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Partnerschaft, nicht Abhängigkeit

Die Europäische Union und die Türkei

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Die Flüchtlings- und Migrationskrise führt uns Europäern eindrucksvoll vor Augen: Die Türkei ist ein Schlüsselakteur im südöstlichen Mittelmeerraum. Sie ist das Tor Europas zum Nahen und Mittleren Osten, und zwar in beide Richtungen. Handeln wie Nichthandeln des türkischen Staates haben unmittelbare Auswirkungen auf die Stabilität in unserer direkten Nachbarschaft. Wenn hier etwas falsch läuft, bekommen wir Europäer das sofort zu spüren. Die Europäische Union muss deshalb ein fundamentales Interesse an partnerschaftlichen Beziehungen mit der Türkei haben. Partnerschaft bedeutet aber nicht Abhängigkeit. Partnerschaft ist kein Gebot von Naivität oder Idealismus, sondern von praktischer Lösungsorientierung und Verantwortung.

Partnerschaft gebieten aktuell aber zunächst Humanität und christliche Nächstenliebe. Die Türkei bleibt das wichtigste Aufnahmeland für Flüchtlinge aus Syrien, bietet sie doch mehr als 2,5 Millionen Syrern Schutz. Nur 250.000 davon sind in 26 Lagern in der Türkei untergebracht. Die Restlichen leben außerhalb solch fester Strukturen, oft in bitterster Armut. Die Belastungen, die sich hieraus für die Türkei ergeben, sind enorm und sollten aus europäischer Perspektive keinesfalls unterschätzt werden. Dass das reiche Europa hier helfen muss, ist mehr als offensichtlich.

 

Gelder für die Hilfe vor Ort

Es ist deshalb gut und wichtig, dass Europa Geld für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei, wie im übrigen auch anderen syrischen Anrainerstaaten, die Flüchtlinge aufgenommen haben, zur Verfügung stellt. Mit jedem hier investierten Euro verringern wir nicht nur das Leid der Menschen, die vor Krieg und Schrecken geflohen sind. Über die Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort senken wir auch die Anreize zur Fortsetzung der Flucht in Richtung Westen und vermeiden damit ein Vielfaches an Folgekosten bei uns in Europa. Diese Mittel gehen ausdrücklich nicht an den türkischen Staat oder seine Gebietskörperschaften, sondern werden direkt den Hilfsorganisationen vor Ort bereitgestellt.

Vor allem aber wird die Auszahlung der europäischen Gelder an spürbare Fortschritte bei der Verringerung der Zahl illegaler Grenzübertritte geknüpft. Die Türkei ist hier gefordert, schnell für eine Verbesserung zu sorgen. Die Türkei darf nicht länger Durchgangsland für illegale Migranten in Richtung EU sein. Die Politik des Durchwinkens muss bereits vor den Toren Europas gestoppt werden. Die Türkei muss bei der Rückübernahme von Flüchtlingen kooperieren. Wir brauchen die Mitarbeit der türkischen Behörden, um Schleppern und Menschenschmugglern effektiver das Handwerk zu legen. Im Gegenzug sollten wir die Türkei auch spürbar entlasten. Ansonsten droht die Türkei als konstruktiver Partner auszufallen.

Die Europäische Union muss ihre Außengrenzen gleichzeitig selbst sichern können. Hierfür steht besonders Griechenland in der Pflicht. Sollte Griechenland dies nicht umgehend selbst schaffen, muss die EU mittels der Grenzschutzagentur Frontex das Kommando übernehmen. Hierbei handelt es sich nicht um die Abgabe von nationalen Souveränitäten an die EU, sondern um die Durchsetzung bereits übertragener Aufgabenbereiche. Europa muss Handlungsfähigkeit beweisen. Auch hier aber gilt: Mit der Türkei gemeinsam können wir mehr erreichen. Es ist in diesem Zusammenhang gut, dass die NATO-Mission im Ägäischen Meer und selbst in türkischen Hoheitsgewässern im Einsatz ist.

 

Kein Frieden ohne die Türkei

Parallel müssen wir Europäer gemeinsam mit unseren Verbündeten alles daransetzen, über Gespräche mit Vertretern des Assad-Regimes und von gemäßigten Kräften der Opposition ein Schweigen der Waffen im Syrienkrieg zu erreichen und zu erhalten. Für diese Verhandlungen, vor allem aber für die Erreichung eines dauerhaften Friedens in der Region, ist die Türkei ein schlicht unumgänglicher Akteur. Nicht nur brauchen wir die Türkei, um das Einsickern von radikal-islamistischen Kämpfern und Nachschub in das Kriegsgebiet zu unterbinden und den sogenannten „Islamischen Staat“ von seinen Finanzierungsquellen abzuschneiden. Ohne die Zustimmung der Türkei kann es auch kaum eine friedliche Lösung für die Autonomiebestrebungen kurdischer Kräfte im Irak und in Syrien – die sich zugleich als unsere verlässlichsten Verbündeten im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ erwiesen haben – geben.

Natürlich ist die jüngste Eskalation der Gewalt im Südosten der Türkei besorgniserregend. Wir müssen alle Kanäle zur türkischen Führung nutzen, um sie zu überzeugen, den Frieden im eigenen Land am Verhandlungstisch zu suchen. Denn mit einem beständig schwelenden türkisch-kurdischen Dauerkonflikt werden auch der nördliche Irak und das nördliche Syrien kaum zur Ruhe kommen.

Dass sich das Bohren dicker Bretter bei fast schon aussichtslos erscheinenden Konflikten lohnt und dass die Europäische Union ein ernstzunehmender außenpolitischer Akteur sein kann, hat sich jüngst am Beispiel Iran bewiesen. Unter Führung unserer europäischen Hohen Vertreterin Federica Mogherini haben Großbritannien, Frankreich und Deutschland gemeinsam mit China, Russland und den USA einen wegweisenden Erfolg der Diplomatie erreicht und das iranische Atomprogramm einem strengen Kontrollregime unterworfen, bei dessen Verletzung die Sanktionen des Westens automatisch wieder in Kraft treten.

Auch für eine mögliche Lösung des Zypernkonflikts erreichen uns seit einigen Monaten hoffnungsvolle Signale. Damit die beiden Volksgruppen auf der faktisch geteilten Insel dauerhaft zueinanderfinden, ist die politische Unterstützung Ankaras unabdingbar. Es ist deshalb gut, dass die türkische Regierung echtes Interesse an einer Lösung des Konflikts zeigt und den Verhandlungsprozess unter der Ägide der Vereinten Nationen aktiv unterstützt.

 

Fehlentwicklungen klar benennen

Freilich darf all dies kein Freibrief für die Türkei sein. Vieles Handeln der türkischen Regierung nach außen wie innen beobachten wir weiterhin und zum Teil verstärkt mit Sorge. Die Türkei darf sich nicht von Europa entfernen.

Wir werden Rückschritte der Türkei im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, besonders bei Meinungs- und Pressefreiheit, immer klar benennen. Es kann nicht sein, dass regierungskritische Zeitungen verstaatlicht, Journalisten verhaftet und Redaktionsräume verwüstet werden, während die Polizei daneben steht. Der diesjährige Bericht des Europäischen Parlaments zur Entwicklung in der Türkei wird hier eine deutliche Sprache finden.

Auch bei Forderungen nach bürokratisch erscheinenden Zugeständnissen – wie sie Teile der europäischen Linken erheben – müssen wir wachsam bleiben. Besonders die Vorschläge zur Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger werden wir uns im Europäischen Parlament sehr kritisch anschauen. Auf keinen Fall dürfen gut gemeinte Maßnahmen zu mehr Missbrauch und illegalen Aufenthalten führen. Die jüngste Öffnung eines Verhandlungskapitels ändert nichts daran, dass für uns eine besondere Partnerschaft am Ende der Verhandlungen stehen sollte. Eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei lehnen wir ab. Das wäre für beide Seiten von Nachteil. Dennoch muss die Türkei ein enger Partner Europas werden.

Es ist deshalb richtig, dass wir regelmäßige EU-Gipfeltreffen mit der Türkei vereinbart haben, um im Gespräch zu bleiben und um die Einhaltung der getroffenen Beschlüsse zu überprüfen. Der EU-Türkei-Aktionsplan zu Migrationsfragen von November 2015 muss besonders von türkischer Seite vollständig und zügig umgesetzt werden. Wir Europäer dürfen uns aber – bei aller gebotenen Vorsicht – einer pragmatischen und interessengeleiteten Zusammenarbeit nicht grundsätzlich verschließen. Denn unter Nachbarn gilt: Man muss sich nicht immer lieben, aber man sollte doch miteinander auskommen. Die Welt wartet nicht auf uns.

 

Manfred Weber, geboren 1972 in Niederhatzkofen, Stellvertretender Parteivorsitzender der CSU, seit 2014 Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament.

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