Freya Klier nimmt in ihrem jüngsten Buch ein Kapitel der DDR-Geschichte in den Blick, das erstaunlicherweise bislang wenig systematisch untersucht worden ist. Zwar gibt es zu vielen der im Buch präsentierten Einzelfälle bereits umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen bis hin zu Gerichtsurteilen. Eine Gesamtschau der möglichen Mordanschläge auf DDR-Kritiker und Oppositionelle sowie Todesfälle aus ihren Reihen, die zumindest im Interesse des SED-Regimes lagen, gab es bisher nicht. Dies ist das Neue an Kliers Buch: Sie hat rund siebzig Fälle von Regimegegnern, Dissidenten und Oppositionellen zusammengetragen, bei deren Ableben vor oder nach dem Ende der DDR sie „keinen natürlichen Tod vermutet(e)“, sondern gezielte Morde der DDR-Staatssicherheit. Klier listet auch jene Fälle auf, in denen die Betroffenen überlebten. Sie will keine gerichtsfesten Behauptungen aufstellen, sondern „dem Leser lediglich vor[schlagen], auch diese Variante und deren Logik zu durchdenken“ (Seite 7).
Die Akten der Staatssicherheit können zur Aufklärung nur bedingt beitragen. Die „nassen Sachen“ – im Geheimdienstjargon werden so Gewaltmaßnahmen bis hin zu Auftragsmorden bezeichnet – wurden nur selten dokumentiert. Falls doch, so gehörten sie vermutlich zu den ersten Unterlagen, die 1989/90 in den Reißwolf wanderten. Dennoch ist bekannt und in mehreren Fällen durch Stasiakten belegt, dass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) seine Rolle als „Schild und Schwert der Partei“ durchaus wörtlich nahm und politische Gegner des SED-Regimes ohne gerichtliche Todesurteile ermordete beziehungsweise ermorden ließ. Insofern ist Kliers Ansatz naheliegend, nach weiteren Todesfällen und Unfällen zu suchen, bei denen das MfS ein Interesse am vorzeitigen Ableben von Regimegegnern hatte, und danach zu fragen, ob die Umstände die Handschrift der DDR-Geheimpolizei tragen.
Freya Klier entrann 1987 selbst nur knapp einem Mordversuch der Staatssicherheit. Nur das geistesgegenwärtige Eingreifen ihres damaligen Ehepartners Stephan Krawczyk hatte das Paar seinerzeit vor einem schweren Verkehrsunfall bewahrt. Dass der Beinahe-Unfall auf eine Manipulation der Stasi zurückging, bestätigte ihr 2019 ihr ehemaliger Vernehmer, der telefonisch Kontakt mit Klier aufgenommen hatte. Bis heute kann Klier aus psychologischen Gründen weder selbst ein Auto steuern noch Rad fahren. Insofern war das Motiv, das Thema aufzugreifen, auch ein sehr persönliches.
Grausame menschliche Schicksale
Das Buch ordnet die Fälle nach Jahrzehnten von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre. Die Fälle aus den 1950er- und 1960er-Jahren passen allerdings nicht oder nur sehr bedingt zum Gegenstand des Buches. Bei den in Moskau erschossenen Opfern des SED-Regimes – wie beispielsweise Herbert Belter, der von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und 1951 in Moskau hingerichtet wurde – handelte es sich um dokumentierte Justizmorde, nicht aber um Aktionen, bei denen die Stasi unter „mysteriösen“ Umständen zwecks Verschleierung ihrer Täterschaft Menschen tötete. Das gilt auch für die ebenfalls von Klier aufgeführten über 400 Personen, die in den 1950er-Jahren in West-Berlin entführt wurden, beispielsweise Karl-Wilhelm Fricke. Sie waren zwar durch die Haft gezeichnet, kamen jedoch in der Regel mit dem Leben davon.
Auch andere erwähnte Widerständler wie die Mitglieder des Eisenberger Kreises fanden nicht den Tod. Ebenso wenig passt der Fall des Inoffiziellen Mitarbeiters der Staatssicherheit Karl-Heinz Kurras, der 1967 den Studenten Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen den Schah erschoss, zum Untersuchungsgegenstand. Das gilt auch für den Fluchthelfer Michael Gartenschläger: Dass ein Sonderkommando des MfS ihn 1976 bei dem Versuch, eine der Selbstschussanlagen an der Innerdeutschen Grenze abzumontieren, erschoss, war keinesfalls „mysteriös“, sondern konnte klar DDR-Organen zugeordnet werden und erregte weithin Aufsehen in der westdeutschen Presse. Auch die im Buch geschilderten Fälle derer, die die MfS-Untersuchungshaft und anschließende Strafhaft dauerhaft traumatisierte und die daraufhin Suizid begingen, sind in jedem Einzelfall grausame und bittere menschliche Schicksale, aber keine direkten Mordopfer des MfS im Sinne des Buchtitels.
Mordversuch mit Thallium
Die Fälle, die in das selbst umrissene Muster passen, stammen weitgehend aus den 1970erund 1980er-Jahren, einige auch aus den 1990er-Jahren. Es wäre sinnvoll gewesen, die Biographie des Fluchthelfers Wolfgang Welsch ausführlicher zu beleuchten, da sein Fall als exemplarisch angesehen werden kann und die Rolle des MfS gut dokumentiert ist: Dreimal versuchte die Staatssicherheit, Welsch heimtückisch zu ermorden – einmal mit der radioaktiven Substanz Thallium, die ihm ein Inoffizieller Mitarbeiter ins Essen mischte, einmal mittels eines Sprengsatzes und einmal mit einer Schusswaffe – dreimal war es Zufällen zu verdanken, dass Welsch überlebte. Die Details der Planung und Ausführung der Mordversuche konnte er später seinen Stasi-Akten entnehmen. Um solche und ähnlich gelagerte Fälle geht es Klier hauptsächlich: „Die Stasi sucht(e) nach Möglichkeiten, widerständigen Staatsbürgern das Leben extrem zu erschweren oder dieses gar zu beenden, ohne dass ihre Offiziere als mordende Verursacher erkennbar sind“ (Seite 243).
Mysteriöse Unfälle
Die Liste der Fälle, auf die dies zutreffen könnte, da ein Interesse des MfS am Tod der Betroffenen plausibel erscheint, ist lang. Dies betrifft etwa den Fußballer Lutz Eigendorf, der 1979 nach einem Freundschaftsspiel seines Clubs SC Dynamo Berlin, einer Sportvereinigung des Ministeriums des Innern und des MfS, gegen den 1. FC Kaiserlautern im Westen geblieben war, seine Fußballkarriere dort fortsetzte und 1983 durch einen Autounfall ums Leben kam. Kliers Vernehmer bestätigte ihr telefonisch, dass das MfS bei dem Autounfall nachgeholfen habe. Schwere Autounfälle, bei denen die konkreten Ursachen teils ungeklärt blieben, ereilten den Korrespondenten des Spiegel in der DDR, Ulrich Schwarz, sowie Pfarrer Rainer Eppelmann und zahlreiche weitere, aus MfS-Sicht unliebsame Persönlichkeiten aus dem kirchlichen und oppositionellen Spektrum in der DDR.
Um Mordversuche der Staatssicherheit könnte es sich auch bei den aus politischen Gründen inhaftierten Bodo Strehlow und André Baganz gehandelt haben, die wegen ihrer Fluchtversuche und der dramatischen Umstände in der Sonderhaftanstalt der Staatssicherheit Bautzen II eingesperrt waren. Beide überlebten. Für den Tod des jungen Jenaers Matthias Domaschk, der in der Untersuchungshaft der Stasi starb, legte ein Gutachten eines Gerichtsmediziners der Charité ein „Erdrosseln von hinten“ (Seite 194) nahe, was die offizielle Version eines Suizids angesichts der Umstände als fraglich erscheinen lässt.
Überaus skeptisch macht die zunehmend länger werdende Liste von DDR-Oppositionellen, die nach 1990 an teils seltenen Arten von Krebs erkrankten, darunter Jürgen Fuchs, Bärbel Bohley, Rudolf Bahro und zahlreiche weitere. Es wäre durchaus erkenntnisfördernd, die Häufung dieser Krankheitstypen in dieser Personengruppe mit denen von „DDR-Normalbürgern“ zu vergleichen, um die Hypothese einer Vergiftung beziehungsweise Kontamination statistisch zu untermauern.
Handbuch für Giftmorde?
Freya Klier zieht für ihre Argumentation die sogenannte „Toxdat-Studie“ des MfS heran. Generalleutnant Gerhard Neiber hatte sie Ende der 1980er-Jahre in Auftrag gegeben. „Die Giftakte“, schreibt Klier, „beschreibt exakt, wie über 200 toxische Substanzen so zu verabreichen sind, dass sie kaum mehr nachweisbar zum Tod führen“ (Seite 244). Das MfS könnte diese Studie laut Klier als eine Art Handbuch für seine Giftmorde verwendet haben. Tatsächlich trifft das auf die (allerdings mehrere Jahre zuvor durchgeführte) Thallium-Vergiftung von Wolfgang Welsch zu. In anderer Hinsicht überzeugt die Hypothese einer gezielten Vergiftungs- oder Verstrahlungsabsicht durch die Stasi jedoch nicht: Wenn das MfS solche Substanzen eingesetzt hätte, damit diese erst Jahre später zu (Krebs-)Erkrankung und Tod führen, nur damit das MfS nicht als direkter Verursacher in Erscheinung treten musste, widerspricht das der Handlungslogik der Geheimpolizei. Eine Vergiftung sollte einen politischen Gegner zeitnah aus dem Weg schaffen, da er aus Sicht der Staatssicherheit ein akutes Risiko für das SED-Regime darstellte oder weil er als Verräter seiner „gerechten Strafe“ zugeführt werden und sein Tod als abschreckendes Beispiel dienen sollte. Letzteres hatte Stasi-Chef Erich Mielke Verrätern wortwörtlich angedroht: „Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.“1
Auf Substanzen mit Langzeitwirkung zu setzen, wäre kaum zielführend gewesen. Als Motiv bleibt dann nur die reine Mordlust, „aus purer Freude“ (Seite 290). Plausibler erscheint der Erklärungsvorschlag des Rezensenten Hermann Wentker:2 Das MfS markierte Oppositionelle mit radioaktiven Substanzen, um sie und ihr Umfeld besser identifizieren und unter Kontrolle halten zu können. Ein solcher Plan ist in den Stasi-Akten von Jürgen Fuchs überliefert, aus denen Klier zitiert: „Installation einer radioaktiven Quelle im Keller unter den Glasziegeln des Hauseingangs“ (Seite 268). Dass gravierende gesundheitliche Langzeitwirkungen bei Anwendung dieser Methode billigend in Kauf genommen wurden, passt ins Bild.
Die Nutzung von Giften und radioaktiven Substanzen, die binnen weniger Stunden oder Tage tödlich wirken, ließ sich in jüngerer Zeit am Beispiel der russischen Überläufer Alexander Litwinenko und Sergej Skripal sowie des Oppositionellen Alexej Nawalny beobachten. Ihnen widmet Klier abschließend ein eigenes Kapitel, was die Aktualität des Themas und seiner historischen Perspektive unterstreicht. Auch in diesen Fällen war die klare Botschaft, dass es sich um Vergeltungsaktionen handelte und sich „Verräter“ nirgendwo sicher fühlen sollen. Wer dahintersteckte, musste jedem sofort klar sein, denn wer hat schon Zugang zu dem Nervenkampfstoff Nowitschok?
Freya Kliers lesenswertes Buch ist damit zugleich eine Warnung davor, die Entschlossenheit diktatorischer und autokratischer Systeme zum skrupellosen Einsatz tödlicher Instrumente gegen seine Gegner zu unterschätzen – einerlei, ob in der Vergangenheit oder der Gegenwart.
Jan Philipp Wölbern, geboren 1980 in Marburg, promovierter Historiker, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2014 bis 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), dort Leiter des Forschungsprojekts „Haftzwangsarbeit in der DDR“; 2016 bis 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Zeitgeschichte, seit 2020 Referent Osteuropa, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Dies bezog sich zwar auf Überläufer aus den Reihen des MfS, kann aber für alle gelten, die das MfS als „Verräter“ am Sozialismus betrachtete.
2 Hermann Wentker: „Sie schreckten vor nichts zurück“, Rezension, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. November 2021, www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/anschlaege-auf-ddr-oppositionelle-fuer-immer-zum-schweigengebracht-17646978-p2.html [letzter Zugriff: 24.01.2022].