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Über Transformationen des Sehens und des Denkens

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„Es ist für mich wichtig, beim Philosophieren immer eine Lage zu verändern, nicht zu lange auf einem Bein zu stehen, um nicht steif zu werden.“1 Diesen Satz notierte Ludwig Wittgenstein (1889–1951) im Jahr 1937. Mit wenigen Strichen skizziert er das (Selbst­)Porträt eines Philosophen, der beim Denken nicht statisch im Gegebenen verharrt, sondern der, das Standbein ständig wechselnd, eine geradezu spielerische, dem Denken zuträgliche Beweglichkeit entwickelt. Statt des Bildes steinerner Kompaktheit antiker Philosophenbüsten wird hier dasjenige einer ‚leichtfüßigen‘ Haltung evoziert. Diese, das schimmert durch die Zeilen hindurch, mag helfen, sich von festgefahrenen Denkmustern und konsolidierten Standpunkten zu befreien und die Dinge vielleicht in einem neuen Licht zu sehen.2 Wittgensteins Notiz ist in vielerlei Hinsicht ein idealer Ausgangspunkt, um sich mit der Rolle der Perspektive und des Perspektivenwechsels für das Erkennen und Verstehen auseinanderzusetzen und zugleich der Frage nachzugehen, wie eng die Sicht auf die Dinge mit der eigenen Haltung und Verortung in der Lebenswelt verwoben ist. Nicht zuletzt, weil uns Wittgenstein durch den Hinweis auf die mögliche ‚Versteifung‘ dafür sensibilisiert, dass diese unauflösbare Verbindung von (Ein­)Sicht und Haltung Fluch und Segen zugleich sein kann: Fluch, wenn die eigene (ästhetische, moralische, politische und so weiter) Perspektive absolut und unreflektiert gesetzt wird. Wenn also mit dem Einnehmen des vermeintlich unerschütterlichen Standpunktes eine Form von monoperspektivischer Gewalt einhergeht. Segen wiederum, sobald man (an)erkennt, dass die ‚Arbeit am Sehen‘, die eben auch eine kritisch prüfende Arbeit an der eigenen Haltung ist, zu einer Transformation der Sicht- und Denkweisen führen kann. Die individuelle und gesellschaftliche Einsichtsfähigkeit, so kann man es knapp formulieren, ist somit stets auch eine Perspektivenfrage.

 

Polyperspektivisches Umkreisen

 

Und so ist es nicht zufällig, wenn Wittgenstein betont, wie schwer und wichtig zugleich es sei, erstens zu sehen, was vor unseren Augen liegt, und zweitens, den eigenen Standpunkt unablässig und undogmatisch infrage zu stellen, um nicht nur neu zu sehen, sondern auch neu zu denken. Sich darin zu üben, anders zu sehen und neu zu denken, sollte jedoch keineswegs den (Berufs­) Philosophinnen und -philosophen vorbehalten sein, denen Wittgenstein bekanntlich mit Skepsis gegenüberstand. Gerade in der Spätphase seines Philosophierens hat er wiederholt darauf hingewiesen, dass sich die Leserschaft in seinem Fall mit einer Vielzahl von unfertigen, verzeichneten und beschnittenen Entwürfen auseinandersetzen müsse, die erst durch die je eigene, oft mühsame Seh- und Denkarbeit Sinn ergeben. Man könnte, ganz im Sinne ästhetischer Techniken der Avantgarden, von einer ‚collagierten‘ Philosophie sprechen, die die Rezipientinnen und Rezipienten dazu anregt, ein aktives, das Gegebene infrage stellendes Sehen zu praktizieren, die Dinge polyperspektivisch zu umkreisen und sie dabei auch einmal auf den Kopf zu stellen. Der Ästhetik und der Kunst schreibt Wittgenstein in diesem permanenten Prozess der Infragestellung der eigenen Gewissheiten eine grundlegende Bedeutung zu. Nicht zuletzt, weil die Kunst einerseits ein Auffächern der Perspektiven fördert und andererseits „das Kunstwerk uns – sozusagen – zu der richtigen Perspektive [zwingt]“.3 Herausgerissen aus dem Lauf des Alltäglichen, erscheinen die Dinge in einem anderen, vielleicht klareren Licht. Die Metanoia, im Sinne der Einnahme einer neuen Sichtweise und einer damit einhergehenden Änderung der eigenen Lebensauffassung, wird also sowohl durch Kunst als auch durch Philosophie angeregt.

 

Umkehrungen

 

Es ist genau dieses transformative Potenzial der Kunst, das Jiří Kolář (1914– 2002) in Literární listy – 28.8.1968. Literarische Blätter – Todesanzeige formalästhetisch und inhaltlich in seiner ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit auslotet. Das Blatt ist Teil des 66 Collagen umfassenden Tagebuch 1968, das eines der wichtigsten Zeugnisse einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Prager Frühling und den dramatischen Konsequenzen der Invasion der Truppen des Warschauer Pakts darstellt.4

Der tschechische Wortkünstler verbildlicht in dieser Collage nicht nur auf eindrucksvolle Weise, dass es verschiedene Sichtweisen auf und ideologische Umkehrungen historischer Ereignisse gibt, sondern auch, wie sehr die historische Perspektivierung – für Kolář sozusagen der prophetische Blick durch die Vergangenheit auf die Zukunft – unsere Wahrnehmung der Gegenwart verändern kann. Dabei deutet er zugleich eine die jeweils spezifische historische Zeit überdauernde, zeitlose Perspektive des Erlebens und Denkens an, die sich insbesondere im Raum des Poetischen offenbaren kann.

Kolář, der sich stets gegen jegliche Form von politisch-ideologischer, ja gar propagandistischer Vereinnahmung der Kunst gewehrt hatte, wollte diese als freie Tätigkeit verstanden wissen, die sich in den Zwischenräumen entwickelt, wo sich „Privates und Öffentliches, Politisches und Poetisches, […] Alltägliches und Absurdes, […] nicht voneinander trennen lassen.“5 In diesem Sinne sind die Collagen bewusst keine explikativen oder kommentarischen Illustrationen des für die ČSSR so dramatischen Jahres 1968, sondern stellen eine kritische, dissonante und damit widerständige Vereinigung des Unvereinbaren dar, in der auch historisch komplexe Sinnzusammenhänge visualisiert werden. Dies zeigt sich in Literární listy in geradezu exemplarischer Weise. In der fast die ganze rechte Hälfte der Collage einnehmenden Textseite kündigt Literární listy, das Wochenblatt des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, an, dass es unter den Umständen der Okkupation nicht mehr erscheinen kann. Links davon ist kopfüber die brennende Straßenbahn beim Gebäude des tschechoslowakischen Rundfunks zu sehen. Es handelt sich um den Ausschnitt eines Pressefotos, das am 21. August 1968 um die Welt ging, wobei Kolář das Titelfoto der Zeitschrift Svět v obrazech gleich zweimal verwendet.

Nachlass Jiří Kolář
Jiří Kolář: Literární listy – 28.8.1968. Literarische Blätter – Todesanzeige, Collage aus seinem „Tagebuch 1968“. 1968, Neues Museum Nürnberg. © Nachlass Jiří Kolář

Kolář kreiert mit dieser Collage ein visuell und materiell komplexes Palimpsest, das auf die Rolle der Medien und die Macht ikonischer Bilder verweist. Zugleich geht er jenseits des Textes von Literární listy, in dem die Redaktion alle Bürgerinnen und Bürger zu einer stummen, sich in kleinen Gesten offenbarenden Form des Widerstands aufruft, auf die epochenübergreifende Funktion des Dichters als visionären Zeitkritikers ein. Denn in der offenen Handfläche erkennt man das umgekehrte Porträt Dante Alighieris, und zwar im wahrscheinlich ikonischsten, keinem geringeren als Giotto zugeschriebenen Dichterporträt aus der Cappella del Podestà im Palazzo del Bargello in Florenz. Für Dante – und das ist wichtig – war die Macht der Dichtkunst nicht nur mit dem rein Ästhetischen, sondern hauptsächlich mit dem Ethischen und Politischen verbunden. Durch diese Präsenz der Vergangenheit wird in der Collage auch auf die transformative und subversive Macht der Kunst hingewiesen, in Zeiten des politischen Desasters die Fraglichkeit der Dinge sicht- und erlebbar zu machen.

 

Prophezeiungen

 

Dass Kolář den wohl bekanntesten Exildichter der europäischen Literatur ins Zentrum seiner Collage stellte, war ebenso wenig ein Zufall wie der Zuschnitt der Hand, der das Auge des Dichters betont. Der Verweis auf die mittelalterliche, jüdisch-christliche Tradition, in der die Hand unter anderem auch mit der Handlung und Allmacht Gottes und das Auge mit dessen Allwissenheit verbunden wurde, wird durch den Kontext des Dante-Porträts noch verstärkt: Im Fresko in der Cappella del Podestà befindet sich Dante nämlich unter den auferstandenen Gläubigen, die das Wahre sehen und sprechen. Und wie wohlbekannt ist, stellt der Mut, das Wahre zu sprechen – also die berühmte Praxis der parrhesia – und die prophetischen Visionen des Jenseits mit denjenigen zu teilen, die gewillt und fähig sind zuzuhören, eines der Hauptmotive von Dantes Göttliche Komödie dar. So fordert der Dichter Cacciaguida Dante dazu auf, die Wahrheit zu sprechen, selbst im Angesicht von möglichem Hass und dem erneuten Verlust der Heimat. „Trotz alledem, laß jede Lüge fahren. / Verkünde offen alles, was du schautest […].“6 Dieses Dantische Motiv verdeutlicht, dass Kolář in seiner Collage nicht nur verschiedene geografische – Prag und Florenz –, zeitliche und symbolische Perspektiven wirkmächtig zusammenführt. Vielmehr gelingt es ihm, mittels des visuellen und ideellen Dialogs zwischen der Figur des Dichterpropheten und den Leserinnen und Lesern der Literární listy die Relation von Kunst, Widerständigkeit und individueller Wahrheitsfindung zur Sprache zu bringen und einen Möglichkeitsraum anzudeuten, in dem im Kleinen und Stillen ethisch gehandelt, also ganz im ursprünglichen Sinne des Wortes Haltung (ethos) gezeigt und Position bezogen werden kann, und zwar jenseits ideologisch festgefahrener Standpunkte.

 

Wahrheitssuche

 

Die Spannung von notwendigem, kontinuierlichem Perspektivwechsel und etho­ästhetischer Arbeit am Selbst, an der eigenen Haltung, wird in Václav Havels Šest poznámek o kultuře (Sechs Bemerkungen über die Kultur) von 1984 auf theoretischer Ebene brillant untersucht und stilistisch gleichsam inszeniert.7 Statt Einblicke in ein schematisches und somit leicht verdauliches Gesamtbild der Kultur und Kunst in ‚West‘ und ‚Ost‘ zu gewähren, in dem manichäistisch zwischen gut und schlecht, moralisch und unmoralisch, offiziell und nicht­offiziell, freiheitlich und totalitär unterschieden werden kann, werden die Leserinnen und Leser in Havels Sechs Bemerkungen mit vielzähligen, zum Teil auch widersprüchlichen Positionen konfrontiert. Und es ist diese gezielte Auffächerung der Komplexität, das Bewusstsein für die subtilen Abstufungen in den Bereichen des Ästhetischen, Ethischen und Politischen, die diesen scharfsinnigen Text zu einem bis heute relevanten macht. Diese Betonung der Vielfältigkeit der Standpunkte und die Verdammung des posttotalitären Bestrebens zur Homogenität wird von Havel auch in einer seiner bekanntesten Schriften, nämlich in Versuch, in der Wahrheit zu leben, formuliert: „Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Pluralität, zur Vielfarbigkeit, zur unabhängigen Selbstkonstitution und Selbstorganisation, einfach zur Erfüllung seiner Freiheit. Das posttotalitäre System dagegen verlangt monolithische Einheit, Uniformität und Disziplin.“8

Havels Forderung, im Bereich der Kunst plakativem Kategorisierungsbestreben entschieden gegenüberzutreten und sich eher für das Einzigartige des je spezifischen ästhetischen Phänomens als für das Allgemeingültige der jeweiligen Kunstideologien zu interessieren, schreibt sich in diesen Diskurs ein. Dazu zählt auch sein Pochen auf das Verhältnis von Kunst und Wahrheit respektive Wahrhaftigkeit. Für Havel ist Kunst nämlich „eine bestimmte, eigentümliche Art und Weise der Suche nach Wahrheit“, und der einzige (intrinsische) Maßstab, der über die Qualität eines Werkes entscheidet, ist letztlich der Mut und die Suggestivität, „mit der sie [die Kunst] ihre Wahrheit sucht“ – hier, so Havel, liegt ihre Kraft.9 Obgleich es im 21. Jahrhundert schwierig ist, dieser stark hypostasierten Konzeption einer „Kraft der künstlerischen Wahrheit“ etwas abzugewinnen, muss betont werden, dass Havels Konzeption der Wahrheit nicht mit einer apodiktischen und essenzialistischen Wahrheitsauffassung in Verbindung gebracht werden kann. Vielmehr plädiert er für ein Verständnis der Wahrheit als etwas Prozessualem, Unabschließbarem. Diese Lesart wird durch Havels Beharren auf der Bedeutung der Suche nach Wahrheit sowie durch die bewusste Betonung der Dringlichkeit und Notwendigkeit der eigenen Haltung und der inneren Erfahrung der künstlerischen Wahrheit unterstützt. Havel geht es nie um die Wahrheit an sich, sondern stets um die Praktik der Wahrheitssuche, in der der Kunst eine privilegierte Rolle zukommt. Die Wahrheit – und das ist wichtig – ist eben keine bestimmbare, keine fassbare, keine formulierbare mehr. Stattdessen ist sie verbunden mit einer existenziellen und performativen Dimension, die letztlich Ereignischarakter besitzt.

In diesem Prozess der Wahrheitsfindung ist die Haltung der Künstlerinnen und Künstler beziehungsweise einer respektive eines jeden Einzelnen grundlegend. Dadurch wird klar, dass sich Havel für eine etho­ästhetische Praktik starkmacht, die auch eine Infragestellung der alltäglichen Wahrheiten und Sichtweisen mit sich bringt.10 Oder anders gesagt: Es scheint um Ethik zu gehen, um ethos im ursprünglichsten Sinne des Wortes – ethos als körperliche Haltung und als individualethische Gesamthaltung, die Raum für unbequeme, normkritische Gegenpositionen zulässt. Physische und psychische, aber auch ästhetische und ethische Positur bedingen und durchdringen sich gegenseitig – sie sind Ausdruck einer Daseinsweise, einer Lebensform, die durch Einübung (neuer Sichtweisen) gestaltbar ist. Ja, vielleicht könnte man gar von einem ethos der Perspektive sprechen, der darin besteht, den dogmatischen Standpunkt gegen die unvollendbare, polyperspektivische Arbeit an der eigenen (Ein­)Sicht zu tauschen – und dennoch Haltung zu bewahren.

Hana Gründler, Bildwissenschaftlerin und Philosophin, ist seit 2017 Permanent Senior Research Scholar am Kunsthistorischen Institut in Florenz, MPI, wo sie die Forschungsgruppe „Etho-Ästhetiken des Visuellen“ leitet. Sie lehrte unter anderem an der Freien Universität Berlin sowie an den Universitäten Hamburg und Wien.

 

1 Ludwig Wittgenstein: „Vermischte Bemerkungen“, in: Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit. Werkausgabe, Bd. 8, 13. Aufl., Frankfurt am Main 1984, S. 488.
2 Ebd., S. 505. „Entschuldige nichts, verwische nichts, sieh und sag, wie es wirklich ist – aber Du musst das sehen, was ein neues Licht auf die Tatsachen wirft.“ 1941.
3 Ebd., S. 456, 1930.
4   Daniela Uher: „Das Tagebuch 1968 von Jiří Kolář oder die unerträgliche Schwere eines Jahres“,  in: Agnes Tieze (Hrsg.): Jiří Kolář – Collagen: 1914–2002, Ausstellungskatalog, Regensburg 2010, Prag 2010, S. 90–103.
5 Jiří Kolář: „Vielleicht nichts, vielleicht etwas“, in: Jiří Ševčík, Peter Weibel (Hrsg.): Utopien und Konflikte. Dokumente und Manifest zur tschechischen Kunst 1938–1989, Ostfildern 2007, S. 206.
6 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, übers. von Hermann Gmelin, Stuttgart 1998, Paradies, 17. Gesang, S. 333.
7 Václav Havel: „Šest poznámek o kultuře“, in: Michal Přibáň (Hrsg.): Z dějin českého myšlení o literatuře 4 1970–1989. Antologie k dějinám české literatury 1945–1989, Prag 2005, S. 256–265 (Teilübersetzung der Autorin).
8 Václav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben, 4. Aufl., Hamburg 2000, S. 16.
9 Havel, a. a. O., siehe En. 7, S. 262.
10 Hierzu siehe etwa Havels Überlegungen in: Havel, a. a. O., siehe En. 8, S. 33 ff.

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