französische Verteidigungsinitiative lanciert haben. Darin fordern sie ein dauerhaftes militärisches EU-Hauptquartier, ein europäisches Sanitätskommando und eine verstärkte Rüstungszusammenarbeit. Vor dem Hintergrund einer zunehmend unsicheren, politisch instabilen Nachbarschaft und einer Entwicklung in den USA, in deren Verlauf sich die Vereinigten Staaten immer weniger als Schutzmacht Europas begreifen, ist es nur folgerichtig, die europäische Verteidigung zu stärken. Das heißt konkret, Kompetenzen zusammenzulegen und die Koordinierung bei Verteidigungsfragen durch die Einführung eines Europäischen Semesters“, das sich bereits als Koordinierungsinstrument in der Haushaltsund Wirtschaftspolitik bewährt hat, zu verbessern. Äußere Sicherheit steht in Wechselwirkung mit innerer Sicherheit, daher ist auch hier eine bessere Absprache geboten. Mit Sicht auf die Bedrohung durch den Terrorismus schlagen die Außenminister beider Staaten vor, eine Plattform für die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste und eine europäische Staatsanwaltschaft für Terrorismus und organisierte Kriminalität einzurichten. Das ist ein ambitioniertes Vorhaben, aber machbar.
Auch bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise besteht Einigkeit darüber, die Fluchtursachen zu bekämpfen und den weltweit ersten multinationalen, also europäischen Grenzschutz aufzubauen. Frankreich und Deutschland gehen zudem beim Thema Integration bereits gemeinsam voran. Ein Deutsch-Französischer Integrationsrat soll eingerichtet werden und nicht nur Integrations-, sondern auch Deradikalisierungsprogramme umsetzen.
Differenzen überwinden
Bei der Wirtschaftspolitik geht es darum, die Ungewissheiten über die politische Zukunft der EU zu reduzieren. Das heißt vor allem, zu verhindern, dass der Brexit freiwillige und unfreiwillige Nachahmer findet. Auch muss die Eurozone für größere wirtschaftliche Konvergenz sorgen und ihr Schuldenproblem in den Griff bekommen. Sonst verlieren die Eurostaaten an Glaubwürdigkeit, und das Investitionsklima wird sich weiter verschlechtern. Der französische und der deutsche Finanzminister, Michel Sapin und Wolfgang Schäuble, haben sich dafür ausgesprochen, die Bankenunion zu vollenden und den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu einem Währungsfonds auszubauen. Wichtig ist dabei, den Währungsfonds sowie die Eurogruppe langfristig unter parlamentarische Kontrolle zu stellen.
Damit all das gelingt, müssen Frankreich und Deutschland die bewährte „Konsensmaschine“ anwerfen und ihre Differenzen konstruktiv im Sinne aller europäischen Mitgliedstaaten überwinden. Das wird nicht leicht im Superwahljahr 2017. Sowohl die französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühsommer als auch die Bundestagswahlen im Herbst bringen aber auch die Chance, einmal mehr ganz grundsätzlich über „Europa“ zu diskutieren. Die Wählerinnen und Wähler in Frankreich und Deutschland haben die Wahl: eine Fortsetzung der europäischen Integration oder eine Rückkehr in den vermeintlichen Schutzraum des nationalen Rahmens. Nicht die Subsidiarität steht zur Abstimmung; unbestritten ist, dass Europa nur dort eingreifen soll, wo der Nationalstaat an seine Grenzen stößt. Zur Abstimmung steht die Überzeugung, dass wir für die großen Fragen „Europa“ brauchen und dass gerade Deutsche und Franzosen ein Interesse daran haben, Europa gemeinsam weiterzuentwickeln – aus Dankbarkeit für die Errungenschaften und aus Verantwortung für künftige Generationen!
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Andreas Jung, geboren 1975 in Freiburg im Breisgau, Mitglied der CDU/CSU-Fraktion und Vorsitzender der Deutsch- Französischen Parlamentarier gruppe im Deutschen Bundestag.