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Gender­-Mainstreaming und ein totales Inklusionsbegehren führen zum Orientierungsverlust der Schulen

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Die Schule leistet für die nachwachsende Generation Beträchtliches: Sie ermöglicht dem Einzelnen den Erwerb der Kulturtechniken, vermittelt ein über die Generationen angesammeltes Wissen, versorgt mit neuen Erkenntnissen, fördert kritisches Denken und intellektuelle Auseinandersetzung. Die Schule übt gesellschaftlich notwendige Verhaltensweisen ein. Sie benennt und korrigiert, was nicht akzeptabel und schädlich ist, und sie fördert das Wünschenswerte. Zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört es, gesellschaftlich leitende und verpflichtende Werte weiterzugeben. Damit leistet sie einen wesentlichen Beitrag zur Enkulturation der nachfolgenden Generation und sichert den gesellschaftlichen Fortbestand. Auch das einzelne Kind profitiert nachhaltig: Es erwirbt Wissen und Fähigkeiten, kann seine Stellung in der Welt bedenken und eine eigene Position entwickeln, die um die Errungenschaften der Vergangenheit weiß und sich Neuem öffnet. Gerade für Kinder, die aus wenig privilegierten Verhältnissen stammen, ist die Schule ein riesiger Gewinn. Sie öffnet Türen, die sonst verschlossen bleiben.

Der hohe Wert der Schule wird oftmals nicht ausreichend gewürdigt. Strukturell ist sie in das Gesellschaftssystem eingebunden, sie hat einen vorgegebenen Auftrag zu erfüllen. Die Schule muss auf die jeweiligen Zeitumstände reagieren, sich weiterentwickeln und verbessern, darf jedoch das Fundament, auf dem sie steht, nicht verlassen. Das geschieht leider dann, wenn sie als Vorkämpferin fundamentaler gesellschaftlicher Umgestaltung in Beschlag genommen wird und sich illusionäre Erwartungen mit dem verknüpfen, was Schule leisten kann und soll. Die Gefahr einer solchen Fehlentwicklung besteht seit Langem. Gegenwärtig tritt sie an zwei Punkten besonders hervor: den pädagogischen Folgen des Gender-Mainstreamings und eines totalen Inklusionsbegehrens, das die Differenz zwischen Behinderung und Nichtbehinderung auflösen will.

Das Gender-Mainstreaming hat in der deutschen und europäischen Politik erheblichen Einfluss gewonnen. Dabei ist oftmals gar nicht klar, was sich hinter diesem schillernden Begriff verbirgt. Geht es um die Interessen der Frauenbewegung, die jetzt unter einem anderen Namen auftritt? Oder ist – unter der Leitkategorie der Diversität – längst etwas ganz anderes gemeint? Vieles spricht für Letzteres. Inzwischen wird unter dem Namen Gender eine grundlegende anthropologische Neuorientierung angestrebt. Die Polarität von Mann und Frau soll aufgehoben werden, als eine historisch überkommene, emanzipationsfeindliche Kategorie, geleitet von der realitätsfernen Annahme, jeder Mensch sei der Schöpfer seiner selbst. Er könne sich nach seinem Willen konstruieren – als Mann oder Frau oder dazwischen – und auch seine sexuelle Ausrichtung frei wählen – heterosexuell, homosexuell, bisexuell oder irgendeine andere Form. Die bisherige Geschlechterordnung, die dem im Weg steht, wird entschieden infrage gestellt, und es wird im Sinne Judith Butlers zu einer „Geschlechterverwirrung“ aufgerufen – auch bei noch ganz kleinen Kindern. Das ausdrückliche Ziel ist es, dass die bisherige Ordnung gestört und zerstört wird.

 

Überschreitung von Intimitätsschranken

 

Diverse Materialien für den Vorschul- und Schulbereich folgen diesem Muster. Sie orientieren sich an dem einschlägigen Standardwerk Sexualpädagogik der Vielfalt (Elisabeth Tuider et al.). So kommt es vor, dass dreizehnjährige Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert werden, Praktiken wie Analsex als Theaterstück darzustellen. Fünfzehnjährige sollen einen „Puff für alle“ beziehungsweise ein „Freudenhaus der sexuellen Lebenslust“ bis ins Detail hinein gestalten, damit sie für „marginalisierte Lebensformen“ und „sexuelle Vorlieben“ sensibilisiert werden (Tuider et al.). Auch viele andere Materialien konfrontieren Kinder bereits in einem frühen Lebensalter mit Themen und Inhalten, die nicht altersadäquat sind; sie befremden, irritieren und überfordern. Intimitätsschranken werden überschritten, und es wird in das ganz Persönliche gedrungen.

In einigen Kindergärten wird inzwischen streng darauf geachtet, dass alle geschlechtsspezifischen Zuordnungen unterbleiben. Als ein Referenzpunkt dient der schwedische Kindergarten „egalia“, der als Modell einer freien Erziehung gilt. Dort werden Kinder nicht mehr mit ihrem Namen angesprochen, sondern geschlechtsneutral mit „hem“, als Freund. Materialien wie Bilderbücher, Lieder, Spiele und Spielzeuge, die auf Geschlechtsunterschiede verweisen, sind entfernt worden. Nur so könnten sich Kinder unbelastet entfalten, befreit von gesellschaftlichen Erwartungen, Konventionen und Zwängen.

Diese Grenzauflösungen reichen weit über die berechtigte Forderung nach Anerkennung unterschiedlicher Sexualpräferenzen und Lebensformen hinaus, die heute kaum noch umstritten ist. Es geht inzwischen um etwas anderes: das Streben nach Hegemonie, das Erringen von Macht, die im Namen einer vermeintlichen Aufklärung eingefordert wird, gestützt auf eine moralische Überlegenheit, die sich für unhinterfragbar hält. Unübersehbar ist die Gefahr, dass Heterosexualität und die klassische Familie in eine Randposition gedrängt werden. Bereits die Bezeichnung der Heterosexualität als „Zwangsheterosexualität“ sollte zu denken geben. Damit gerät jene Lebensform in Verruf, die von der großen Bevölkerungsmehrheit als stimmig und für sich passend erlebt wird. Zu einer weiteren Grenzauflösung kommt es im Rahmen der Inklusionsbewegung. Im Namen eines radikalen Inklusionsbestrebens soll ein neues Verständnis von Behinderung etabliert werden, das gravierende Folgen für Schule und Erziehung hat. „Behinderung gibt es nicht“, „behindert ist jeder“, so lauten die populären Formeln, die Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung schützen und aus einem (vermeintlichen) Opferstatus befreien wollen. Bereits das Benennen einer Behinderung sei ein destruktiver Akt, der Menschen beschäme, kränke und erniedrige. Sie würden dadurch in eine unerträgliche Sonderrolle gebracht. Ein personenbezogener sonderpädagogischer Förderbedarf, der auf spezifische Beeinträchtigungen verweist, wird deshalb infrage gestellt.

 

„Das Verschwinden des Menschen“

 

Behinderung soll künftig nur noch eine Heterogenitätsdimension unter anderen sein, wie Andreas Hinz, ein prominenter Inklusionspädagoge, fordert. Als weitere Heterogenitätsdimensionen gelten: unterschiedliche Fähigkeiten, Geschlechterrollen, ethnische und nationale Herkünfte, soziale Klassen und Milieus, Religionen und Weltanschauungen oder sexuelle Orientierungen. Die Folge dieser Umwidmung ist, dass Behinderung an persönlicher und sozialer Bedeutung verliert. Die wesentlichen Behinderungsquellen werden nicht mehr in der Person, sondern im Äußeren gesehen, in materiellen Barrieren und einer vorurteilsbehafteten Umwelt.

Das damit verbundene Versprechen ist weitreichend: Nunmehr könnten Menschen mit Behinderung, wenn man sie überhaupt noch so bezeichnen darf, authentisch als Person hervortreten und in ihrer Individualität anerkannt werden. Dies öffne die Tür zu wahrhaft humanen zwischenmenschlichen Beziehungen, die zuvor unmöglich gewesen seien.

Doch das ist eine große Illusion. In Wirklichkeit geht es um eine neue Form der Anpassung und Vereinnahmung, in die sich der Einzelne fügen soll. Er soll mit seiner Behinderung nicht mehr in Erscheinung treten, sich unsichtbar machen, so sein wie alle anderen und in der „Normalität der Verschiedenheit“ aufgehen. Markus Dederich spricht deshalb von einer Vernachlässigung des Individuums, von einem „Verschwinden der Menschen“ in der Inklusion.

Kinder mit Behinderung geraten dadurch in eine fatale Situation. Sie bedürfen einer intensiven Zuwendung, die sie umfassend in Augenschein nimmt, sowohl in ihren besonderen Schwierigkeiten und Defiziten als auch in ihren Stärken und Leistungen. Ohne sonderpädagogische Professionalität, ohne ein elaboriertes Begriffswerk ist dies schlichtweg unmöglich. Die Qualität der pädagogischen Arbeit sinkt, behinderte Kinder erhalten nicht mehr die Förderung, die sie dringend benötigen. Die Rede von den „besonderen Fähigkeiten“ und „Begabungen“, die die so entstandene Leerstelle füllen soll, ist ein hilfloser Versuch, über bestehende Differenzen hinwegzutäuschen.

 

Das Konstrukt des „schlechten Schülers“?

 

Mit der Ablehnung von Behinderungs- und Förderkategorien geht ein totales Inklusionsbestreben einher. Alle speziellen Institutionen, Sonderschulen und Sonderklassen sollen aufgelöst werden zugunsten einer „Schule für alle“, die auf jegliche institutionelle Differenzierung verzichtet. Alle Kinder werden dort gemeinsam unterrichtet, ohne jede Ausnahme, selbst bei schwersten Behinderungen. Dies sei die einzig humane Lösung, die es nur in einem Einheitsschulsystem geben könne. Dementsprechend wird das gegliederte deutsche Schulwesen in ein dunkles Licht gerückt, als ein „an Apartheid grenzendes Aussonderungssystem“, wie Theresia Degener es nennt, die ehemalige Vorsitzende des Ausschusses der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Damit verbindet sich eine höchst kritische Haltung gegenüber einer schulischen Leistungsbewertung, die sich an äußeren Maßstäben wie Bildungsstandards orientiert. Unterschiede zwischen Personen sollen möglichst wenig in Erscheinung treten. Die Person selbst wird zum entscheidenden Bewertungskriterium, ihre bedingungslose Anerkennung zum obersten Ziel. „Das Prinzip der grundlegenden humanen Anerkennung setzt das Konstrukt des ‚schlechten Schülers‘ im Bildungswesen außer Kraft“ und lässt „damit eine Quelle von Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit versiegen“ – so steht es in einem Gutachten, das Annedore Prengel für den Grundschulverband verfasst hat. Wer sich nicht daran hält, wer an Differenzen festhält, etwa in Notenform, begibt sich auf ein moralisch verwerfliches Terrain. Er macht sich schuldig, indem er zwischen Leistungsstarken und Leistungsschwächeren unterscheidet.

Eine Schule, die allgemeine Bildungsstandards aufgibt, verabschiedet sich jedoch von einem ihrer wichtigsten Aufträge: dem der gesellschaftlichen Reproduktion. Sie verfehlt ihre Enkulturationsfunktion; wenn individuelle Maßstäbe gesellschaftliche ersetzen, entsteht ein Orientierungsverlust; es bleibt unklar, wohin sozialisiert und wozu enkulturiert werden soll. Ebenso wenig darf sich die Schule von ihrer Allokationsfunktion lösen, der Vergabe unterschiedlich gewichteter Abschlüsse. Auch darin besteht eine gesellschaftliche Verpflichtung, der sie sich laut Mathias Brodkorb, von Oktober 2011 bis Oktober 2016 Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur von Mecklenburg-Vorpommern, nur bei vollkommener Abkopplung von der Lebensrealität entziehen kann.

 

Ein neues Menschenbild

 

Die Nivellierungen und Grenzüberschreitungen, die vom Gender-Mainstreaming und vom totalen Inklusionsbestreben ausgehen, sind keine Petitessen. Hinter ihnen steht die Absicht, den allgemeinen Rahmen des Denkens und Handelns zu verschieben und Kernbestände des bisherigen Selbstverständnisses aufzulösen. In Schulen und Vorschulen soll ein neues Menschenbild implantiert und von dort aus in die Welt hinausgetragen werden. Sie verlieren dadurch ihr bewahrendes Moment, lösen sich von bisher Bewährtem und folgen Gruppeninteressen, die sich auf keinen gesellschaftlichen Konsens berufen können.

Überaus brüchig ist das Versprechen, das einzelne Kind könne nun in ein neu geschaffenes Reich der Freiheit eintreten, das von Erwartungen und Zwängen befreit ist, die sich aus Traditionen, sozialen Bindungen, Sozialisations- und Erziehungsnotwendigkeiten ergeben. Machtverhältnisse werden nicht wie versprochen aufgelöst, sie währen unverändert fort, nur dass die Macht in andere Hände übergegangen ist. Mit dem Auflösen alter Grenzen geht das Errichten neuer einher – häufig mit einer unerbittlichen Strenge, die nur noch das Eigene, für moralisch unantastbar Gehaltene gelten lässt. Wer dem widerspricht, wird leicht als Ewiggestriger hingestellt, der die Zeichen der Zeit nicht verstanden hat und sich an einer überkommenen Weltanschauung festklammert.

Überzogene Reformwünsche haben oft genug zu schmerzhaften pädagogischen Irrwegen geführt. Ideologische Überfrachtungen und illusionäre Verkennungen ihres Auftrags nutzen der Schule und den Kindern heute ebenso wenig wie zu früheren Zeiten. Schule sollte sich auf ihre Kernaufgaben besinnen, Wissen und kulturell Errungenes weitergeben, die persönliche Freiheit fördern, sich Neuem umsichtig öffnen.

 

Dialoge fördern, Spaltungen überwinden

 

Wie dies im Einzelnen gestaltet werden soll, welche unterschiedlichen Möglichkeiten es gibt, darüber lässt sich trefflich streiten. Damit ein solcher Weg beschritten werden kann, bedarf es der erneuten Diskussion grundlegender Fragen. Sie muss, gerade weil viele Fronten so verhärtet sind, in einem offenen und respektvollen Dialog erfolgen, der unterschiedliche Sichtweisen zulässt. So sollten Eltern, die Bedenken zur Sexualpädagogik äußern, gehört werden, ohne dass ihnen fast reflexhaft eine Feindlichkeit gegenüber bestimmten Personengruppen unterstellt wird. Ebenso müssen aber auch diejenigen zu Wort kommen, die die Sorge haben, ihre Sexualitäts- und Lebensform würde entwertet und abgelehnt. Gleiches gilt für die Polarisierungen, die sich im Inklusionsdiskurs finden: zwischen den Befürwortern einer Inklusion mit einer Einheitsschule und jenen, die ein differenziertes Schulsystem für sinnvoll und spezielle Schulen für notwendig halten. Auch hier ist ein Austausch notwendig, der undogmatisch erfolgt und ohne Dominanzanspruch auskommt.

Entscheidend ist dabei, dass aufgedeckt wird, wo Spaltungen das Feld beherrschen. Spaltungen stellen sich vor allem ein, wenn hohe moralische Werte beschworen werden, die von heftigen Emotionen begleitet sind. Scheinbar unverrückbar, völlig voneinander getrennt, stehen sich dann „Gut“ und „Böse“, Fortschritt und Rückschritt, oft auch Humanität und Inhumanität gegenüber. Diese Spaltungen gilt es zu überwinden. Erst dann kann wieder eine Auseinandersetzung entstehen, die sich abwägend unterschiedlichen Sichtweisen stellt und empirische Fakten unvoreingenommen zur Kenntnis nimmt. Dann kann wieder mehr Offenheit entstehen, mehr Neugierde, ein produktiver Austausch und der Wettstreit um die besten Argumente.

 

Bernd Ahrbeck, geboren 1949 in Hamburg, Professor für Psychoanalytische Pädagogik, Internationale Psychoanalytische Universität (IPU), Berlin.

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