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Über die neue Faszination des Fragments

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Was am Bruchstückhaften und Unfertigen fasziniert uns? Fragment – das hört sich nach einem Zustand an. Es scheint darin jedoch auch die Möglichkeit, wenn nicht gar die Versuchung zu liegen, die an den Rändern des Fragments losen Fäden aufzunehmen und weiterzuspinnen. Das setzt voraus, dass wir erkennen, was im Fragment angelegt ist, und was die Ursache dafür ist, dass ein ‚Etwas‘ Fragment geworden und geblieben ist. Fragmentarisches kennzeichnet jedoch auch den Zustand unserer Weltwahrnehmung, denn die Überkomplexität unserer Lebenswelt zwingt oder verleitet zum vereinfachenden ‚Herunterbrechen‘ von Sachverhalten. Plötzlich soll man die Welt anhand von Einzelphänomen erkennen und verstehen.

Die Kunst macht es uns vor: Der Torso unter den Skulpturen, den wir bestaunen oder mit unserem imaginativen Blick zu etwas vermeintlich Vollständigerem ‚ergänzen‘; das Text- oder Musikstück, das irgendwo abbricht, aber wert bleibt, dass wir uns mit ihm befassen und fragen, ob etwa dieser oder jener Hinweis in ihm darauf hindeutet, dass es sich nicht zu Ende führen ließ. Bruchstücke enthalten Aufschlüsse, so formulierte es Ingeborg Bachmann in der Vorrede zu ihrem unvollendet gebliebenen Roman Der Fall Franza. Aber Aufschlüsse worüber? Über die verschiedenen Arten des Bruchs.

‚Bruchstücke‘, das klingt allemal besser als ‚Fetzen‘, obwohl das Fetzenhafte das Fragment ebenso charakterisiert wie das Stückhafte, zumal dann, wenn es sich aus Abbrüchen ergibt.

Dort, wo etwas abbricht, wo wir einen Riss erkennen, der die Sinnbeständigkeit aussetzen lässt – und sei es auch nur für Augenblicke –, wird potenziell Neues freigesetzt. Manche Kunstwerke scheinen erst zu ihrer vollendeten Form gelangen zu können, indem sie, paradox gesagt, das Fragmentarische in vollem Bewusstsein ihrer eigenen, im Falle eines literarischen Textes sprachlichen Unzulänglichkeiten in sich einschließen; das heißt Brüche, Rupturen, Sinn-Aussetzer, Versatzstücke und dergleichen als selbstgestalterisches Prinzip in sich integrieren. Das Abbrechende und abrupt Aussetzende kann sogar eine Voraussetzung sein für den Aufbruch – ins Ungeahnte, womöglich sogar ins eigene (kritische) Denken. Werke, die zum Widerspruch reizen und Denkverkrustungen aufbrechen, indem sie uns auffordern, zu ergänzen – sie faszinieren. Nichts wirkt abgeschmackter als ein vorprogrammiertes Glücken einer Sache. In diesem Sinne, so möchte man meinen, fordern uns die Lücke, das Fehlende, das Abgebrochene zum eigenen Denken auf.

 

Twitter-Fetzen und Facebook-Brocken

 

Müsste man in Anbetracht unserer heutigen medien- und informationsinflationär bedingten Segmentierung und damit Fragmentierung der Weltwahrnehmung nicht annehmen, wir seien in der Hochkultur kritischen Denkens angelangt? Wohin man auch schaut: Stets findet sich etwas Angebrochenes, etwas Kurzgefasstes, vorzugsweise in Form von tagein, tagaus milliardenfach in die Welt hinausposaunten Twitter‘schen Fetzen, Facebook’schen „Ich-wollt’s-einfach-mal-gesagt-haben“-Brocken; überhaupt die Art der Nachrichtenverhackstückung via soziale Medien, die Verunmöglichung kohärenten Nachverfolgens politischer Phänomene, das Stückwerkhafte politischen Handelns unter den heutigen Bedingungen. Was zählt, einfach gesagt, ist die Schlagzeile; sie gibt die Denkrichtung an. Eine Tendenz, die sich innerhalb kürzester Zeit schon als nicht mehr zeitgemäß erweisen kann, weil sie durch wieder neue Headlines umgeleitet wurde. Was geschähe, wenn wir jede einzelne Schlagzeile bis in alle Einzelheiten zu Ende dächten?

Die durch die digitalen Technologien bedingte Fragmentarität, wie wir sie heute erleben und der wir ausgesetzt sind, ob wir das nun wollen oder nicht, entspricht der Tendenz ebendieser Medientechnologien, ihrerseits einen allumfassenden Anspruch zu erheben. Es lässt sich inzwischen von einer Totalisierung des Digitalen sprechen. Wo aber das Totale überwiegt, sind totalitäre Strukturen nicht sehr weit. Das Individuum bleibt dabei auf der Strecke; worauf es offenbar nur noch ankommt, sind die massenhaften Daten, die der Mediennutzer mit jedem Schritt, jedem Handeln, jedem Klick erzeugt.

 

Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit

 

Die digitale Erfassung mittlerweile nahezu jedes einzelnen Aspekts unseres Lebens erzeugt in uns das Gefühl, die Übersicht und somit Kontrolle über uns selbst zu haben. Wir werden uns selbst messbar. Wenn schon alles andere außer Rand und Band ist, so kann man sich wenigstens, um ein Beispiel von vielen zu nennen, jeden Morgen einen Überblick verschaffen über die Fluktuation verschiedenster Körperfunktionen wie Körperfettanteil, Herzindex und so weiter. Solange man dergleichen Daten im Auge hat, glaubt man, handlungsfähig bleiben zu können. Ist das jeweilige Gerät einmal richtig eingestellt, genügt es, auf die nächste Vibration am Handgelenk zu achten: Aufstehen, bewegen!

Wir sind nun aber von Natur aus hin- und hergerissene Wesen, einmal wollen wir das eine und dann wieder mehr vom anderen. Erfahren wir überwiegend Fragmentarität, zum Beispiel in Gestalt von innerer Zerrissenheit und Unausgewogenheit, tendieren wir als Ausgleich immer stärker zu harmonischer Ganzheitlichkeit. Doch dieser Wille zur harmonisch-ganzheitlichen Versöhnung hat etwas Illusorisches, weil vieles im Leben unkalkulierbar bleibt. Unser Bewusstsein weist unweigerlich Lücken auf. Und nicht immer sind wir es, die das Extreme in uns auspendeln lassen können. Diese Extreme selbst verfügen oft über eine Eigengesetzlichkeit, die wir zu berücksichtigen haben, wenn wir an ihrem Ausgleich arbeiten. Aber eben auch dieses Arbeiten weist notwendigerweise Lücken auf, kann nie erschöpfend, nie vollständig sein. „Was wir das Vollendete in der Kunst nennen, bringt nur von neuem das Unvollendete in Gang“, hielt Bachmann in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung am 25. November 1959 fest. Das gilt ebenso für Kunstwerke wie für unsere Lebenswirklichkeit. Man könnte sogar so weit gehen und mit Rüdiger Görner fragen, ob „selbst im Vollendeten das Unvollendete aufgehoben sei und im Unvollendeten sich das Vollendete aufspüren lasse“. Wo die eine Seite in ihr Extrem getrieben wird, so lässt sich behaupten, drängt sich einem die entgegengesetzte Seite immer stärker auf.

Hat das Pendel zu stark nach einer Seite ausgeschlagen? Und wenn ja, um welche Art von Extrem handelt es sich hierbei? Erleben wir eine durch unsere innere Zerrissenheit, unsere mental bedingte Fragilität verursachte Krise? Maurice Blanchot war noch der Meinung, dass sich die „nach innen gerichteten“ Künstler im währenden Kampf „mit dem Irrsinn“ befänden; sie seien „zerrissen, zerstückt, zerhackt“, gelänge es ihnen nicht, „für einen Moment in ihrem Werk das Gleichgewicht, die Balance, die Notwendigkeit und Harmonie zu finden“. Gilt das heute nicht für so gut wie jeden von uns? Wo aber finden wir den Ausgleich? Der Künstler veräußert den (inneren) Sinn nach außen in Gestalt seines Werks. Gelingt es, strahlt das Werk Sinnhaftigkeit aus. Aber wie verhält es sich mit uns Normalsterblichen im digitalen Zeitalter? Man hat den Eindruck: genau umgekehrt!

Das (uns) Äußere nimmt uns in Besitz. Digitale Fremdbestimmung lautet hier die Devise, was sich auch an der Schwierigkeit, vielleicht immer mehr an der Unmöglichkeit zeigt, eine längerfristig überzeugende zusammenhängende politische Programmatik angesichts sich überstürzender Ereignisse vorzulegen. Was wir erleben, ist die Krise des Ganzheitlichen, bedingt durch Totalfragmentierung und die dadurch immer stärker werdende Sehnsucht nach der Integration der losen Bruchstücke zu einem absoluten – unverletzbaren – Ganzen. Auf diese Weise beißt sich die Katze in den Schwanz: Wir streben nach noch mehr Sicherheit und meinen sie mittels einer Überwachung durch die digitale Erfassung unserer Lebensvorgänge zu erreichen.

 

Konzeptionelle Bedingtheit von Teil und Ganzem

 

Dieses Pendelphänomen hat Jean Améry in seinem Roman-Essay Lefeu oder der Abbruch dichterisch-essayistisch ausgelotet und als Sprachproblem sprachlich zur Darstellung gebracht. Die zwei Extreme – die pure Fragmentarität und eine absolute, in sich stimmige Ganzheitlichkeit – werden darin vor dem Hintergrund einer konzeptionellen Bedingtheit von Ganzem und Teil gedacht. Die eine Seite kommt in Gestalt der dichtenden Irene zur Sprache, die mit einer Handvoll Buchstaben ein Gedicht zusammenschustert, das zwar Variationen aufweist, aber im Grunde immer gleich lautet: „Pappelallee, Pappelallee, alle Pappeln, Pappelnalle, Plapperpappel.“ Was sie sprachlich produziert, ist sinnzerstörter und wirklichkeitsbezugsloser Wahnwitz.

Dieser selbstgefälligen Fragmentarität diametral gegenüber steht die Sprache der Juristen. Die Amtssprache, die alles vollständig erfasst und selbst die beziehungsreichsten Sachverhalte ohne jeden Widerspruch vermitteln kann. Bei diesen Juristen ist kein Platz für Mehrdeutigkeit oder plurale Sinnperspektiven. Welt und Sprache, Außen- und Innenleben werden in einer auf unbedingte Ausschließlichkeit angelegten Interaktion, in der nichts falsch verstanden werden kann, eins, damit aber auch einerlei. Während man bei Irenes zerhackter Dichtung bei jedem Wort nach der Bedeutung und dem potenziellen Bezug zur Wirklichkeit fragen muss, bietet die Beamtensprache keinerlei Spielraum für Interpretation. Sie sagt, ohne zu zögern, wie die Dinge sind.

Diese zwei (extremen) Seiten sind die äußersten Grenzen eines weiten Sprachspektrums. Je mehr sie sich jeweils voneinander und daher von der Mitte entfernen, desto näher kommen sie sich paradoxerweise. Ihr extremes Verhalten führt bei beiden zu einem zerstörerischen Charakter. Bei der in Stücke geschlagenen Sprache Irenes reißen ‚alle Sinnstränge‘, während bei der Amtssprache gerade wegen ihrer obsessiven Fixierung auf Eindeutigkeit, die keine Variabilität in der Deutung zulässt, längst nur buchstabengetreu Gesetzesparagraphen nachgeplappert werden; sie besteht zuletzt lediglich aus ‚klappernden Floskeln‘, die, wie es im Roman heißt, „sich darum als Sprachtrümmer anhören“.

 

Vollendete Fragmente

 

Es gilt wohl, immer wieder die Mitte auszuloten. Amérys Protagonist, Lefeu, ein bindungsscheuer jüdisch-deutscher Maler im Paris der 1970er­Jahre, einstiges Mitglied der Résistance, der sich der kommerziellen Obszönität des Kunstmarkts entzogen hat und in einem baufälligen Atelier haust, das abgerissen werden soll, versucht, zwischen beiden Welten, jener Irenes und jener der Juristen, zu vermitteln. Sein eigenes Leben stellt sich ihm als Fragment dar. Er will vor allem eines: Widerstand leisten gegen den Abbruch seines Ateliers und dadurch gegen den Anmaßungswahn der Behörden aufbegehren. Zuletzt bleibt ihm nur, seine Bilder zu verbrennen und verarmt auf den Straßen von Paris zu verenden. Sein Leben und Schaffen endet im Bruch, und damit auch sein Vermitteln.

Ist die Vorstellung eines versöhnenden Zusammenspiels von Fragment und Ganzheit trügerisch – oder ist sie nicht vielmehr die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, um nicht ganz dem Trug zu verfallen: frei zu sein, während wir in Wirklichkeit durch die digitale Entwicklung verstärkt unter Überwachung stehen?

In einem der zahlreichen von der Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel verfassten Kurztexte, die sich als vollendete Fragmente einer großen novellistischen Vorstellungskraft bezeichnen lassen, findet sich das Prosastück Mein Schweigen. Darin gestaltet die Autorin ein Sprachbild, das die Materialität des Fragmentarischen exakt bezeichnet: „… ich zeichne ein Kreuz aus Blumen, das mich begeistert; es ist erstaunlich regelmäßig geraten, nur der linke Balken bleibt unvollständig, weil er sich zu weit außen befindet; der Papierrand hindert mich daran, den Balken fertig zu zeichnen.“ Hier kommen zwei Dinge zusammen: die materielle Gegebenheit – der Blattrand – sowie die Entscheidung der Zeichnerin, das Kreuz an einer Stelle zu entwerfen, die eine Vervollständigung gar nicht gestattet. Nicht minder wesentlich ist, dass diese notwendig Fragment gebliebene Zeichnung zumindest in den Augen ihrer Urheberin künstlerisch gelungen wirkt; es kann gar ‚begeistern‘. Und verhält es sich nicht gerade so, dass das Fragmentarische – zumindest insgeheim – eine solche Begeisterung auslösen kann, eben gerade weil seine Offenheit Vielversprechendes birgt?

 

Kaltërina Latifi, geboren 1984 in Pristina (Kosovo), ist eine schweizerisch-deutsche Literaturwissenschaftlerin und Essayistin. Seit 2021 ist sie Kolumnistin für die Schweizer Wochenzeitschrift „Das Magazin“. Ihre Studie „Fragmentarik. Eine poetische Phänomenologie des Fragments“ erscheint 2024 im Wallstein-Verlag, Göttingen.

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