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Von der Wirklichkeit und Wahrnehmung eines Wahlkampfschlagers

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„Deutschlands Reiche immer reicher“, „Mittelschicht schrumpft drastisch“, „Jede zweite Rente niedriger als Hartz IV“ – so und ähnlich lauteten einige Schlagzeilen in der Vorwahlkampfzeit. Dass einer im Juni 2013 veröffentlichten Allensbach-Umfrage zufolge nicht einmal mehr zwanzig Prozent der Deutschen die Verhältnisse in ihrem Land im Großen und Ganzen für gerecht halten, fast siebzig Prozent hingegen für ungerecht, verwundert bei diesen Überschriften nicht. Und noch viel weniger, dass in dieser Gemengelage Gerechtigkeit – mal wieder – zu einem zentralen Thema des Bundestagswahlkampfes avanciert ist. Insbesondere die Oppositionsparteien malen die Lage des Landes in düsteren Farben, wozu auch die Union zumindest mit der Diskussion um Altersarmut und Lebensleistungsrenten einiges beigetragen hat.

 

Tristes Schlagzeilengrau

Doch die Schlagzeilen und der politische Aktionismus passen nicht zu jenen Befunden, die zwar sehr ähnlich sind, aber aus ganz unterschiedlichen Quellen stammen. Dass in Deutschland die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich wieder zusammengeht, bestätigen Untersuchungen von der OECD bis hin zum DIW. Und von supranationaler Warte aus stellt sich die Lage sowieso in sehr viel wärmeren Farben dar als im tristen Grau, mit dem hierzulande in aller Regel gemalt wird. Doch wer in sozial- und verteilungspolitischen Debatten darauf hinweist, dass Deutschland gerechter ist als weithin wahrgenommen, wird bestenfalls der Schönfärberei bezichtigt. Keine Frage, es gibt Lebenslagen und Arbeitsverhältnisse, die alles andere als kommod sind. Wenn man allerdings bemerkt, dass diese in aller Regel mit fehlender Qualifikation zu tun haben, die auch individuelle Gründe hat, erntet man in aller Regel Empörung.

Nun folgt der Berliner politisch-mediale Komplex einer eigenen Logik von Politisierung, Medialisierung und Skandalisierung, die mit der Lebenswirklichkeit im Lande nicht zwingend deckungsgleich ist. Trotzdem liegt die Frage nahe, warum sich einige vor allem sozialpolitische Mythen als so nachhaltig erweisen. Das zu klären ist wichtig, denn die Zustimmung zur Wirtschafts- und Sozialordnung ist immer noch in hohem Maße an ihren Erfolg beziehungsweise ihre wirtschaftliche Prosperität geknüpft. Ihre zunehmende Ablehnung hingegen droht auf Dauer das Fundament unserer Demokratie zu beschädigen. Die Erklärungen sind psychologischer, medienlogischer und politischer Natur.

In einem seltsamen Antagonismus aus Finanzkrise und Wirtschaftsaufschwung hat sich in den letzten Jahren eine nagende Verunsicherung breit gemacht, die tief in das Selbstverständnis bürgerlicher Kreise eingesickert ist. Das beruhigende Gefühl des scheinbar mühelos stetig expandierenden Wohlfahrtsstaates ist längst passé. An seine Stelle ist die „German Angst“ getreten – bei Generationen, die in Zeiten substanzieller Arbeitslosigkeit groß geworden sind, durchaus verständlich. Selbst wenn diese Furcht nicht mehr so stark wirkt wie noch vor einigen Jahren, haben Phänomene wie die „Generation Praktikum“ nicht eben dazu beigetragen, junge Menschen zu ermutigen. Die aktuelle Verteilungsdiskussion wirkt insgesamt deutlich emotionaler, als dies beispielsweise in der Verlagerungsdebatte der 1990er-Jahre der Fall war. Hinzu kommt die verhaltensökonomische Verlustversion, nach der potenzielle Risiken deutlich höher gewichtet werden als Chancen: Insgesamt neigen Menschen dazu, sowohl ihre eigene Anpassungsfähigkeit zu unterschätzen als auch negative Auswirkungen von Reformen auf sie persönlich zu überschätzen.

 

Entspannter Fatalismus

Nach wie vor sind wir Deutschen sehr sicherheitsorientiert. Nicht einmal jeder Dritte glaubt laut Umfragen, dass die Unsicherheiten vor einigen Jahrzehnten ähnlich groß waren wie heutzutage – ein Befund, der eine Generation, die mit Filmen wie „The Day After“ und „War Games“ groß geworden ist, zumindest vergesslich erscheinen lässt. Die große Bedrohung im Hintergrund lauert heute dagegen, so die Feuilletons, in den Algorithmen der Finanzmärkte und des Informationskapitalismus. Verunsichernd daran ist jedoch weniger die von Autoren wie Frank Schirrmacher unterstellte Gefahr, mittels Rechenoperationen entmündigt zu werden und in Folge der von Spieltheorie, Egoismus und Digitalisierung dominierten Ökonomie die eigene Freiheit zu verlieren, sondern die Abstraktheit und Undurchschaubarkeit dieser Bedrohungen. Ähnliches gilt für konkrete Herausforderungen wie die Eurokrise, der die Deutschen mit einer Art von „entspanntem Fatalismus“ (Renate Köcher) begegnen. Das weitverbreitete Gefühl, dass der eingeschlagene Weg schon zum Ziel führen wird, paart sich mit der Wahrnehmung, von der Komplexität der Krise überfordert und dementsprechend zu keiner wirklichen Beurteilung in der Lage zu sein.

Selbiges lässt sich übrigens übertragen auf das undurchdringbare Finanzgeflecht, in dem sich Bund, Länder und Kommunen verheddert haben. Wer für was verantwortlich ist, weiß kaum jemand. Bundeskanzlerin Angela Merkel beispielsweise erinnerte vor einiger Zeit daran, dass in dem von ihr initiierten „Zukunftsdialog“ viele Experten in der Bildungspolitik Forderungen an den Bund adressierten, kaum einer von ihnen sich aber der Tatsache bewusst war, dass die Bundespolitik – den föderalen Verhältnissen sei Dank – dafür nicht zuständig ist. Was die Bürger jedoch wahrnehmen, ist die im Umfeld von Landtagswahlen unvermeidliche Bewegung in der Schulpolitik sowie die vielerorts sanierungsbedürftige schulische Infrastruktur. Am Ende bleibt wiederum das Gefühl wenn nicht von fehlender Gerechtigkeit, so doch zumindest von mangelnder Leistung für die entrichteten Steuergelder.

 

Der Mythos „Einzelfall“

Der Philosoph Hans Blumenberg, dem Sibylle Lewitscharoff vor zwei Jahren mit ihrem Roman Blumenberg ein literarisches Denkmal setzte, nannte Mythen einmal „Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit“. Mit einem etwas spöttischen Blick auf den ritualisierten Talkshowdiskurs, dem die meisten politischen Debatten unterliegen, fällt einem hierbei unmittelbar der Dachdecker ein, der in keiner Diskussion um die Rente mit 67 fehlen darf. Wer heute in sozialpolitischen Debatten argumentiert, dass es sich bei vielen der Beispiele um Einzelfälle handelt, die im Übrigen niemand gutheißt, wird schnell als zynisch diffamiert.

Die Krux an den medial gut zu bebildernden Ausnahmen von der Regel ist indes eine ganz andere: Beinahe drei Viertel der Deutschen erwarten von einer künftigen Bundesregierung, die Unterschiede zwischen oben und unten abzubauen. Wenn der Maßstab dafür jedoch nicht statistische Mittelwerte sind, sondern extreme Beispiele, ist lang andauernder Verdruss garantiert. Das parlamentarische Instrumentarium, die Gesetzgebung, ist an sich nicht geeignet, sich mit Einzelfällen zu befassen. Vielmehr „regeln Gesetze immer angenommene Durchschnittsfälle“, die aber in der Realität kaum exakt so vorkämen, wie es Bundestagspräsident Norbert Lammert ausdrückte. Außerdem steht die – von Politikern durchaus geförderte – Anspruchshaltung der Bürger hinsichtlich dessen, worum sich „die Politik“ kümmern soll, in einem seltsamen Widerspruch zu dem beständig sinkenden Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der politischen Institutionen.

Der zugespitzte Blick auf einzelne Beispiele funktioniert übrigens – genauso dem Image der sozialen Marktwirtschaft abträglich – auch nach oben: Schnell wird übersehen, dass ein durchschnittlicher Unternehmer nichts mit einem gierigen Investmentbanker gemein hat; er lenkt keinen globalisierten Großkonzern, schon gar nicht aus der Finanzwirtschaft, auf die öffentliche Wahrnehmung wie politische Debatte zielen. Fragt man die Mitarbeiter eines der Betriebe in Familienbesitz mit persönlich haftenden Eigentümern nach „ihrem“ Unternehmer, dann ergibt das zumeist ein vollkommen anderes Bild als das des Unternehmers im Allgemeinen, den nicht einmal jeder Fünfte mehr mit Eigenschaften wie selbstlos, sozial oder gar gerecht verbinden will. Dass es wiederum eine hinreichende Anzahl schlechter Beispiele einstmals gefeierter Manager gibt, die nach individuellem Fehlverhalten der öffentlichen Ächtung anheimgefallen sind, ergänzt den Befund. Diese Fälle, die politisch und medial breite Aufmerksamkeit erhalten, wirken wie der Fingerhut mit Gift, mit dem sich ein ganzes Reservoir voll Trinkwasser vergiften lässt.

 

Anekdotische Empirie

Misslich ist, dass diese Exempel schnell als Beleg für eine systemische Krise herangezogen werden. Statistische Mittelwerte sind nun mal selten attraktiv. So siegt die anekdotische Empirie, sticht Empörung Fakten, und nur die schlechten Nachrichten sind gute – solche mit Aufregungspotenzial. Die infolge des ökonomischen Drucks insbesondere auf Printmedien entstandene partielle Prekarisierung des journalistischen Berufsstandes ist zudem nicht dazu angetan, die Arbeitswelt und das Sozialsystem als besonders gerecht zu empfinden. Ohne jemandem mangelnde Objektivität unterstellen zu wollen, können einem insbesondere beim Thema befristete Arbeitsverhältnisse, von dem der journalistische Berufsstand mittlerweile massiv betroffen ist, gelegentlich Zweifel kommen, inwieweit das eigene Erleben die Sichtweise und Berichterstattung prägt. Die am stärksten von Befristungen betroffene Gruppe sind junge Akademiker, bei knapp dreißig Prozent der 25bis 29-jährigen ist das der Fall. Allerdings müssen sich gerade diese Arbeitnehmer die wenigsten Sorgen um einen Arbeitsplatz machen; bei Akademikern liegt die Arbeitslosenquote bei gerade zwei Prozent. Das Risiko ist also denkbar gering – außer bei mangelnder Flexibilität in Kombination mit einem sehr wenig nachgefragten Studienfach.

Dies sollte indes nicht als reine Medienschelte verstanden werden. Denn es gibt ohne Frage skandalöse Fälle. Zudem bedienen Medien, insbesondere das Fernsehen, häufig nur die Erwartungen ihres Publikums – was sie übrigens mit der Politik gemeinsam haben. Neben der publizistischen Pointierung und politischen Polemik ist die systemische Logik zu nennen: Politisches Handeln ist auf den meisten Feldern ein expansiver Prozess. Politik ohne Handlung, und sei sie nur symbolischer Natur, ist kaum denkbar noch medial zu vermitteln. Der Missstand, den es abzuändern gilt, ist systemimmanent. Das Thema Gerechtigkeit wiederum ist schon deshalb so beliebt, weil es emotional wirkt. So sind gerade in Wahlkampfzeiten einige Mythen und Legenden entstanden, kommunikativ geschickt inszeniert, meist samt der verheißungsvollen Lösung namens Umverteilung. „Der größte Feind der Wahrheit ist nicht die Lüge – absichtsvoll, künstlich, unehrlich –, sondern der Mythos – fortdauernd, verführerisch und unrealistisch“, hat John F. Kennedy gesagt. So bleibt über den Wahltag hinaus oft nur ein großes Unbehagen.

 

Knut Bergmann, geboren 1972 in Erkelenz, leitet das Hauptstadtbüro des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Er ist Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung.