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Vom Nimbus der Friedensbewegung

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„Unsere neuen Kriegsnarren, die wir da so alle plötzlich in der Regierung haben, komischerweise. Also gestern haben sie noch den Wehrdienst verweigert, heute kennen sie alle Panzertypen, die in Deutschland oder irgendwo produziert werden – wir brauchen eine Friedensbewegung, die denen contra gibt.“ 1 Mit diesen kämpferischen Worten starteten Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zum ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2023 ihr „Manifest für den Frieden“. Mit dem Versprechen einer Wiederbelebung der alten Friedensbewegung wird versucht, den Nimbus jener Protestkultur neu anzuzapfen, von der weiterhin eine beachtliche nostalgische Wirkung auszugehen scheint. Mit seinen knapp 800.000 Unterschriften ist das „Friedensmanifest“ zahlenmäßig allerdings noch überschaubar, gemessen an den vier Millionen Unterschriften des „Krefelder Appells“, der Anfang der 1980er-Jahre gegen den NATO-Doppelbeschluss veröffentlicht wurde.

Die alte Friedensbewegung verfehlte ihr Ziel. Die NATO-Nachrüstung und das fortgesetzte Wettrüsten wurden zur Sollbruchstelle für das ökonomisch marode System im Osten. Woher also rühren der Nimbus, der vom Resultat aus betrachtet nur ein Verliererkult sein kann, und die scheinbar moralische Autorität der alten Friedensbewegung? Die Friedensbewegung entsprang dem damaligen Alternativmilieu und ihrer aufkommenden Gefühlsentladung für Heimat, Natur, Provinz und Volk. Es „tümelte“ mächtig in der Post-68er-Szene. Die altlinke Protestkultur mit ihrer verbissen kopflastigen Radikalität schien überwunden. Im Lebensgefühl einer nun bunten, basisorientierten Szene spielten Angstbeschwörung und Friedenserhaltung eine zentrale Rolle, fernab aller militärstrategischen Abschreckungs- und Aufrüstungsbemühungen auf der Regierungsebene.

Einer ihrer Protagonisten war der evangelische Theologe und langjährige Anhänger der Ostermarschbewegung Helmut Gollwitzer, der sich im Nachrüstungsstreit zu der Aussage hinreißen ließ: „Kein Deutscher kann diese bedingungslose Unterwerfung der Interessen unseres Volkes unter fremde Interessen, diese Auslieferung der Verfügung über die Existenz unseres Volkes an eine fremde Regierung hinnehmen.“ 2 Diese „rechte“ Tonlage nahm der Essayist und Adorno-Schüler Wolfgang Pohrt zum Anlass, der Friedensbewegung Spurenelemente deutschnationalen Denkens vorzuhalten: „Dass wir hier weitgehend unbehelligt leben können, verdanken wir keiner deutschnationalen Souveränität, sondern dem Sieg der Alliierten.“ Und: „Früher haben die Deutschen der Welt den Krieg erklärt, heute versuchen sie, der Welt den Frieden zu erklären.“3

 

Einfluss auf die Nachrüstungsgegnerschaft

 

Die erste große Demonstration gegen die Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II und Cruise-Missiles fand am 10. Oktober 1981 in Bonn statt. 300.000 Menschen waren dem Aufruf der Aktion Sühnezeichen / Friedensdienste „Gegen die atomare Bedrohung – für Abrüstung und Entspannung“ gefolgt. Die zweite Großdemonstration ereignete sich im Oktober 1983 im Bonner Hofgarten. An den Massenaufmärschen, Menschenketten, Mahnwachen und Blockaden nahmen geschätzte 500.000 Menschen teil. Am 23. November 1983 entschied der Deutsche Bundestag über die Raketenstationierung. Die Regierung Kohl-Genscher ließ sich durch den Protest der Friedensbewegung nicht beeindrucken, zumal diese längst im Verdacht der Einflussnahme aus Moskau und Ost-Berlin stand. Die SPD war nach dem Kanzlersturz Helmut Schmidts im Oktober 1982 zurückgerudert und hofierte die Protestbewegung nun über Parteichef Willy Brandt, Erhard Eppler und Oskar Lafontaine, um jüngere Jahrgänge für die SPD nicht zu verlieren.

Während vor Kasernen gegen die Ankunft der Pershings mit Mahnwachen protestiert wurde, war die sowjetische Aufrüstung mit der atomar bestückbaren SS-20-Langstreckenrakete für die Bewegung kein Ärgernis. Ein Grund mehr für die Regime in Moskau und Ost-Berlin, die Friedensfrage zu forcieren und über die linientreuen Kommunisten der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) Einfluss auf die Nachrüstungsgegnerschaft in der Bundesrepublik zu gewinnen.

Der Historiker Manfred Wilke hatte Einblick in die Moskauer Protokolle zur Friedensbewegung nehmen können. Aus ihnen geht hervor, dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) 1980/81 fest damit rechnete, die Protestbewegung in der Bundesrepublik würde so stark werden, dass sie die Stationierung der US-Raketen verhindern könne.

 

Der „Krefelder Appell“ und die DKP

 

In einem Hintergrundgespräch mit dem Autor vom Juli 2018 schilderte Wilke: „Es ist in der Realgeschichte dieser Friedensbewegung so, dass der Apparat funktionierte, aber ironischerweise weniger für die DKP als für die Grünen. Die Friedensbewegung war die gesellschaftliche Bewegung, aus der die grüne Partei entstand. Und die grüne Partei hat, zumindest was ihre Funktionäre anging, sehr wohl gewusst, dass die DKP bei ihrem Aufstieg eine kleine Rolle gespielt hat, indem sie – wie dies ein Beobachter sarkastisch sagte – dafür sorgte, dass der Lautsprecherwagen da war, dass die Klos da waren, bei den Massendemonstrationen. [Die DKP sorgte] für alle nützlichen unauffälligen Dienste, die dem großen Zwecke dienten, die NATO-Raketen zu verhindern.“4

Der „Krefelder Appell“ sei eine „Glanzleistung“ der DKP gewesen – so Manfred Wilke –, war es ihr doch gelungen, zwei Ikonen der damaligen Friedensbewegung, Petra Kelly und General Gert Bastian, zur Unterschrift zu bewegen, obwohl die grüne Pionierin das Regime der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) mit der Unterstützung der Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ aktiv bekämpft hatte und sich dafür auch auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin verhaften ließ. Mit deren kostbaren Signaturen konnten sich die Betreiber des „Appells“ ihren Protest als eine „unabhängige Friedensbewegung“ schönreden. Parteichef Herbert Mies zeigte sich auf dem DKP-Parteitag von 1981 voll des Lobes über die „friedenspolitische“ Basisarbeit seiner moskauhörigen Truppe: „Klar ist, die Friedensbewegung in der Bundesrepublik von heute ist eine Bewegung neuer Dimensionen, eine Bewegung vielfältiger Kräfte, eine Bewegung mit einer unübersehbaren Ausstrahlungskraft. Das ist das Ergebnis des Wirkens all der Kräfte, die seit Jahr und Tag in Friedenskomitees engagiert sind. Das ist mit ein Ergebnis des Wirkens von uns Kommunisten.“5 Trotz der Präsenz der DKP sahen Petra Kelly und Gert Bastian in dem Aufruf zunächst eine „historische Tat“, ehe beide am 19.                Februar 1984 die Friedensinitiative aus Protest verließen. Der Grund dafür war, dass die SED-nahen Mitinitiatoren sich geweigert hatten, die unabhängige Friedensbewegung in der DDR zu unterstützen.

Saskia Richter fasst in ihrer PetraKelly-Biografie die verschiedenen Deutungen der Friedensbewegung zusammen.6

Wohlwollend betrachtet, habe Kelly zur Abrüstung im Ost-West-Konflikt beigetragen, auch wenn sie die Nachrüstung nicht verhindern konnte. Außerdem sei es ihr gelungen, der westdeutschen Demokratie neuen außerparlamentarischen Schwung zu verleihen.

 

Schwere innere Zerreißproben

 

Doch gibt es auch kritische Bewertungen: Die Friedensbewegung habe weder politische Entscheidungen noch militärische Maßnahmen beeinflussen, geschweige denn verhindern können. Stattdessen sei sie nur mit „hysterischen Angstbekundungen“ (Hans-Ulrich Wehler) in Erscheinung getreten. Schlimmer noch: Die Friedensbewegung habe sogar zum Scheitern von Abrüstungsgesprächen beigetragen, „weil die Sowjets sich durch das anhaltende Geschrei über die wahren Verhältnisse in der deutschen Bevölkerung täuschen ließen und auf die falsche Karte gesetzt haben“.7

Trotzdem ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Bewegung eine in der Bevölkerung weit verbreitete Angst- und Bedrohungsstimmung artikuliert hat. Es herrschte Verdruss über den Rüstungswettlauf, den man mit der Entspannungspolitik in den 1970er-Jahren gebremst zu haben glaubte. Viele waren es leid, zu hören, dass die Friedenserhaltung nur auf immer höherem atomarem Niveau zu sichern sei. Doch trotz ihrer vielerorts erhörten Weckrufe sollten auf die Friedensbewegung seit dem Epochenbruch und dem Niedergang des Weltkommunismus schwere innere Zerreißproben zukommen.

Während des Zweiten Golfkriegs bildeten sich 1991 zwei Fraktionen aufseiten der Linken heraus: die sogenannten „Bellizisten“ um den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der Saddam Hussein mit Adolf Hitler verglich und die universalistischen Werte des Westens beschwor, sowie die Pazifisten aus der alten Friedensbewegung, die auf weißen Tüchern mit der Losung „Kein Blut für Öl“ firmierten und eisern an ihrem Feindbild NATO festhielten. Dass Saddam Hussein in diesem Krieg auch Scud-Raketen auf Israel abfeuerte, änderte nichts an der mehrheitlich waffenabstinenten Einstellung der Bewegung.

Der Kosovokrieg – seit Juni 1999 erstmals mit Beteiligung der Bundeswehr – führte endgültig zur Spaltung innerhalb der Friedensbewegung, symbolisiert durch den Farbbeutelwurf auf Außenminister Joschka Fischer während der Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/ Die Grünen in Bielefeld. Es ging um die Frage: Wie legitim ist Pazifismus nach dem Massaker in Srebrenica, dem Massenmord an muslimischen Bosniern während der Post-Jugoslawien-Kriege durch prorussische Tschekisten des Serbenführers Slobodan Milošević? Bedeutete Pazifismus weiterhin nach traditioneller nachkriegsdeutscher Lesart „Nie wieder Krieg!“? Oder war nicht eher eine neue, nicht minder moralisch begründete Betrachtungsweise gerechtfertigt: einen bereits begonnenen Krieg zu stoppen, in dem man dem Angreifer militärisch in die Arme fällt, um kriegführend friedliche Zustände wiederherzustellen, getreu der Devise Pacem facere?

In der Auseinandersetzung zwischen den beiden unversöhnlichen Grundsatzpositionen wimmelte es von hinkenden Vergleichen und falschen Analogien im Umgang mit der jüngsten deutschen Geschichte. Während sich die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) im Kosovokrieg auf Auschwitz berief, als sie die Out-of-Area-Einsätze der Bundeswehr auf ehemals von der Nazi-Wehrmacht eroberten Gebieten strikt ablehnte, diente Außenminister Joschka Fischer die Chiffre „Auschwitz“ für das genaue Gegenteil: den ersten kriegerischen Einsatz der Bundeswehr gegen den Aggressor Serbien, um eine Wiederholung des Massenmords wie in Srebrenica zu verhindern.

 

Antiamerikanische Verblendung

 

Immerhin wurde die Debatte völkerrechtlich durch die Einführung des Rechtsinstituts der responsibility to protect entschieden – das heißt der Schutzverantwortung und damit der Verpflichtung, im Notfall auch Diktatoren in den Arm fallen zu dürfen, wenn sie die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung grob missachteten.

Die alte, kaum noch präsente Friedensbewegung hatte in den Post-Jugoslawien-Kriegen viel an ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt. Gefangen in ihrer antiamerikanischen Verblendung und dem ewigen Hass auf die NATO, schien sie nach dem Epochenbruch paralysiert, zur Empathie unfähig und brachte es nicht fertig, zwischen Aggressoren und Opfern zu unterscheiden. Sie war gleichsam der Denke eines „linken“ Treitschke verfallen: „Amerika ist an allem schuld, Amerika ist unser Unglück.“ Eine Auffassung, die heute beim Überfall auf die Ukraine wieder als Hintergrundmelodie zu vernehmen ist.

Für ihr Projekt einer erneuerten Friedensbewegung gegen eine weitere militärische Unterstützung der Ukraine nimmt das „Friedensmanifest“ von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer die Zustimmung aus dem extrem rechten Umfeld der Alternative für Deutschland (Af D) wie auch aus der Querdenker-Szene in Kauf. Denn in bestimmten Kreisen links wie rechts herrscht Einigkeit darüber, dass die Ukraine nur eine „US-Marionette“ sei und Putins Angriffskrieg ein „Notwehrakt“ gegen die nach 1991 alsbald erweiterte NATO. Russlands imperialistische Ziele werden hier als legitime Sicherheitsinteressen wahrgenommen.

Was aber ist ein Friedensbegriff wert, der auf eine antitotalitäre Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur verzichtet?

Die „neue“ Friedensbewegung, soweit es sie überhaupt schon gibt, geriert sich moralisch ebenso fragwürdig wie die alte. Mit ihrem pervertierten Verständnis von Frieden verwechselt sie den geforderten Waffenlieferungsstopp gegenüber der um ihre freiheitliche Existenz kämpfenden Ukraine mit einer Solidaraktion für das notleidende Volk. Offenbar wäre eine kriegerisch erzwungene Rückkehr der Ukraine in die Tyrannei Russlands für die pharisäerhaften Betreiberinnen des neuen Friedensmanifestes eine gerechte Sache.

Wagenknechts Vorgehen gründet sich auf die kremlerprobte Strategie von Lüge und Täuschung. Das Manifest lügt, wenn es ein mehrheitliches Unbehagen in der Bevölkerung an weiteren Waffenlieferungen unterstellt. In Wahrheit plädiert eine relativ stabile Mehrheit nach wie vor für eine militärische Unterstützung der Ukraine. Und das Manifest täuscht, wenn es dem Menschenfreund im Kreml ein diplomatisches Verlangen nach einer Friedenslösung zugute hält, die von den Kriegstreibern und Eskalatoren im Westen aber verhindert würde. So beklagte die jüngst verstorbene frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer in einer Abschiedsbotschaft die Kriegssituation.8 Damit meinte die Friedensaktivistin aber nicht den kaum noch für möglich gehaltenen barbarischen Überfall Putins auf die Ukraine und das Erwachen in einer anderen, sinistren Welt mitten in Europa. Eher schien sie erschüttert darüber, dass ihren klüger gewordenen früheren Mitstreiterinnen und Mitstreitern von Bündnis 90/Die Grünen zu dieser imperialistischen Aggression nur noch massiv militärische und keine alten pazifistischen Antworten mehr einfallen.

 

 

Norbert Seitz, geboren in Wiesbaden, Soziologe, Buchautor und freier Mitarbeiter des „Deutschlandfunk“.

 

 

1 Vgl. Text zu: „Der Fall Schlageter und das Prinzip Querfront“, in: Deutschlandfunk, HintergrundGeschichte aktuell, 04.04.2023, www.norbert-seitz. de, http://norbert-seitz.de/wp-content/uploads/ 2023/04/Hintergrund-Schlageter-Querfront.pdf [letzter Zugriff: 03.05.2023].

2 Helmut Gollwitzer, zitiert nach Wolfgang Pohrt: Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation. Rotbuchverlag, Berlin 1982.

3 Wolfgang Pohrt, a. a. O.

4 Manfred Wilke, Gesprächsprotokoll des Autors vom Juli 2018.

5 Vgl. Herbert Mies: „Parteitagsrede 1981“, in:

Vor 50 Jahren: Gründung der DKP, Deutschlandfunk, Hintergrund-Geschichte aktuell, 25.09.2018, www.norbert-seitz.de.

6 Saskia Richter: Petra Kelly. Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010.

7 Zitiert nach Saskia Richter, a. a. O.

8 Antje Vollmer: „Was ich noch zu sagen hätte“, in: Berliner Zeitung, 23.02.2023, www.berliner-zeitung. de/politik-gesellschaft/ein-jahr-ukraine-krieg-kritikan-gruenen-antje-vollmers-vermaechtnis-einerpazifistin-was-ich-noch-zu-sagen-haette-li.320443 [letzter Zugriff: 03.05.2023].

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