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Kann die „gute alte katholische Soziallehre“ noch mitreden?

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Aktuell haben wir es mit einer multiplen Krisenlage zu tun. Wir leben in einem Wirtschaftssystem, das auf unaufhörliches Wachstum angelegt ist und dabei von Finanzmarktkrise zu Finanzmarktkrise taumelt. Die ökologischen Ressourcen der Welt sind weitgehend verbraucht, und die Erderwärmung hat auch in unseren Breitengraden gefährliche Ausmaße erreicht. Wir sind mit globalen Pandemien, mit einer Vielzahl von Kriegen und in deren Folge mit erheblichen Migrationsproblemen konfrontiert. Zudem wird unsere Republik von massiven sozialen Spaltungen und einer grassierenden Demokratieverachtung bedroht, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer bisher ungekannten Weise gefährdet.

Kein Wunder, dass immer mehr Menschen von Politik und Gesellschaft nichts mehr erwarten und sich in einer resignativen Gleichgültigkeit einrichten, die nur noch versucht, irgendwie durchzukommen. Wenn sich immer größere Teile der jungen Generation fragen, ob sie noch verantworten können, Kinder in diese Welt zu setzen, und wenn sie unsicher sind, ob sie im Alter noch die Miete und die Lebensmittel bezahlen können, nachdem weder private Altersvorsorge noch die gesetzliche Rente eine „Lebensstandardsicherung“ in Aussicht stellen, dann benötigen wir dringend so etwas wie eine neue soziale Vision für ein zukunftsfähiges, auf Menschenwürde und Gerechtigkeit gründendes Zusammenleben; und zwar auf nationaler wie auf globaler Ebene.

Kann in dieser Situation die „gute alte katholische Soziallehre“ noch irgendwie mitreden? Spontan würde man sagen: Nein, sie ist bedeutungslos geworden. Zwar hat sie in früheren Zeiten wesentlich zur Etablierung des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells beigetragen; gegenwärtig spielt sie allerdings keine Rolle mehr. Und doch hätte sie auch heute noch Einiges anzubieten, wenn es um Perspektiven einer lebenswerten Gesellschaft geht, die die unbedingte Personwürde eines jeden Menschen ebenso in den Blick nimmt wie die Verantwortung von Staat und Gesellschaft für das nationale und globale Gemeinwohl, für Frieden, Gerechtigkeit und die „Bewahrung der Schöpfung“.

Das beginnt schon bei dem viel beschworenen „christlichen Menschenbild“. Der Mensch ist demnach nicht auf sich allein gestellt, nicht einfach seiner Eigenverantwortung und seinen oft prekär ausgeprägten individuellen Fähigkeiten ausgeliefert. Er ist vielmehr durch und durch ein soziales Wesen. Er kann sich nur in permanenter Verbindung mit der Gesellschaft entfalten, von der er abhängig ist, in die er sich aber auch frei und selbstbestimmt einbringen will – und einbringen können muss, um seine Personalität voll zu entfalten.

 

Die katholische Entdeckung der Solidarität

 

Deshalb wird der Mensch in der katholischen Soziallehre auch nicht als ein zunächst für sich allein bestehendes Individuum beschrieben, das sich mit anderen nur über bewusst eingegangene Verträge im aufgeklärten Eigeninteresse „vergesellschaftet“. Er wird vielmehr beschrieben als eine Person, die elementar auf andere Personen, auf gesellschaftliche Zusammenhänge, aber auch auf Transzendenz und religiöse Offenheit hin angelegt ist. Dieses Menschenbild steht in einer erheblichen Distanz zu gängigen anthropologischen Grundannahmen, wie sie etwa in der liberalen Ökonomie gepflegt werden.

Noch wichtiger als das christliche Menschenbild ist das katholische Solidaritätsprinzip, das auch in kirchlichen Kreisen vielfach falsch verstanden wird. Es meint nicht den moralischen Appell an Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft. Solidarität (solide = dicht, fest, massiv) meint vielmehr die soziologische Tatsache, dass wir im gesellschaftlichen Leben auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden und voneinander abhängig sind; dass niemand in der Lage ist, nur aus eigener Kraft seinen Weg zu gehen. Solidarität verweist darauf, dass wir alle, ob wir wollen oder nicht, „in einem Boot sitzen“, auch wenn einige auf dem Sonnendeck liegen, während andere im Maschinenraum schuften. Und auch wenn es auf dem gemeinsamen Schiff Streit und Konflikte ohne Ende gibt, sieht doch jeder ein, dass es für ihn trotz allem besser ist, an Bord zu bleiben, statt den Versuch zu unternehmen, auf einem der schwankenden Rettungsboote allein und eigenverantwortlich der stürmischen See zu trotzen.

Die katholische Entdeckung der Solidarität verdankt sich in hohem Maße den Einsichten der französischen Solidaritätssoziologie, die in der zunehmenden sozialen Dichte und der hohen funktionalen Differenzierung der Industriegesellschaft die eigentliche Geburtsstunde der sozialen De-facto-Solidarität sah – verstanden als unentrinnbare wechselseitige Abhängigkeit, der die Einzelnen zuallererst ihre hohen Grade an persönlicher Entfaltungsfreiheit verdanken.

 

Individuelle Freiheit und soziale Solidarität

 

So fragte etwa Émile Durkheim, der Begründer der französischen Universitätssoziologie, in seiner berühmten Studie über die soziale Arbeitsteilung aus dem Jahr 1896, wie es angehe, dass die modernen Gesellschaften ihre Mitglieder „zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer“, das heißt gleichzeitig ebenso freier und individueller wie abhängiger und verstrickter mache. Er sah die Antwort in der Arbeitsteilung, in deren Folge sich jeder in hohem Maße auf seine persönlichen Interessen und Fähigkeiten konzentrieren kann, während ihm für seine verschiedenen Lebensbedürfnisse die zahlreichen Angebote der arbeitsteilig ausdifferenzierten Gesellschaft zur Verfügung stehen. Von daher entwickeln sich – einer weitverbreiteten Fehlwahrnehmung des liberalen Denkens zum Trotz – Freiheit und Abhängigkeit keineswegs in Konkurrenz zueinander. Vielmehr wachsen beide im Gleichschritt. Denn je mehr ich in die Abhängigkeitssolidaritäten einer komplexen Massengesellschaft eingebunden bin, desto größere Chancen habe ich, mich in meiner Persönlichkeit selbstbestimmt zu entfalten und beruflich wie biografisch nach eigenen Wegen zu suchen.

Individuelle Freiheit und soziale Solidarität bedingen sich also gegenseitig. Und dementsprechend ist jeder aufgefordert, sich nicht nur um sich selbst, sondern auch um die sozialen Solidaritäten zu kümmern, denen er seine eigenen Freiheitsgrade verdankt, auch wenn – oder gerade weil – sich die positiven und negativen Auswirkungen der sozialen Solidaritäten bei den Individuen höchst unterschiedlich gestalten. Schließlich haben einige „von Haus aus“ sehr gute Chancen, von den sozialen Solidaritäten ihrer Stadt und ihres Staates überproportional zu profitieren, während sich andere – ebenfalls „von Haus aus“ – anstrengen können, wie sie wollen, und von den sozialen Solidaritäten doch immer überproportional benachteiligt werden.

 

Nicht von oben herab

 

Das soziologische Solidaritätsprinzip erscheint im sozialkatholischen Denken allerdings nicht ohne sein normatives Pendant, das Subsidiaritätsprinzip. Dieses formuliert eine zentrale Richtlinie für die Frage, wie der politische Umgang mit den sozialen Solidaritäten am besten organisiert werden sollte. Bekanntlich formuliert es ein kategorisches Doppelgebot: Die „größeren sozialen Gemeinschaften“ sollen den „kleineren Gemeinschaften“ bis hin zum Individuum permanent und kontinuierlich eine angemessene „Hilfe zur Selbsthilfe“ bieten. Sie müssen jedoch darauf achten, dass sie die Personwürde, die Fähigkeiten und Kompetenzen, die Entfaltungschancen und Selbsthilfepotenziale der „kleineren Gemeinschaften“ nicht schwächen und behindern. Deshalb dürfen sie die ureigenen Angelegenheiten dieser „Kleinen“ nicht einfach in die eigene Regie nehmen und „von oben herab“ regeln. Das katholische Subsidiaritätsprinzip richtet sich dabei gegen eine liberale Lesart von „Hilfe als Nothilfe“, die erst dann auf den Plan tritt, wenn echte Notsituationen entstanden sind. Es richtet sich aber auch gegen einen obrigkeitlichen Etatismus, der alle sozialen Aufgaben, jede Verantwortung für die soziale Sicherheit einzig an Behörden und Apparate des Staates delegieren will. Ein solcher „Versorgungsstaat“, der mittels Bedürftigkeitsprüfungen steuerfinanzierte Notrationen an bedürftige Staatsbürger verteilt, ist von der katholischen Sozialtradition stets verurteilt worden. Ihr geht es stattdessen um beitragsfinanzierte und selbstverwaltete Sozialversicherungen, in denen sich die Leistungsempfänger nicht als zu Dank verpflichtete Almosenempfänger empfinden müssen, sondern als selbstbewusste Subjekte einer von allen Sozialversicherten gemeinsam organisierten Form solidarischer Sicherung gegen die Standardrisiken des industriegesellschaftlichen Lebens.

Die „gute alte katholische Soziallehre“ hat in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe an wertvollen Theorieelementen für eine gute und gerechte Gesellschaft entwickelt, die auch heute noch einen spezifischen Charme entfalten können. So hat sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine differenzierte Theorie des modernen Kapitalismus entwickelt und sich ausdrücklich zur Legitimität der „kapitalistischen Wirtschaftsweise“, zu einer kapitalbasierten, auf Technik und Industrie, auf Großinvestitionen und eine kreative Unternehmerschaft, auf Marktmechanismus und Gewinnorientierung beruhenden Wirtschaftsweise bekannt, ohne die Wohlstand und Wachstum nicht zu haben waren. Zugleich hat sie die sozialen Ungerechtigkeiten der „kapitalistischen Klassengesellschaft“ jedoch scharf verurteilt, in der die von Kapital und Arbeit gemeinsam erwirtschafteten Gewinne scheinbar naturgegeben nur auf der Kapitalseite anfallen. Sie hat vor allem immer wieder gefordert, dass die großen Investitionsentscheidungen des wirtschaftlichen Lebens nicht einzig und allein von einer kleinen Gruppe großer Kapitaleigner und deren privaten Profitinteressen bestimmt werden dürfen. Eine moralisierende Kapitalismuskritik, die sich vor allem über die echte oder vermeintliche „Gier“ mancher Wirtschaftsakteure aufregt sowie Markt und Wettbewerb pauschal verurteilt, war ihre Sache nie, auch wenn dies heute oft vergessen wird.

Auch in der Frage des legitimen Privateigentums hätte die katholische Soziallehre gerade heute einiges zu sagen. Neben der Individualfunktion des Eigentums, ohne die der Eigenstand, die Unabhängigkeit des Einzelnen nicht zu sichern ist – und die sich kaum gewährleisten lässt, wenn man ohne Kündigungsschutz „abhängig beschäftigt“ ist und über keine eigentumsähnlichen Rentenansprüche an eine Sozialversicherung verfügt –, spielt hier die Sozialfunktion eine entscheidende Rolle. Ohne die katholische Sozialtradition wären die Artikel 14 (Eigentum und Erbrecht) und 15 (Enteignung und Vergesellschaftung) nicht in das Grundgesetz aufgenommen worden. Und dass heute in der Frage, ob sich in den großen Ballungszentren einzig mit privaten Eigentumsrechten ein hinreichend breiter und bezahlbarer Wohnraumbestand gewährleisten lässt, engagiert über die Instrumente von Enteignung und Vergesellschaftung gestritten wird, liegt ganz auf der Linie der katholischen Soziallehre. Sie hat seit jeher dazu aufgerufen, die Denkverbote zu überwinden, denen wir uns angesichts der Hegemonie des privatrechtlichen Eigentumsabsolutismus des bürgerlichen Rechts jahrzehntelang unterworfen haben.

Und dass wir mit Blick auf die notwendige ökologisch-soziale Transformation der Lebens- und Wirtschaftsweisen des „Globalen Nordens“ gut beraten sind, wieder verstärkt in die Schule der Religionen zu gehen, wird heute immer offensichtlicher. Achtsamkeit für die Natur und ihre begrenzten Ressourcen, Bescheidenheit im Blick auf die Kultivierung eigener Bedürfnisse, eine moralische Absage an das verbrauchte Wirtschaftsmodell einer permanent wachsenden materiellen Gütermenge und eine neue Besinnung auf Gemeinschaft, gemeinsame Verantwortung und „Bewahrung der Schöpfung“ – dies alles gehört bekanntlich zu den moralischen Basics der großen Religionsgemeinschaften.

Während aber allgemein das Bewusstsein wächst, dass die Religionen für diese „ökologisch-sozial-moralische“ Fundamentalaufgabe der Menschheit unverzichtbar sind, scheint die katholische Soziallehre mausetot zu sein. Und niemand trauert ihr nach. Vielleicht lässt sie sich dennoch wiederbeleben, wenn sich genügend Menschen finden, die sich an die Arbeit machen, ihre verborgenen Schätze zu heben und neu in die gesellschaftlichen Debatten einzubringen. Verdient hätte sie es; und die politisch-moralischen Selbstverständigungsdebatten der Republik könnten davon nur profitieren.

 

Hermann-Josef Große Kracht, geboren 1962 in Glandorf, katholischer Theologe, seit 2010 Akademischer Oberrat und seit 2013 außerplanmäßiger Professor am Institut für Theologie und Sozialethik, Technische Universität Darmstadt.

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