Die Weltwirtschaft durchläuft zurzeit einen bemerkenswerten Wandel, der die unternehmerischen Möglichkeiten in den nächsten Jahren dramatisch beeinflussen könnte. Bisher gültige Glaubenssätze wurden auf den Kopf gestellt, als das Vertrauen der Investoren in die Schwellenmärkte plötzlich schwand, Europa aufgrund einer möglichen Erholung wieder attraktiver erschien und sich in den Vereinigten Staaten eine industrielle Wiedergeburt ankündigte.
Die 800 Millionen Menschen, die in den Vereinigten Staaten und Europa leben, machen zwar nur etwa zwölf Prozent der Weltbevölkerung aus, aber sie sind für beinahe die Hälfte der gesamten globalen Wirtschaftstätigkeit verantwortlich. Außerdem verfügen die Nationen des Westens über mehr als achtzig Prozent der globalen Militärmacht und halten auch heute noch bei praktisch jedem Kennwert für Soft Power die Spitzenstellung. Trotz der außerordentlichen Fortschritte der Schwellenländer stehen Europa und die Vereinigten Staaten immer noch an vorderster Front bei innovativen Technologien, audiovisueller Unterhaltung und höherer Bildung – von den 100 Spitzenuniversitäten der Welt sind drei Viertel in Europa oder Amerika beheimatet. Die Fähigkeit der Demokratie des freien Marktes, sich selbst zu reformieren, ist noch nie klarer zutage getreten als bei der aktuellen Erholung von der finanziellen Kernschmelze im Jahre 2008, die beinahe in eine zweite Weltwirtschaftskrise mündete. Zwar ist die Arbeitslosigkeit in allen Ländern des Westens immer noch ein Problem, aber in vielen Sektoren wurde die Krise dazu genutzt, Kosten zu senken, die Qualität der Produkte zu verbessern, wirtschaftlicher zu produzieren und ganz allgemein sehr viel wettbewerbsfähiger zu werden.
Zusätzlich hat die Fracking-Revolution die Hoffnung geweckt, die Vereinigten Staaten könnten eher früher als später im Bereich der Energieversorgung autark werden – eine Hoffnung, die viele ausländische Firmen dazu veranlasst hat, ihre Investitionspläne für Nordamerika zu überdenken und ihre Tätigkeit dort auszuweiten. In Deutschland, wo die Energiepreise viermal so hoch sind wie in den Vereinigten Staaten, haben große Unternehmen wie der Mischkonzern Siemens und der Chemie-Riese BASF ihre Kapitalinvestitionen in den Vereinigten Staaten aufgestockt, weil sie der Ansicht sind, dass sie nur dann global wettbewerbsfähig bleiben können, wenn sie Tätigkeiten in Länder auslagern, in denen die Energiekosten niedrig sind.
Primat des Westens
Die vielleicht vielversprechendste Initiative zur Revitalisierung der westlichen Führung der Weltwirtschaft ist der Versuch, eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) zwischen den USA und der Europäischen Union auszuhandeln. Die Verhandlungen dazu, die im Juli 2013 begannen, sollen die verbleibenden Barrieren fast ausnahmslos einreißen und die zwei bedeutendsten Wirtschaftsblöcke der Welt zu einer gemeinsamen Wirtschaft verschweißen. Die Motive, die die Regierungschefs der Vereinigten Staaten und der aus 28 Nationen bestehenden Europäischen Union zu einem derart kühnen und ehrgeizigen Schritt antreiben, haben gleichermaßen politischen wie ökonomischen Charakter. Die Wirtschaftskrise von 2008 und die lauter werdenden Forderungen der Schwellenländer nach mehr Mitsprache in der Weltpolitik überzeugten die Regierenden auf beiden Seiten des Atlantiks davon, dass dringend etwas unternommen werden müsse, um das Primat der westlichen Werte zu sichern. Sie waren sich bewusst, dass der gemeinschaftliche Einsatz ihrer Energien und Ressourcen für die westliche Staatengemeinschaft der einzige Weg ist, ihren Führungsanspruch zu festigen und das öffentliche Vertrauen in freie Märkte, offene Gesellschaften und den Rechtsstaat wiederzubeleben – im Gegensatz zu den geschlossenen und gelenkten Systemen, die staatlich kontrollierte Volkswirtschaften in anderen Teilen der Welt bevorzugen.
Des Weiteren waren sich die Vereinigten Staaten und Europa darüber im Klaren, dass das lähmende Patt bei den multilateralen Handelsgesprächen und insbesondere bei der Doha-Runde die internationale Handelsordnung zu gefährden begann, wodurch wiederum weltweit das Vertrauen der Wirtschaft geschädigt werden könnte – und das in Zeiten einer fragilen und unsicheren Erholung. In getrennten Kampagnen setzten sich die USA und die Europäische Union das Ziel, bilaterale und regionale Handelsabsprachen mit verschiedenen Partnern abzuschließen. Im Rahmen einer „Europa global“ genannten Strategie versuchte die Europäische Union, privilegierte Vereinbarungen mit Japan, Südkorea, Kanada, Indien, Mittelamerika und Südostasien abzuschließen. Als Teil der „Pivot-to-Asia“-Strategie von Präsident Barack Obama begannen die Vereinigten Staaten ihrerseits Gespräche über eine transpazifische Partnerschaft mit fast zwanzig Ländern in Asien und der pazifischen Region, China ausgenommen. In Europa breitete sich die Befürchtung aus, das atlantische Bündnis könne durch eine neue amerikanische Doktrin ersetzt werden, die strategische Interessen in Asien in den Vordergrund stellt. Diese wachsende Besorgnis half dabei, die politische Unterstützung aller 28 Staaten der Europäischen Union für einen umfassenden und ehrgeizigen Versuch zu mobilisieren, eine weitreichende Abmachung abzuschließen, die auf eine effektive Fusion der europäischen und der amerikanischen Volkswirtschaften hinauslief. Die Regierung Obama zögerte fast zwei Jahre lang. Sie bestand auf einer gründlichen Überprüfung durch eine hochrangige transatlantische Arbeitsgruppe, bis sie sich davon überzeugen ließ, dass der politische Wille in Europa und die Synergie wirtschaftlicher Interessen für einen Abschluss vor Ende 2014 ausreichten.
Dimensionen des transatlantischen Handelns
In der jüngsten Wirtschaftskrise trat die Bedeutung der atlantischen Beziehung besonders stark hervor. Die Dimensionen der transatlantischen Handels- und Investitionsbeziehungen stellen bereits jetzt alle anderen Handels- und Investitionspartnerschaften weltweit in den Schatten. Die Existenz von mehr als dreizehn Millionen Amerikanern und Europäern hängt direkt von Arbeitsplätzen ab, die durch die Handels- und Investitionsströme über den Atlantik geschaffen wurden. Das Volumen des Handels zwischen Europa und Amerika beläuft sich derzeit auf 2,7 Milliarden Dollar pro Tag – fast eine Billion Dollar pro Jahr –, und die Direktinvestitionen belaufen sich auf fast vier Billionen Dollar. Die Hälfte aller amerikanischen Auslandsdirektinvestitionen weltweit ist für Europa bestimmt, und die Vereinigten Staaten erhalten sechzig Prozent aller europäischen Auslandsinvestitionen. Dieses über Jahrzehnte hinweg entstandene dichte Netzwerk von Wirtschaftsbeziehungen überschreitet heutzutage auch Staatsgrenzen; so arbeiten zum Beispiel mehr als 60.000 Amerikaner für den Siemens-Konzern, der sich in vielerlei Hinsicht gleichermaßen als amerikanisch und deutsch versteht. General Electric wiederum beschäftigt Zehntausende Europäer und stellt seinen amerikanischen Ursprung kaum noch heraus. Selbst die Erzrivalen Boeing und Airbus beziehen sich nicht mehr auf ihre nationale Identität, weil ihre Belegschaften so international zusammengesetzt sind. Der transatlantische Wirtschaftspakt, der jetzt ausgehandelt wird, würde die ökonomischen Grenzen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa weiter verschwimmen lassen.
Die Begeisterung, mit der viele amerikanische und europäische Wirtschaftsführer die Aussicht auf ein transatlantisches Handelsabkommen begrüßen, entspricht dem Eifer, mit dem viele Regierungen diesen Gedanken unterstützen, weil ihnen eine solche Abmachung als die beste Möglichkeit erscheint, auf beiden Seiten des Atlantiks mehr Arbeitsplätze und Wachstum zu schaffen. Selbst prominente Anhänger der Demokratischen Partei, wie die amerikanischen Gewerkschaften und die Umweltbewegung, die Handelsvereinbarungen als „Wettrennen zum Nullpunkt“ im Hinblick auf Sicherheits- und Umweltstandards oft mit Misstrauen betrachten, haben ihre Unterstützung für die Abmachung vorsichtig angekündigt – sie hoffen, dass ein Kompromiss die Vereinigten Staaten zwingen würde, ihre Normen zu verschärfen und sich den strengeren europäischen Richtlinien anzuschließen. Die anstehende Abmachung würde darüber hinaus das Regelwerk der TTIP als Weltstandard etablieren und andere Nationen dazu bewegen, sich nach den amerikanischen und europäischen Regeln zu richten. Wie viele Parlamentsmitglieder in Europa haben auch führende Kongressabgeordnete in den USA ihre Bedenken beiseitegeschoben, dass das Freihandelsabkommen sie Wähler kosten könnte, und stattdessen ihre Unterstützung für einen transatlantischen Pakt zum Ausdruck gebracht.
Es geht um nicht weniger als das Schicksal der westlichen Führungsposition. Die größte Aufgabe dabei wird es sein, dafür zu sorgen, dass die Politiker auch weiterhin ihr Augenmerk auf den großen Entwurf richten und es nicht zulassen, dass eine Abmachung, die von so vitaler Bedeutung für die strategischen Interessen Europas und der Vereinigten Staaten ist, durch engstirnige Streitereien unterminiert wird. Die atlantische Partnerschaft hat es geschafft, die Einheit des Westens zu erhalten und den Kalten Krieg zu gewinnen, ohne dass dabei ein Schuss abgefeuert wurde. Die Herausforderung, der sich der Westen heute gegenübersieht, besteht darin, seiner politischen Mission und seiner wirtschaftlichen Führungsrolle neues Leben einzuhauchen, damit eine neue Generation im In- und Ausland in Frieden und Wohlstand leben kann.
William Drozdiak, geboren 1949 in Berwyn/Illinois (USA), Vorsitzender des Amerikanischen Rates für Deutschland.
Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim.