Seit Ausbruch des Konflikts in Syrien 2011 fanden 5,6 Millionen Syrer Zuflucht im Libanon, in Jordanien und in der Türkei. Damit hat der Zedernstaat gemessen an seiner Einwohnerzahl – mit einem Anteil von etwa 25 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung – pro Kopf weltweit die größte Zahl an syrischen Flüchtlingen aufgenommen. Im September 2018 verzeichnete das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) einen leichten Rückgang mit 952.562 registrierten syrischen Flüchtlingen, die sich auf 217.450 Haushalte verteilen. Schätzungen der libanesischen Regierung gehen jedoch von einer weit höheren Zahl von bis zu 1,5 Millionen Flüchtlingen aus. Diese enorme Leistung auf Deutschland zu übertragen, hieße, dass es innerhalb von sieben Jahren über dreißig Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben müsste.
Der Libanon mit seinen gerade einmal 4,5 Millionen Einwohnern strauchelt unter der hohen Belastung und versucht sein Möglichstes, um die Folgen des Krieges für die Region zu minimieren. Doch durch die Präsenz der Flüchtlinge verschärft sich das bereits bestehende politische, wirtschaftliche und soziale Problemgefüge des Landes; alte Konfliktlinien vertiefen sich. Die fein austarierte konfessionelle und demografische Balance des libanesischen Systems erscheint nachhaltig erschüttert. Gesundheits- und Bildungssysteme sind überlastet, Lebenshaltungskosten steigen, und die ohnehin marode Infrastruktur verschlechtert sich zunehmend. Die Wasser- und Energieversorgung wie auch Müll- und Abwasserentsorgung, die schon zuvor chronisch überlastet waren, können den Anstieg an Verbrauchern kaum bewältigen. Dies führt zu einer rapiden Verschlechterung der Lebensverhältnisse von Flüchtlingen und der libanesischen Aufnahmegesellschaft gleichermaßen. Insbesondere junge Libanesen aus sozioökonomisch schwächeren Schichten haben unter einer stark gestiegenen Arbeitslosenquote zu leiden, die mittlerweile in einigen Regionen auf bis zu 35 Prozent gestiegen ist. Daten der Weltbank zufolge leben seit Beginn des Zustroms syrischer Flüchtlinge in den Libanon überdies 200.000 libanesische Staatsbürger in Armut, und bis zu 300.000 Libanesen haben ihren Arbeitsplatz verloren.
Armut und Hoffnungslosigkeit stellen einen Hauptfaktor bei der Radikalisierung junger Libanesen und syrischer Flüchtlinge dar, was für die Region und Europa sicherheitspolitische Risiken birgt. Im Sommer 2017 kam es sowohl in Flüchtlingslagern als auch entlang der Grenze zu Syrien zu Kämpfen zwischen der libanesischen Armee und Zellen des Islamischen Staates sowie der ebenfalls radikalislamischen Al-Nusra-Front.
Wirtschaft und Finanzmarkt im Krisenmodus
Die libanesische Wirtschaft, die vom Dienstleistungs- und Handelssektor dominiert wird, verzeichnet seit Beginn des Syrienkonflikts hohe Einbußen. Diese wurden vor allem durch die Aussetzung des bilateralen Handels hervorgerufen. Zudem gab es einen Rückgang an Investitionen und einen vorübergehenden Zusammenbruch des Tourismussektors. 2017 registrierte der Internationale Währungsfonds für den Libanon eine Staatsverschuldung von über 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und prognostizierte für 2018 einen weiteren Anstieg der Verschuldung um rund neun Prozent. Der Libanon strauchelt nicht allein unter der humanitären Herausforderung, die der Krieg im Nachbarstaat für das Land und besonders seine Wirtschaft bringt. Im Frühjahr 2018 wurden die drei internationalen Geber- und Investorenkonferenzen Rom II, Paris IV – auch CEDRE-Konferenz genannt – und Brüssel II einberufen, die sowohl der libanesischen Armee und den Sicherheitskräften als auch der Wirtschaft und den mit der Flüchtlingsaufnahme betrauten Behörden finanzielle und politische Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft zusichern sollten. Die stärker als früher konditionierte Hilfe aus dem Ausland ist jedoch an tiefgreifende Reformen der libanesischen Wirtschaft, des Finanzsektors und insbesondere des öffentlichen Sektors geknüpft. Angesichts der langwierigen Verhandlungen zwischen den politischen Kräften über die Formierung einer neuen Regierung nach den Wahlen am 6. Mai 2018 steigt nicht zuletzt der zeitliche Druck auf sie, die geforderten Reformschritte schnell und entschieden einzuleiten.
Spielball regionaler Rivalitäten
Gleichzeitig kann die Konsensforderung der meisten politischen Kräfte nach einer Dissoziation von den Konflikten der Region – ähnlich dem Schweizer Neutralitätsmodell – nicht durchgesetzt werden, bleibt doch der erhebliche politische und wirtschaftliche Einfluss Saudi-Arabiens und des Iran auf den Libanon bestehen. In Syrien ist die schiitische Hisbollah mit eigenen libanesischen Kontingenten seit 2012 aktiv an der Seite des Assad-Regimes in Kampfhandlungen involviert. Während die USA unter der Trump-Administration mehr und mehr ihre Politik einer Eindämmung pro-iranischen Einflusses in der Region umsetzen und im Libanon gezielt mittels Sanktionen gegen Hisbollah-affiliierte Entitäten vorgehen, versucht Russland – in der Frage der Flüchtlingsrückführung, in einer neuen bilateralen Militärkooperation oder durch die Vertiefung der Beziehungen der russisch-orthodoxen Kirche mit den Christen des Libanon –, das entstandene Vakuum zu füllen. Als Ergebnis der Parlamentswahlen vom 6. Mai 2018, die den bisherigen politischen Status quo weitgehend verstetigt haben, hat sich in Allianz mit der Hisbollah neben einem pro-iranischen Parteienlager ein deutlich pro-syrisches Lager, das heißt dem Assad-Regime nahestehende Kräfte, aus kleineren Parteien und individuellen Kandidaten gebildet.
Letztere sind wie der ehemalige Geheimdienstchef Jamil al-Sayyed, der aufgrund seiner Beteiligung an der Ermordung Rafik Hariris 2005 inhaftiert wurde, keine Unbekannten in Libanons politischer Landschaft. Sie stellten vielmehr unter der früheren syrischen Besatzung die Schlüsselpartner des Assad-Regimes dar, das auf eine lange Geschichte der lokalen Intervention und Einflussnahme im Libanon zurückblickt: Nach dem Eintritt Syriens in den libanesischen Bürgerkrieg (1975 bis 1990), der fast fünfzehnjährigen militärischen Kontrolle über den Libanon und der Ermordung des ehemaligen Premierministers Rafik Hariri 2005 sowie nach dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah 2006, in dessen Verlauf viele Libanesen kurzzeitig Aufnahme und Schutz in Syrien fanden, hat das Regime, das sich in Damaskus nur im Bündnis mit dem Iran, Russland und der Hisbollah an der Macht halten kann, seinen Einfluss auf den Libanon wieder stärken können.
Die libanesische Regierung steht vor dem Problem, eine Flüchtlingsrückführung nach Syrien im offiziellen Dialog mit dem dortigen Regime einleiten zu müssen. Daher versucht sie, über die russische Regierung, die im Libanon als stärkste militärische und politische Kraft in Syrien angesehen wird und im Sommer 2018 einen ersten Plan zur Rückführung syrischer Flüchtlinge vorgelegt hat, auf das Assad-Regime einzuwirken.
Internationale Unterstützung und innerer Wandel
Für das Regime gewinnt der Libanon nicht zuletzt unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten immer mehr an Bedeutung: Seit 2012 hat das Regime international mit Wirtschaftssanktionen zu kämpfen. In zunehmendem Maße kann das Land über libanesische Firmen und Mittelsmänner eine Versorgung mit sanktionierten Gütern sicherstellen. Es gelingt sogar, stärker als bisher unter den libanesischen Businesseliten für Investitionen in Syrien zu werben. Die libanesische Regierung unter Premierminister Saad Hariri, der eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit dem syrischen Regime ablehnt – mit eben jenem Regime, dem dieser Tage vor dem UN-Sondertribunal für den Libanon eine Mittäterschaft an der Ermordung seines Vaters Rafik Hariri angelastet wird –, gerät so intern immer mehr unter Druck.
Die destabilisierenden Auswirkungen des Syrien-Konflikts auf die politische, wirtschaftliche und soziale Verfasstheit des Libanon tangieren die deutsche und europäische Interessensphäre unmittelbar. Die Unterstützung des Libanon im Zusammenspiel mit einem von seinen moderaten, reformorientierten Kräften vorangetriebenen inneren Wandel erscheint angesichts dieses enormen Spannungskomplexes wichtiger denn je.
Michaela Balluff, geboren 1993 in Stuttgart, Forschungs- und Projektassistentin, Auslandsbüro Libanon der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Malte Gaier, geboren 1984 in Ludwigsburg, Leiter des Auslandsbüros Libanon und Kommissarischer Leiter des Auslandsbüros Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung.