In der Reflexion über die Grundlagen des Selbstverständnisses der Union tauchen oftmals zwei Begriffe auf, die sehr gegensätzliche Pole des Zusammenlebens betreffen: Person und Gemeinwohl. Der Mensch als Person ist das der sozialen Ordnung zugrunde liegende Prinzip. Gemeinwohl ist ein regulatives Prinzip. Es sorgt dafür, dass die Mannigfaltigkeit der unterschiedlichen Lebensentwürfe in ein vernünftiges, zustimmungsfähiges Ganzes zusammengeführt werden kann.
Warum ist der Mensch „Person“? Was ist der Mensch? Die erste Antwort auf die Frage, was der Mensch ist, lautet: Er ist dasjenige Wesen, das diese Frage stellt und stellen kann. Er kann sich erstens sowohl als Subjekt begreifen, also als ein von der Umwelt abgeschlossenes, autonomes Handlungssystem. Und er kann sich zweitens selbst reflektieren, also sich selbst zum Objekt machen. Er macht sich eine Vorstellung von sich selbst, indem er sich selbst zum Objekt seiner Betrachtung macht. Und schließlich kann er verallgemeinern: Das, was er für sich selbst nachdenkend erfasst, kann er auf eine unbestimmte Vielzahl anderer Menschen übertragen und damit begrifflich denken. Darüber hinaus kann dieser Mensch Vergangenheit und Zukunft erkennen. Schließlich kann er über die Bedingungen seiner eigenen Existenz hinausgehen und die Frage nach dem Woher des Lebens und dem Wohin nach dem Leben thematisieren. Der Mensch ist also Subjekt, das durch die Fähigkeit zur Reflexivität gekennzeichnet ist, ein geschichtliches Wesen, das um Vergangenheit und die Möglichkeit der Zukunft weiß und zur Transzendenz fähig ist.
Die zweite Antwort ist: Der Mensch ist ein Wesen, das seit jeher auf den anderen angewiesen ist. Er kann sich nicht in Einsamkeit verwirklichen, sondern nur in der sozialen Interaktion. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er braucht andere Menschen, um zu überleben, und ebenso, um zur Sprache und damit der Möglichkeit der Welterschließung zu gelangen. Der Mensch wird er selbst nur durch andere Menschen.
Die dritte Antwort ist: Der Mensch ist ein Wesen, das unabhängig von seinen Instinkten handeln kann. Er hat einen freien Willen. Das bedeutet: Er kann sich über seine Instinkte erheben, sich auch gegen sein „biologisches Programm“ entscheiden. Er ist in seinem Handeln frei und nicht den Instinkten unterworfen, wohl aber dem Gewissen als dem Maß seiner Entscheidungen. Dieses Gewissen gibt ihm die Möglichkeit, zwischen moralisch Richtigem und Falschem zu unterscheiden – es zwingt ihn jedoch nicht, das Richtige zu tun. Er kann sich aus freiem Willen auch für das Falsche, für das Böse, entscheiden.
Die Willensfreiheit und die Fähigkeit zur Transzendenz gelten als wichtige Bestandteile einer diesseitig begründeten Vorstellung von der Würde des Menschen. Diese ist Geltungsgrund aller Grundrechte. In der christlich-sozialen Tradition kommen zwei Aspekte hinzu – zum einen, dass der Mensch als Geschöpf Gottes gesehen wird: beseelt durch den Schöpfer und laut dem biblischen Auftrag über alle anderen Geschöpfe gestellt mit dem Auftrag, diese wie die Schöpfung überhaupt zu hegen und zu pflegen. Zum anderen ist er in der Praxis des Handelns Schuld und Irrtum unterworfen, kann jedoch Vergebung erlangen für sündhaftes Verhalten.
Schutz der Menschenwürde als Grundnorm
In der christlich-sozialen Tradition verdichten sich diese fünf Elemente – Willensfreiheit, Fähigkeit zur Transzendenz, Mensch als Geschöpf Gottes, Subjektivität in Animalität und Schuld aus der Ambivalenz der Praxis – zum Begriff der Person. Es ist dieser Begriff der Person, der die Grundlage der sozialen Ordnung bildet und die Begründung der Menschenrechte bereitstellt.
Der Begriff der Person ist deutlich älter als die Debatte über Würde. Der inhaltliche Kern ist ähnlich: die sittliche Autonomie des Menschen und seine Fähigkeit, als geschichtliches Wesen die moralische Urteilskraft auf sein Wollen und Handeln zu beziehen. Freilich ist der Begriff der Person gehaltvoller und komplexer, aber doch eben einer bestimmten Denktradition zugeordnet, die nicht mehr als selbstverständlich unterstellt werden kann. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist die Personalität nicht erwähnt, wohl aber der Schutz der Würde des Menschen als verfassungsrechtliche Grundnorm. Würde ist eine Mitgift. Sie ist nicht abstufbar, sie wird nicht verliehen und kann nicht verloren gehen. Der Mensch besitzt sie vom Anbeginn des Lebens, weil er von anderen Menschen abstammt und damit einer Spezies angehört. Der Verfassungsgeber hat alle staatlichen Gewalten unverbrüchlich darauf festgelegt, die Würde des Menschen zu schützen. Staatliches Handeln hat die Aufgabe, einer Demütigung als Verletzung der Selbstachtung des Menschen entgegenzuwirken.
Würde selbst ist kein Grund- oder Menschenrecht, sondern der transzendentale Geltungsgrund von Menschenrechten. Die Würde des Menschen ist im Grundgesetz unter die Ewigkeitsgarantie des Artikels 79, Absatz 3 gestellt. Selbst dann, wenn alle anderen Grundrechte nicht mehr Bestandteil des Grundgesetzes wären, könnten sie aus der Würde des Menschen abgeleitet werden. Würde zu besitzen, bedeutet, nicht zum Objekt gemacht werden zu dürfen, sondern mit dem Eigenwert der Person wahrgenommen und behandelt zu werden. Daraus erwächst auch ein Gestaltungsauftrag an die Mindestbedingungen gesellschaftlicher Teilhabe, die durch den Staat zu garantieren sind.
Würde ist eine feste, normativ ausgreifende Begrifflichkeit, die einen breiten Schutzbereich der Person abdeckt. Der Begriff der Person geht jedoch darüber hinaus: Zum einen enthält der Personbegriff nicht nur eine Seinsbestimmung, sondern eine Werdensmöglichkeit. Person zu sein, bedeutet, Person zu werden, sich zu entfalten gemäß den natürlichen Anlagen in der Sozialität.
Ordnungsprinzipien der Gesellschaft
Zum anderen ist Person ein Gestaltungsprinzip des Sozialen, aus dem Ordnungsprinzipien der Gesellschaft abgeleitet werden können. Zugespitzt formuliert: Würde ist der Geltungsgrund der Menschenrechte, der Begriff der Person aber begründet nicht nur Menschenrechte, sondern liegt auch Ordnungsprinzipien der Gesellschaft zugrunde. Das liegt daran, dass Person ein relationaler Begriff ist. Der Mensch als Person ist immer gedacht in seiner Beziehung auf andere Menschen – und auf Gott. Der Bezug auf andere Menschen ist dabei ein Wesenskern des Personbegriffs und konstitutiv für die Ordnung der Gesellschaft.
Aus dem Begriff der Person leiten sich zwei zentrale Ordnungsprinzipien des Gesellschaftlichen ab: die Solidarität als horizontales Ordnungsprinzip und die Subsidiarität als vertikales. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, kann er nichts werden und nichts sein ohne andere Menschen. Solidarität ist sowohl die Notwendigkeit der Zuwendung als auch die Freiwilligkeit des Engagements.
Solidarität ist Pflicht und Tugend zugleich. Sie ergibt sich aus dem sozialen Charakter des Menschen als Person und aus der Notwendigkeit, zur Erreichung des Gemeinwohls miteinander zu kooperieren. Solidarität in der Katholischen Soziallehre ist Ausdruck einer sozialen Liebe, die Nationen, Ethnien, Geschlechter überwindet. Sie ist universal und eben nicht nur Nächstenliebe, sondern auch Fernstenliebe und bewirkt den Einsatz für die gleichen Verwirklichungschancen der Menschen weltweit.
Die Subsidiarität ist das freiheitssichernde Prinzip der Gesellschaft. Es ist ebenso Kompetenzanmaßungsverbot wie Hilfestellungsgebot. Was Menschen und Gruppen aus eigener Kraft bewältigen können, darf sich der Staat nicht als eigene Aufgabe aneignen. Wohl aber hat er die Verpflichtung zur Hilfestellung. Subsidiarität bedeutet: so wenig Staat wie möglich, so viel wie nötig, immer aber von dem Zweck menschlichen Zusammenlebens betrachtet – nämlich die volle Entfaltung des Menschen zu befördern.
Gemeinwohl als regulatives Element
Subsidiarität soll die Freiheit der Eigenentwicklung der Menschen sichern. Diese ist in die Entfaltung seiner natürlichen Anlagen und seiner Sozialität gestellt, aber auch in die Möglichkeit, eigenständige Ideen über das gute Leben zu entwickeln und diese zu verfolgen. Bei der Freiheit der Eigenentwicklung geht es also nicht lediglich um materielle Interessen, sondern um die Verwirklichung des Humanum, der Natur eines Menschen.
Daraus ergibt sich auch die Zweckbestimmung staatlichen Handelns. Diese wird gewährleistet durch eine Politik, die sich am Gemeinwohl orientiert.
Gemeinwohl ergibt sich weder aus dem größtmöglichen Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen noch aus einer bloßen Tätigkeit einer unsichtbaren Hand, die die Interessen der Einzelnen magisch zu einem allgemeinen Wohlergehen bündelt. Gemeinwohl ist ein regulatives Prinzip. Vom Bedeutungsfeld her hat es eine große Nähe zu Begriffen wie soziale Gerechtigkeit oder Fairness, geht allerdings darüber hinaus.
Gemeinwohl hat die Zweckbestimmung des Menschen im Blick, und diese kann sich wiederum nur aus der Idee der Personalität ableiten. Gemeinwohl setzt den Menschen als Person voraus, der sich wiederum ohne eine regulative Idee des Gemeinwohls nicht verwirklichen kann. Das ist eine klare Absage an alle Verkürzungen des Menschen, allerdings auch ein antitotalitärer Impuls, der mit einer Subsumption des Menschen unter eine Klasse, eine Ethnie, eine Nation oder den Markt nicht vereinbar ist. Der Mensch in seiner Ganzheit als Person steht im Mittelpunkt. Er ist Ausgangspunkt und Ziel aller Politik.
Wenn das richtig ist, dann hat es Konsequenzen für die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Wenn der Mensch Maßstab der Politik ist, dann ist die Politik aufgerufen, alle Subsysteme der Gesellschaft nach diesem Prinzip hin zu ordnen. Auch in der Wirtschaft verwirklicht sich der Mensch, vor allem in der Arbeit. Das hat Konsequenzen für die Ordnung der Wirtschaft, die gegenüber den Profitinteressen allzu oft in den Hintergrund tritt. In einigen Landesverfassungen ist der Gedanke der Gemeinwohlbindung der Wirtschaft sehr präsent. In der Verfassung des Freistaates Bayern etwa heißt es, dass die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dem Gemeinwohl dient (Artikel 151). Und die Verfassung des Landes Hessen sekundiert, die Wirtschaft des Landes habe die Aufgabe, dem Wohle des gesamten Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs zu dienen (Artikel 38). Das geht über einen appellativen Charakter hinaus – es ist ein Gestaltungsauftrag an die Politik, den es in der Globalisierung und der Enthemmung der Profitgier ernst zu nehmen gilt. Aber das betrifft auch die Arbeitsbeziehungen. Eine Arbeit, die entfremdet, nicht gerecht entlohnt wird, die erniedrigt, die keine Teilhabe kennt: Eine solche Arbeit entspricht nicht der Würde des Menschen und seinem Status als Person.
Gestaltungspflichten des Staates
Aus den Gestaltungsprinzipien der Person und des Gemeinwohls ergeben sich Pflichten der Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung. Für den Staat sind dabei Schutzpflichten, Gestaltungspflichten und Unterstützungspflichten zu beachten.
Die Schutzpflichten beinhalten, alles zu verhindern, was der menschlichen Person und ihrer Würde schadet. Das betrifft nicht allein den unmittelbaren Bereich der staatlichen Gewalt, sondern auch die Verletzung der Würde des Menschen durch nichtstaatliche Akteure. Darin liegt unter anderem der Grund für die Regulierung der Wirtschaft durch den Staat. Nicht die optimale Gestaltung des Wettbewerbs steht im Vordergrund, wie es Ordoliberale vorbringen, sondern der Schutz des arbeitenden Menschen im System der Wirtschaft. Das beinhaltet Regelungen zum Arbeitsschutz ebenso wie Bestimmungen zum Mindestlohn, aber auch den Schutz wirtschaftlicher Akteure vor Monopolen und Machtkonzentrationen im Wirtschaftsprozess selbst.
Der Staat hat außerdem Gestaltungspflichten. Zu ihnen kann erstens beispielsweise gehören, die Schere in der Vermögensverteilung sich nicht allzu weit öffnen zu lassen, denn eine stark ungleiche Vermögensverteilung ist der Stabilität einer Gesellschaft abträglich.
Der Staat darf, um ein zweites Beispiel zu nennen, bei Interessenkollisionen im Sinne des Gemeinwohls gestaltend eingreifen. Wohnen ist beispielsweise ein Menschenrecht, und deshalb dürfen die Interessen der Menschen, die in einer Stadt wohnen wollen, gegenüber Investitions- oder Profitinteressen institutioneller Anleger privilegiert werden. Man kann ebenfalls darüber nachdenken, öffentlichen Grund und Boden nur noch über Erbpacht und entsprechende Verträge bereitzustellen. Grund und Boden sind kein vermehrbares Gut und tragen deshalb immer die Gemeinwohlbestimmung in sich.
Ein drittes Beispiel: Der Staat darf entsprechend seiner Aufgabe, das Gemeinwohl zu fördern, auch Präferenzen formulieren und entsprechend unterstützen. Er muss wirtschaftliche Akteure nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachten, nein, er darf es sogar nicht: Die Rationalität staatlichen Handelns ist eine andere als die von wirtschaftlichen Akteuren. Der Staat ist in seinem Handeln an das Grundgesetz gebunden und damit an eine wertgebundene Ordnung. Das bedeutet konkret: Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ist nicht nur ökonomische Effizienz das entscheidende Kriterium, sondern die Gemeinwohlorientierung – was sonst, wenn mit öffentlichen Geldern bezahlt wird? Deswegen ist Tariftreue das Mindeste, was bei der Vergabe öffentlicher Aufträge berücksichtigt werden muss. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Was wäre, wenn der Staat etwa Unternehmen verpflichten würde, Gemeinwohlbilanzen einzuführen, in denen detailliert Aufschluss gegeben wird über den Beitrag, den diese Unternehmen zum Gemeinwohl leisten – und dann die steuerliche Veranlagung entsprechend zu gestalten? Schon heute gibt es eine Initiative aus der Wirtschaft, mit der namhafte Großunternehmen ihren Bilanzen genau dies zugrunde legen wollen.
Der Staat hat viertens Unterstützungspflichten. Ausgehend von Artikel 1 Grundgesetz, hat sich seit den 1950erJahren ein Verständnis von Würde durchgesetzt, das auch die aktive Fürsorge des Staates beinhaltet. Das Ziel, eine menschenwürdige Existenz zu garantieren, ist inzwischen Bestandteil der Gesetzgebung und der Verfassungsrechtsprechung. Das Bundessozialhilfegesetz von 1961 nannte als Aufgabe der Sozialhilfe, dem Empfänger ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Ähnlich formuliert es das Sozialgesetzbuch: Die Hilfen des Staates sollen dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein und gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu sichern. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmung erweitert und spricht von einem menschenwürdigen Dasein, das nicht nur die physische Existenz sichert, sondern auch die Sicherung zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben beinhaltet. Damit umfasst das Verständnis von Würde nicht nur die Möglichkeit physischer Subsistenz, sondern auch Teilhabe- und Partizipationsrechte in einer Gesellschaft.
Person und Gemeinwohl sind also mehr als abstrakte Begriffe und unverbindliche Zielvorgaben. Sie haben unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltung des Zusammenlebens, sie ergänzen notwendig das Verständnis einer demokratischen Ordnung, die mehr sein will als ein Abstimmungsprozess zur Bestimmung von Mehrheiten. Person und Gemeinwohl betonen die Freiheit des Menschen und die Tatsache, dass es kein staatlich festgelegtes Gemeinwohl gibt, kein Ziel in der Geschichte und kein Ideal, auf das hin der Mensch erzogen oder optimiert werden muss. Deswegen sind diese geistigen Orientierungen Bollwerke gegen jede Form totalitären Denkens, die den Menschen über Klasse, Ethnie, Nation oder Markt definieren will.
Matthias Zimmer, geboren 1961 in Marburg, 2009 bis 2021 Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Landesvorsitzender
der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) Hessen und bis 2022 Stellvertretender CDA-Bundesvorsitzender, Honorarprofessor
für Politikwissenschaft, Universität zu Köln.