Die CDU ist ein erfolgreiches Erneuerungsprojekt – und das von Anfang an! Der Mut und die Weitsicht der Frauen und Männer, die vor 75 Jahren den Weg zur Gründung der CDU beschritten, führten zur bedeutendsten Neuerung in der deutschen Parteiengeschichte seit 1945.
Ihre Kraft schöpften unsere politischen Vorfahren aus dem christlichen Glauben, einer fast zweitausend Jahre alten Tradition. Aber zu „bewahren“ gab es so gut wie nichts im zerbombten Berlin oder im zerbombten Köln, wo sich die ersten Gründungskreise trafen. Nicht nur die fast vollständige Zerstörung vieler Städte und ganzer Landstriche, vor allem auch der mehr und mehr für alle zutage tretende Zivilisationsbruch der Hitler-Barbarei ließ nur die Möglichkeit eines umfassenden Neuanfangs. Und auch die Berufung auf die christliche Tradition geschah mit dem Ziel einer geistigen Erneuerung.
In Anbetracht des „Trümmerfeldes, zu dem eine Staatsund Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges geführt hat“, – wie es in der Präambel zur Bayerischen Verfassung heißt – konnte es in keinem Bereich des gesellschaftlichen Lebens ein „Weiter so“ geben und schon gar kein Zurück! Wohin denn auch? In die Schwäche und Zerrissenheit der Weimarer Republik? Ins Kaiserreich?
„Ein neues Deutschland soll geschaffen werden, das auf Recht und Frieden gegründet ist.“ So formulieren es die „Kölner Leitsätze“ im Juni 1945 im Hinblick auf die Ziele einer „Christlichen Demokratischen Union Deutschlands“.
Demokratischer Neubeginn, Westbindung und Soziale Marktwirtschaft, Abkehr vom Nationalismus und Hinwendung zum Ziel eines vereinten Europas – das waren kraftvolle, ja revolutionäre Schritte einer politischen Erneuerung, die unter Führung von Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer und Ludwig Erhard den Grundstein legten für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Und die die CDU – sowie ihre „bayerische Schwester“, die CSU – zu den entscheidenden politischen Gestaltern der Zeit von 1945 bis heute machten!
Aufruf zur Sammlung
Zentral für diese Rolle war und ist die Fähigkeit der CDU, als Volkspartei Menschen ganz unterschiedlicher Prägung zur Mitarbeit einzuladen und zeitgemäße Antworten auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen zu geben.
Für das Fundament, für unseren Kompass, steht das „C“, das konfessionelle Begrenzungen überwand und das uns öffnet für alle, die die Würde aller Menschen – den Kern des christlichen Menschenbildes – bejahen.
Für die „Einladung an alle“ steht das „U“, der Unionsgedanke, der eine moderne Volkspartei erst ermöglichte. 1945 waren die konfessionellen, sozialen und landsmannschaftlichen Abschottungen, die zur Schwäche der Demokratie in der Weimarer Republik geführt hatten, noch allgegenwärtig. Ebenso die gemeinsame Erfahrung von Verfolgung und Widerstand katholischer und evangelischer Christen, von Arbeitern und konservativen Offizieren. Der Neuanfang sollte im Zeichen des Zusammenhalts stehen.
„Das sind die Leitsätze der Christlichen Demokraten Deutschlands! Sammelt Euch um sie!“ Mit diesem Aufruf zur Sammlung enden die „Kölner Leitsätze“.
Grundsätze, Antworten auf der Höhe der Zeit und die Fähigkeit zu „sammeln“ – darum ging es und darum geht es!
Wenn die CDU erstarrte, verlor sie die Meinungsführerschaft und bald auch das Regierungsmandat. Das war der Fall, als die CDU Mitte der 1960er-Jahre gesellschaftlichen Aufbrüchen nur mit der Abwehr der mit ihnen verbundenen tatsächlichen und vermeintlichen Gefährdungen begegnete. Zudem vermochte sie es mehrheitlich zunächst nicht, Anschluss zu finden an die internationale Entwicklung hin zu einer Entschärfung des Kalten Krieges. Die Abkehr von Teilen des Bürgertums von der Union, der Koalitionswechsel der Freien Demokratischen Partei (FDP) und die Verklärung eines sozialliberalen „Modernisierungsprojekts“ waren ebenfalls Folgen dieser Erstarrung.
Erfolgsrezept einer Volkspartei
In der Oppositionszeit ab 1969 folgten wichtige Schritte der programmatischen Weiterentwicklung, von der Mitbestimmung in Unternehmen über die Frauen- und Familienpolitik bis hin zu einer breit angelegten Debatte über ein erstes Grundsatzprogramm, das diesen Namen trug. Und die CDU wurde von der Honoratiorenpartei zur Mitglieder- und Programmpartei. So wurden bereits wichtige Grundlagen für die Ära Helmut Kohl gelegt.
Als Helmut Kohl schließlich 1982 Bundeskanzler wurde, war die CDU bereits wesentlich anschlussfähiger an gesellschaftliche Veränderungen geworden. Helmut Kohl verband Festigkeit im Bündnis – die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses – und das Festhalten an der Deutschen Einheit mit dem fortgesetzten Bemühen um Entspannung und Aussöhnung in ganz Europa – und wurde dafür von Teilen der Union heftig kritisiert.
Als die Friedliche Revolution in der DDR – als Teil einer Entwicklung in Mitteleuropa – zum Fall der Mauer und der Chance der Wiedervereinigung führte, begriff Helmut Kohl das nicht als Gelegenheit zur Wiederherstellung früherer Verhältnisse. Mit der Gestaltung der deutschen Einheit sowie der vor allem mit Frankreich vorangetriebenen Gründung der Europäischen Union und der Weichenstellung für die Einführung des Euro stemmte Helmut Kohl gleich zwei epochale „Modernisierungsprojekte“.
Wer heute angesichts von Umbrüchen, Identitätsängsten und Orientierungssuche ein „Zurück“ zu Konrad Adenauer oder Helmut Kohl wünscht, der hat diese beiden großen Staatsmänner nicht verstanden. Ja, der fällt auf ein linkes Zerrbild ihres Wirkens herein, das ihren Charakter als Erneuerer leugnet.
Gerade Helmut Kohl wusste um die Notwendigkeit der Verbindung von Grundsätzen und Antworten auf der Höhe der Zeit. Und um die Gefahr, den Anschluss an gesellschaftliche Entwicklungen zu verlieren. Oft hat er die fehlende Bereitschaft der CDU kritisiert, auf jene konservativen Stimmen zu hören, die die Grenzen des Wachstums betonten und umfassende Veränderungen zum Schutz des Blauen Planeten anmahnten. So hätten auch unsere Fehler zum Erfolg der Grünen beigetragen.
Das Ringen um die richtige Balance zwischen dem Beharren auf Vertrautem und dem Wagen neuer Wege kann – wenn der Blick für das Gemeinsame und wechselseitiger Respekt dabei gelingen – geradezu das Erfolgsrezept einer Volkspartei sein.
Markenkern und Modernisierung
Solches Ringen kann Zeit kosten. Es dauerte, bis die längst mehrheitlich akzeptierte Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zur offiziellen Position der CDU wurde. Andererseits verhinderten vorhandene Beharrungskräfte die schnelle Anpassung an gewissen Moden. So hat sich Helmut Kohl – gegen deutliche Kritik auch in den eigenen Reihen – der Übernahme marktradikaler Ideen nach dem Vorbild Margret Thatchers und Ronald Reagans verweigert. Was damals von Teilen der Wirtschaft als mutlos erachtet wurde, verhinderte eine Deindustrialisierung unseres Landes, wie sie sich etwa in Großbritannien entwickelt hatte – ein Sachverhalt, der heute Deutschlands wirtschaftliche Stärke ausmacht.
Für ein Gelingen der Balance zwischen Bewahrung und Erneuerung benötigt eine Volkspartei unterschiedliche Persönlichkeiten, Vereinigungen, Strömungen, die sich eher als „Standbein“ oder als „Spielbein“ der Union verstehen.
Gerade die Jüngeren können als „Spielbein“ entscheidend dazu beitragen, dass wir nicht den Anschluss an gesellschaftliche Entwicklungen verlieren. Wie notwendig das ist, zeigte zuletzt die Debatte um die Gewährleistung des Urheberrechtsschutzes im Internet, in der weite Teile der jüngeren Generation in politischen Entscheidungen geradezu einen Angriff auf ihre Kommunikations-, ja Lebensform sahen und in der ein wechselseitiges Zuhören und Verstehen viel zu selten gelang.
Auch mit Blick auf die achtzehnjährige Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Spitze der CDU Deutschlands geht es immer wieder um die Frage, ob und wie die Verbindung vom Erhalt des Markenkerns und von notwendiger Modernisierung gelang. Untersuchungen legen dabei nahe, dass viele Mitglieder eher zu viel Modernisierung befürchten, die meisten Wählerinnen und Wähler eher zu wenig.
Dabei behagt mir schon der darin zum Ausdruck kommende vermeintliche Gegensatz von Markenkern und Modernisierung nicht. Geht es nicht oft geradezu darum, dass das Bewahrenswerte nur durch die Bereitschaft zur Veränderung auch tatsächlich bewahrt werden kann? Zwei Beispiele mögen das illustrieren.
Mehr Debatte, Neugier und Selbstvertrauen
Erstens: Die CDU war immer die Partei an der Seite der Familien. Hätten wir in den letzten Jahren, ja inzwischen Jahrzehnten nicht durch eine Weiterentwicklung unserer Familienpolitik veränderten Wünschen und Bedürfnissen von Familien Rechnung getragen, wäre unsere vermeintliche Grundsatztreue von diesen Familien geradezu gegenteilig erlebt worden – sie hätten sich von uns im Stich gelassen gefühlt. Gerade bei Fragen der persönlichen Lebensführung und angesichts der gewachsenen Zahl unterschiedlicher Lebensentwürfe gestaltet sich die Debatte mitunter heftig. So sahen manche im Bekenntnis der Union zu Krippenausbau und Ganztagsschulangeboten geradezu eine Abkehr von der Wertschätzung für einen Verzicht von Eltern auf Erwerbsarbeit zugunsten der Kindererziehung, wobei übersehen wurde, dass sich fast nur noch die Unionsparteien zum Ehegattensplitting als Grundlage echter Entscheidungsfreiheit bekennen. Linke Bevormundungsträume, die in elterlicher Kindererziehung geradezu eine das Kindeswohl gefährdende Kindesentziehung zulasten des Staates erblicken, machen dabei die Debatte nicht leichter. Wir dagegen spielen unterschiedliche Lebensentwürfe nicht gegeneinander aus. Und wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als litten wir unter deren Vielfalt. Vielfalt ist das Kind der Freiheit – die Freiheit in Verantwortung aber der Kern des christlichen Menschenbildes.
Zweitens: Die CDU war immer die Partei an der Seite der Bundeswehr. In Zeiten des Kalten Krieges und der direkten Bedrohung der Bundesrepublik gehörte dazu wie selbstverständlich die Bejahung der Wehrpflicht – wesentlich getragen vom Leitbild des „Bürgers in Uniform“ – und erst allmählich, schließlich selbstverständlich auch die Wertschätzung für den Zivildienst. Wer nun – und natürlich lässt sich darüber trefflich streiten – angesichts völlig veränderter Bedrohungslagen und immer häufiger werdender Auslandseinsätze der Bundeswehr die Aussetzung der Wehrpflicht bejahte und bejaht, wollte gerade die Bundeswehr für diese veränderte Aufgabenstellung stärken. Dass der damalige Verteidigungsminister dies allerdings maßgeblich mit Einsparmöglichkeiten begründete, hat mich schon damals nicht überzeugt.
Beide Beispiele – die Familienpolitik wie die Aussetzung der Wehrpflicht – sind bis heute den einen ein Beleg für den Verrat an Grundsätzen, den anderen ein Beleg für notwendige und gelungene Modernisierung. Dass beide – und viele andere – programmatische Weiterentwicklungen eine intensivere Debatte in unserer Union verdient, ja erfordert hätten, ist wohl wahr. Und es zeigt, dass die die letzten Jahre in weiten Teilen prägende Politik „im Krisenbewältigungsmodus“ nicht ohne Folgen geblieben ist.
Mehr Debatte, mehr Neugier und Selbstvertrauen sind gefragt. Der Ruf nach dem Rückwärtsgang aber führt in die Irre!
Unsere Grundsätze sind und bleiben ein tauglicher Kompass! Sie sind zu wertvoll, um im Bücherregal zu verstauben. Sie wollen im Leben heutiger Menschen und kommender Generationen zur Entfaltung gebracht werden. Einen Kompass braucht man nicht, wenn man im Hafen bleibt. Ein Kompass erfüllt seinen Zweck beim Aufbruch ins Offene!
Gegen die Angstmacher, die Abschottung und Abgrenzung das Wort reden und unsere Gesellschaft, ja unsere Welt spalten, leitet christliche Demokraten die Zuversicht, Zukunft verantwortlich gestalten zu können und dass unsere Überzeugung von der gleichen Würde aller Menschen stärker ist! Die Erfolgsgeschichte der CDU macht uns dabei Mut!
Hermann Gröhe, geboren 1961 in Uedem (Kreis Kleve), 2009 bis 2013 Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU), 2013 bis 2018 Bundesgesundheitsminister, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stellvertretender Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.