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Die deutsch­amerikanischen Beziehungen vor neuen strategischen Fragen

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Im Juni 1947 erlebten die 15.000 Gäste der traditionellen Abschlussfeier der Harvard University eine Überraschung: Der amerikanische Außenminister George C. Marshall beließ es in seiner Rede vor den Absolventen und Alumni nicht bei guten Wünschen. Stattdessen skizzierte er die Grundzüge eines revolutionären Plans: wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen für die kriegsgebeutelten Länder Europas, auch für das besiegte Deutschland. Ohne die Rückkehr zu normalen wirtschaftlichen Verhältnissen könne es weder politische Stabilität noch dauerhaften Frieden geben. Der Plan sah in amerikanischer Unterstützung eine langfristige strategische Investition, um Europa vor dem Kommunismus zu bewahren, es langfristig an Amerika zu binden und gegen die Sowjetunion in Stellung zu bringen. Marshall sollte Recht behalten: Die Investition zahlte sich aus.

Der Marshall-Plan legte den Grundstein für das künftige deutsch-amerikanische Verhältnis. Nur ein Jahr später retteten die Vereinigten Staaten im Rahmen der Berliner Luftbrücke Hunderttausende Westberliner vor dem sowjetischen Embargo. Kurze Zeit später wurde das Grundgesetz unterzeichnet, dessen siebzigjähriges Jubiläum wir in diesem Jahr feiern. Die Vereinigten Staaten betrieben den Beitritt der jungen Republik zur NATO. Sie beförderten ihre Einbindung in die Anfänge der europäischen Integration und in die westliche Wertegemeinschaft. In Berlin beschworen US-Präsidenten von John F. Kennedy bis Ronald Reagan den Kampf für die Freiheit. Das klang nach Idealismus, war aber nichts anderes als die Antwort Amerikas auf die strategische Herausforderung durch die Sowjetunion. Amerika führte, Deutschland folgte.

Über die Jahrzehnte entstand ein engmaschiges Netz von Verbindungen über den Atlantik, das die deutsch-amerikanischen Beziehungen widerstandsfähig machte und macht. Emotionale Erinnerungen an historische Momente wie die Berliner Luftbrücke oder den Fall der Berliner Mauer prägen sie bis heute. Diese Erinnerungen haben zu einem ausgesprochen positiven Deutschlandbild in den Vereinigten Staaten beigetragen. Die Freundschaft zwischen Deutschen und Amerikanern wurde zur Selbstverständlichkeit.

Neue geopolitische Realitäten

Heute, dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, wird dies zunehmend infrage gestellt. Der Atlantik sei breiter geworden, heißt es auf beiden Seiten. Als jüngster Beleg wird die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz herangezogen. In der Tat steht das deutsch-amerikanische Verhältnis unter Druck. Der Grund dafür ist jedoch nicht, auch wenn das häufig suggeriert wird, dass wir in einer Reihe von Fragen nicht übereinstimmen. Meinungsverschiedenheiten hat es immer gegeben, Stichwort Irak-Krieg und „altes Europa“. Viele amerikanische Positionen, mit denen wir Schwierigkeiten haben, werden von Republikanern und Demokraten geteilt. Sie sind also keine Eintagsfliegen. Wir sollten deshalb der Versuchung widerstehen, außenpolitische Haltungen zu personalisieren. Meinungsverschiedenheiten existieren, weil es Gründe für unterschiedliche Interessen gibt. Sie liegen nicht an einer Personalkonstellation. Sie haben auch nicht zwingend strukturelle Folgen.

Der Druck ist vielmehr auf zwei große Trends zurückzuführen. Der erste ist eine tektonische Verschiebung der geopolitischen Landschaft, ausgelöst durch Chinas rasanten Aufstieg und Russlands Rückkehr als revisionistische Macht. Großmachtrivalitäten sind zurück. Der zweite Trend betrifft den Blick der Vereinigten Staaten auf die globale politische Architektur. Viele in der Administration betrachten sie als überholt und als nicht hinnehmbare Einschränkung amerikanischer Macht. Der Ruf nach Reformen der globalen Architektur ist nicht falsch: Sie ist zweifellos reformbedürftig. Wer aber die Abkehr von internationalen Institutionen betreibt, erstickt praktisch jeden Anreiz zu deren Reform oder Erneuerung. Insoweit verstärken beide Trends einander.

Der erste Trend, der rasante Aufstieg Chinas, das als Großmacht in Asien in offene Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten tritt, wird deren geografischen Fokus verschieben. Asien, nicht Europa, gilt heute die Hauptaufmerksamkeit. Damit stellen sich die Vereinigten Staaten auf eine neue strategische Herausforderung ein – so, wie es George C. Marshall und seine Unterstützer 1947 mit Blick auf die Sowjetunion taten. Nur stehen Deutschland und Europa dieses Mal nicht im Zentrum, sondern an der Seitenlinie. Wir werden weiterhin auf die Vereinigten Staaten in der äußeren und inneren Sicherheit angewiesen sein. Aber wir werden den sich auf Asien richtenden Fokus unvermeidlich in Europa austarieren müssen. Dies können wir nicht Dritten überlassen. Wir müssen selbst mehr Verantwortung für unsere Sicherheit übernehmen – nicht weil die Vereinigten Staaten es verlangen, sondern weil es deutschen Interessen dient.

Europäische Union als strategischer Partner

Häufig wird die Europäische Union in den Vereinigten Staaten als Projekt der Vergangenheit abgetan. Die Verbundenheit mit der Europäischen Union, auch mit Deutschland, wird oft historisch hergeleitet. Selten wird von ihr als Zukunftsstrategie gesprochen. Dies hat verschiedene Gründe. Die Europäische Union wird einerseits als schwerfälliges Subjekt ohne hard power wahrgenommen. Häufig hören wir Kritik daran, dass das Konsensprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik dem schwächsten Glied in der Kette Verhinderungsmacht gebe (und damit dem US-Werben für härtere Positionen Grenzen auferlege). Und schließlich ist die Europäische Union in Handelsfragen politisch auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten – ein gleichrangiger Partner in der Auseinandersetzung um die bilateralen Handelsbeziehungen der Zukunft. Wir müssen die kritisch-changierende Wahrnehmung offensiv und selbstbewusst angehen.

Die Europäische Union hat viel zu bieten. Es liegt auch an uns, dies zu demonstrieren und den Vereinigten Staaten den geopolitischen Nutzen einer geeinten und handlungsfähigen Europäischen Union aufzuzeigen, die ein strategisches asset auch für die Vereinigten Staaten sein kann. All das wird das transatlantische Bündnis auf die Probe, aber nicht infrage stellen. Denn es gründet seit Marshalls Rede im Juni 1947 natürlich auch auf gemeinsamen Interessen. Damals war es die Bedrohung durch die Sowjetunion, heute ist es der Umgang mit neuen strategischen Herausforderungen. Lange Zeit genügte es, sich auf amerikanische Führung zu verlassen. Das hat sich geändert. Wir müssen unser Schicksal heute tatkräftiger selbst in die Hand nehmen. Am Ende wird dies auch das transatlantische Bündnis stärken.

Emily Haber, geboren 1956 in Bonn, Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinigten Staaten von Amerika.

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