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Falsche Diagnose oder Anstoß zur notwendigen Modernisierung?

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Georg Pichts Diagnose der „deutschen Bildungskatastrophe“ gehört zu den bekanntesten Zeitdiagnosen der bundesrepublikanischen Geschichte (Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Freiburg i. Br. 1964). In der Regel wird sie als Auftakt der bis heute andauernden Bildungsexpansion und der Reformepoche im Bildungswesen rezipiert – und nicht selten zugleich als Startpunkt aller Probleme der Bildungsexpansion kritisiert.

Joachim Radkau widmet in seiner Geschichte der Zukunft Georg Picht ein ganzes Kapitel und charakterisiert ihn als Exempel sowohl für den fatalen Beginn als auch für das dauerhafte Elend der „Prognosen und Visionen“ über die Situation des Bildungswesens „in Deutschland von 1945 bis heute“ (Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München 2017, S. 210–241). Auch hier nichts als „Irrungen“, von Picht bis PISA nur diagnostische Schwierigkeiten und argumentative Schwächen, triviale Analysen und immer neue Reformempfehlungen ohne Sensibilität für die Realität, die Leistungen und die kulturell-nationalen Eigenarten der Schule, zugleich unbesorgt gegenüber den intendierten und nicht intendierten Folgen der eigenen Ratschläge – so kann man Radkaus Thesen pointiert resümieren.

Aber wird man dem Religionsphilosophen, Plato-Forscher, Internatsleiter und Bildungskritiker Georg Picht (1913 bis 1982) damit gerecht? Mehr noch: Ist mit der Picht-Schelte quasi der Geburtsfehler für die in Zielen und Werten ideologisch gespaltene bundesrepublikanische Bildungspolitik identifiziert? Liest man heute Pichts Artikel – im Februar 1964 zuerst in der Stuttgarter Wochenzeitung Christ und Welt und bald danach auch als Buch (mit einer umfänglichen Dokumentation der zeitgenössischen Diskussion) erschienen – aus heutiger bildungshistorischer Distanz, wird man eher vorsichtig.

Fast ein neuer Klassenstaat

Zunächst sieht sich der Leser einem heterogenen Gemenge von Argumenten gegenüber. Nüchterne empirische Daten, vor allem über den demografisch zu erwartenden Anstieg der Schülerzahlen, stehen neben bildungspolitischen Behauptungen, dass etwa der parallel notwendige Anstieg der Lehrerzahlen und der Ausbau der schulischen Infrastruktur nicht einmal planerisch realistisch gesehen würden. Die Erhöhung der Abiturientenzahlen, für Picht die zentrale strategische Größe für die Sicherung des Lehrernachwuchses und deshalb – aus guten Gründen – ins Zentrum der Forderungen gerückt, sei ebenso wenig beachtet worden wie die notwendige Reform der Sekundarschulen (zumal auf dem Lande) oder der Wandel der Bildungsverwaltung und die Sicherung der politischen Handlungsfähigkeit durch die Einrichtung einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten Bildungsplanung, die Universitäten und die Wissenschaft, Schule und Lehrer zugleich zum Thema macht. Andererseits entwickelt Picht, wenn er immer wieder den drohenden

„Bildungsnotstand“, ja einen „nationalen Notstand erster Ordnung“ behauptet, nahezu apokalyptische Diagnosen. Diese Dramatisierung begründet er mit der These: „Notstand des Bildungswesens heißt Notstand der ganzen Gesellschaft.“ Letztere sei nicht nur planungsunfähig, auch eine „gerechte Verteilung der Bildungschancen“ sei nicht gegeben, „Sozialauslese“ regiere – zulasten der Unterschichten, aber auch des katholischen Milieus. Giselher Wirsing, der Chefredakteur von Christ und Welt – einer konservativen protestantischen Zeitung, wie man hier erinnern muss –, resümiert besorgt, dass „fast ein neuer Klassenstaat“ zu erkennen sei (zitiert nach Picht 1964, S. 13).

Ein Zivilisationsbruch?

Dabei resultiert die Schärfe von Pichts Krisendiagnose aus der Annahme, dass der Abiturientenmangel mehr als ein technisches Planungs- und politisches Mobilisierungsproblem signalisiere: „Die Zahl der Abiturienten bezeichnet das geistige Potential eines Volkes.“ Neben den kulturellen Auswirkungen hingen davon auch die „Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialproduktes und die politische Stellung“ der Nation ab. Kulturkritik und Bildungsökonomie, politische Zeitdiagnose und pädagogische Sorgen, alte Bildungsemphase und nationale Selbstbestätigung stehen also nebeneinander. Als „alarmierend“ empfand er vor allem das fehlende Bewusstsein für den Ernst der Lage. Der internationale Vergleich müsse wachrütteln – das „Ausland“ wird hier zum Argument! Es zeige sich ein „Rückstand“ gegenüber den Nachbarn und ein Absinken auf das Niveau von Ländern wie „Jugoslawien, Irland und Portugal“, bei denen es Picht offenbar schauderte. „Provinzialismus“ lautet deshalb seine zugespitzte Diagnose: „Unser Bildungswesen ist funktionsunfähig geworden.“ Umkehr sei nötig, aber auch möglich: „Deutschland kann als Kulturstaat noch erhalten bleiben.“ Aber die Politiker müssten jetzt handeln: „Tun sie es nicht, so steht schon heute fest, wer für den dritten großen Zusammenbruch der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert verantwortlich ist.“ Die Bildungskatastrophe steht auf gleicher Höhe mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zivilisationsbruch des nationalsozialistischen Deutschland – darunter geht es für Picht nicht.

Beobachter hinkten hinterher

Hat er recht mit seinen empirischen Befunden und seiner Krisendiagnose? Betrachtet man die Daten über die Entwicklung der Schülerzahlen sowie über den Lehrerbestand und -bedarf, dann wird man Picht auch heute nicht widersprechen können (vgl. Peter Lundgreen, Hrsg.: „Bildungsbeteiligung. Wachstumsmuster und Chancenstrukturen 1800–2000“, Beiheft 7 der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Wiesbaden 2006). Richtig ist darüber hinaus, dass im Bildungssystem Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre ein gravierendes räumliches und personelles Ausbaudefizit und ein qualitativer Veränderungsbedarf bestanden. Picht sah diesen organisatorisch vor allem in der obligatorischen Sekundarschule, in der noch weit verbreiteten Landschule und – mit Blick auf den Lehrplan – zum Beispiel im fehlenden Fremdsprachenunterricht. Aber hier wird ersichtlich, wie selektiv sein Blick auf die Schule gewesen ist, denn die Berufsbildung kommt allenfalls am Rande vor.

Wird man auch seinen kulturkritischen Diagnosen heute noch zustimmen? Da sind die Antworten schwieriger, weil Pichts Diagnosen und Prämissen unterschiedliche Referenzen zugrunde liegen – relativ eindeutige statistische Daten neben sozialwissenschaftlichen Interpretationen, vor allem aus der Bildungsökonomie, und dann vor allem die Studien von Friedrich Edding, die damals große Aufmerksamkeit fanden.

Er argumentiert aber auch mit traditionalen Begriffen der bildungsbürgerlichen Selbstverständigung über Staat und Nation, die sich im Begriff des „Kulturstaates“ verdichten, und artikuliert schließlich bildungstheoretische, protestantisch gefärbte Grundüberzeugungen – etwa, dass Bildung und individuelle Anstrengung, vor allem die akademische Bildung und Elitenbildung, das Wohl der Nation am besten sichern könnten. Hier treffen die ersten großen (und in ihren starken Annahmen über die ökonomisch ausschlaggebende Rolle des Humankapitals bald falsifizierten) Prophezeiungen der frühen Bildungsökonomen, dass Bildung und Wirtschaftswachstum kausal eng gekoppelt seien und deshalb auch die Quote von Abiturienten und Akademikern das ökonomische Potenzial einer Volkswirtschaft zuverlässig abbilde, mit dem traditionellen großen Versprechen der Pädagogen und Bildungstheoretiker zusammen, dass die Zukunft von Staat und Nation von „Bildung“ abhängig sei – was immer das bedeutet.

Aber schon für die Adressaten von Bildung ist seine Krisendiagnose unzutreffend: Die Beteiligungsraten an höherer Bildung – gemessen am Übergang zum Gymnasium – stiegen bereits seit Mitte der 1950er-Jahre eindeutig und rapide, nicht erst mit der Bildungswerbung nach 1964/65. Das Schulpublikum hatte schon lange vor Picht verstanden, welch zentrale Bedeutung dem Abitur zukommt.

Die alte bildungsbürgerliche Überzeugung von Bildung als Besitz war gesellschaftsweit anerkannt, die großen Aspirationen und sozialpazifizierenden Hoffnungen, die seit dem frühen 20. Jahrhundert mit der Propaganda des „Aufstiegs durch Bildung“ verbunden und jetzt in „Bildung als Bürgerrecht“ (Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg 1965) politisch geadelt wurden, waren längst Allgemeingut geworden. Die Beobachter hinkten insofern also dem tatsächlichen Bildungsverhalten hinterher.

Auslöser der Bildungsexpansion?

Aber hatte Picht wenigstens mit seinen harschen Urteilen über die Bildungspolitik um 1964 recht? Setzte er damit die historische Zäsur in der politischen Wahrnehmung des Bildungsproblems und in den Prämissen der Bildungspolitik, die die bis heute anhaltende Bildungsexpansion auslösten? Stellt man Picht in den Kontext der Zeitdiagnosen und der Bildungspolitik, dann muss man die Zuschreibung an Picht als den großen Initiator und Auslöser der Bildungsexpansion stark problematisieren. Die Zuschreibung erweist sich als Tradierung einer Illusion – als seien die Dynamik im Bildungssystem und das Verhalten ihrer Akteure primär politisch bestimmt, als würden die Aufregungen, die in der wiederkehrenden Rhetorik von Katastrophe und Krise formuliert werden, von einer problemblinden Bildungspolitik belastet und verstärkt, die vom Föderalismus leider – wie Kritiker sagen – ins Recht und in die Macht gesetzt wird, aber im Grunde nur ihre Unfähigkeit demonstriert.

Vorsicht ist bereits geboten, wenn man auf die Daten schaut, die Picht nutzte. Dabei handelte es sich – oh Wunder! – um Daten, die im Auftrag der so häufig verachteten Kultusministerkonferenz (KMK) erstellt und 1963 vorgelegt wurden, um die demografische Entwicklung und ihre Konsequenzen für die Schulpolitik präziser zu erfassen. Die KMK war keineswegs nur als datengenerierender Beobachter aktiv, sondern hatte 1964 im Vorfeld ihrer 100. Sitzung notwendige Reformen im Bildungswesen und in der Bildungspolitik in ihrer „Berliner Erklärung“ beschlossen. Das war nicht das Nachbeten der Picht’schen Forderungen; im Gegenteil: Picht bediente sich vielmehr ihrer. Die Hauptschule als Modernisierung der Volksschuloberstufe stammt zum Beispiel ebenso aus diesem Kontext wie Maßnahmen zur Lehrerbildung oder die Klausel, die länderspezifische Schulversuche erlaubt und damit eine neue Schulpolitik, die man dann bald in Hessen – mit Ernst Schütte schon seit 1958 – oder in Baden-Württemberg, Berlin und Niedersachsen erleben konnte. Diese Aktivitäten standen nicht isoliert oder nur als Reaktion auf Picht, sondern griffen Anregungen von Planungs- und Beobachtungsgremien auf, die schon in der Mitte der 1950er-Jahre gegründet worden waren – wie etwa des 1953 gegründeten „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ (DA), dem Picht selbst angehörte, oder des 1957 etablierten „Wissenschaftsrats“. In Letzterem wurden explizit Bildungsplanung, -ökonomie und -forschung diskutiert. Zum Kontext der Gründung des Wissenschaftsrats gehört ein Plan von August Rucker (1954 bis 1957 Staatsminister für Unterricht und Kultus in Bayern im Kabinett Wilhelm Hoegner, der einzigen sozialdemokratisch geführten Regierung aus SPD, Bayernpartei, FDP und des Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten in Bayern GB/BHE bis heute) aus dem Jahr 1956, der den Ausbau von Fach- und Ingenieurschulen vorsah. Der Wissenschaftsrat folgte 1960 mit einem Ausbauplan für die Universitäten; Anfang der 1960er-Jahre wurden in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg – von CDU-Regierungen – neue Universitäten gegründet (Bochum, Konstanz, Regensburg), 1965 schließlich begann der Bildungsrat, über den seit 1963/64 gesprochen wurde, in der Kooperation von Forschung, Politik und Verwaltung seine Arbeit.

Pichts Ideengeber

Das Bündnis von Politik und Bildungsforschung wurde also nicht erst und schon gar nicht allein durch das protestantisch-liberale Milieu um Hellmut Becker oder Hartmut von Hentig, Richard von Weizsäcker oder Picht ins Gespräch gebracht, wie heute gelegentlich der Eindruck erweckt wird (Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. Eine abgründige Geschichte, München 2010). Auch die empirische Bildungsforschung begann nicht erst mit der Gründung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung 1963, sondern bereits Anfang der 1950er-Jahre mit der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung (heute Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung), in der die Bildungssoziologie (mit Eugen Lemberg) und die Bildungsökonomie (mit Friedrich Edding) schon vor 1960 gepflegt wurden, auf die Picht oder Hellmut Becker später zurückgriffen.

Auch die Parteien hatten die Bildungspolitik vor Picht entdeckt. Parallel zur Arbeit am Godesberger Programm veranstaltete die Sozialdemokratie einen ersten großen bildungspolitischen Kongress, allerdings: „Auslese“ stand hier, wie in Hessen nach 1958, noch gleichwertig neben „Förderung“. Die Bundestagsdebatte, die im März 1964 stattfand, retrospektiv scheinbar als Antwort auf Picht (der auch explizit erwähnt wird), war in Wirklichkeit schon im Januar 1964, also vor Pichts Artikeln, mit einer Großen Anfrage der SPD zur Regierungserklärung des Kanzlers Ludwig Erhard vom 18. Oktober 1963 veranlasst worden. Erhard hatte, ein Signal für das große CDU-Interesse am Thema, in seiner Rede das Thema Bildung der „Bedeutung der sozialen Frage im 19. Jahrhundert“ gleichgeordnet. Die SPD wollte deshalb wissen, was denn die Bundesregierung konkret plane, um die Gleichheit der Lebensverhältnisse zu sichern und die Bildungspolitik in den ihr zustehenden Rang zu heben. An den prominenten Kultusministern von Paul Mikat über Wilhelm Hahn bis zu Bernhard Vogel und Hans Maier sieht man zugleich, dass reformorientierte Bildungspolitik kein Privileg der SPD war oder prominent nur von Carl-Heinz Evers oder Johannes Rau vertreten wurde.

Seit 1964 herrschte schließlich Konsens darüber, dass die alte Planungs- und Reflexionsform von Bildung, wie sie im Gespräch gebildeter Akteure aus Politik und Kultur im DA seit 1953 etabliert war, nicht weitergeführt werden konnte. Als neues Forum wurde 1965 der „Bildungsrat“ gegründet. Seine beiden Säulen der „Bildungskommission“ und der „Regierungskommission“ etablierten eine Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik, Bund und Ländern sowie Forschung und Entwicklung, die für die Folgezeit prägend wurde, weil erst sie den ideologischen Konflikt über die „Gesamtschule“ erzeugte, der die Bildungspolitik seither dominierte (Heinz-Elmar Tenorth: „Politikberatung und Wandel der Expertenrolle oder: Die Expertise der Erziehungswissenschaft“, in: Reinhard Fatke / Jürgen Oelkers, Hrsg.: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft: Geschichte und Gegenwart, 60. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, Weinheim/Basel 2014, S. 139–171). Hier

wird die Realität von Bildungspolitik ebenso erzeugt wie die Muster ihrer Wahrnehmung – und nicht mit oder von Picht.

Der Bildungsrat steht dabei in Polemiken und Analysen im Grunde für einen Komplex unterschiedlichster Diskurse und Akteure, Systemzustände und Veränderungen im Bildungswesen. Dazu gehören politische Fraktionierungen und Überzeugungen, etwa über die Gestaltbarkeit von Begabung und die Abwehr von „Auslese“, Forschungsaktivitäten und -kontroversen, Diagnosen von innen oder von auswärtigen Beobachtern, etwa der OECD oder der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA). Eingebettet ist das in den tatsächlichen Wandel im Bildungssystem, im Bildungsverhalten der gesellschaftlichen Milieus und in der Bildungsverfassung – man denke nur an die „Gemeinschaftsaufgaben“, die das Grundgesetz seit 1969 als gravierenden Wandel in der föderalen Verfassung kennt.

Der Anfang der Aufgeregtheiten

Theoriekonjunkturen in den Bildungswissenschaften und systemischer Wandel sind begleitet von den kontinuierlichen Aufgeregtheiten der Beobachter in der Öffentlichkeit, in den Medien und in den beteiligten Wissenschaften selbst. Picht war wahrscheinlich am ehesten für diese Aufgeregtheiten ausschlaggebend – in der Mischung von Deskription und Apokalypse, Mittelwertstatistik und Planungsemphase, die man – abgesehen vielleicht von der Ruhepause in den 1980er-Jahren, als wir den „melancholischen Diskurs‚ nach der Orgie‘“ der 1960/70er-Jahre pflegten (Ewald Terhart: „Bildungsforschung, Bildungsadministration, Bildungswirklichkeit: eine systematische Annäherung“, in: Klaus-Jürgen Tillmann / Witlof Vollstädt Hrsg.: Politikberatung durch Bildungsforschung, Opladen 2001, S. 17) – seit der Wiedervereinigung von 1990 erneut kennt. Diese Aufgeregtheit erfuhr mit dem „PISA-Schock“ 2001 eine neue Dynamik und zeigt heute in besorgten und fordernden Texten über „digitale Bildung“ oder die diversen „Bildungsdisparitäten“, „Heterogenität“ oder „Inklusion“, „Bildungsstandards“ und „Kompetenzen“ oder G8 und G9 (nachdem die Gesamtschule vom Tisch ist) eine eigene Stabilität.

Nur scheinbare Vorreiterrolle

Die unverkennbare Nähe zu Picht und seine scheinbare Vorreiterrolle wurzelt in einigen konstanten Argumenten, deren Schwächen aber unverkennbar sind:

1. die konflikthaften Urteile über den Föderalismus (die aber seine Dynamik verkennen),

2. die nicht leicht interpretierbaren Diagnosen der Bildungsforschung (die, wie bei Picht oder Hellmut Becker, bei Andreas Schleicher und der OECD, zu oft selbst Partei sind oder Trivialitäten zu Grundlagenbefunden aufblasen, wie bei John Hattie, der meint, uns erinnern zu müssen, dass es auf den Lehrer ankommt, oder die zentrale Strukturprämissen des deutschen Bildungssystems zu lange ignorieren, wie bei der OECD),

3. die falsche Konzentration auf das Abitur als zentralen Indikator für Gleichheit und Bildungserfolg (die nur die Statusideologie des Bürgertums bekräftigt, statt am Abitur die zentrale, ebenso förderliche wie problematische Steuerungsfunktion im Bildungssystem zu diskutieren) und

4. schließlich die Ignoranz, zumindest aber das Desinteresse gegenüber dem Bildungsverhalten der Akteure. Die nämlich, gleich ob Frauen oder Katholiken, Arbeiterkinder oder Lernende „mit Migrationshintergrund“, konstruieren ihre eigenen Bildungskarrieren relativ unabhängig von diesen Aufgeregtheiten, auch über die Nutzung zweiter Bildungswege und gelegentlich zur Überraschung der Bildungsforscher.

Anders als zu Pichts Zeiten kann man deshalb heute von einer Bildungsbenachteiligung von Frauen oder Katholiken nicht mehr sprechen, und nicht alle „Disparitäten“, die uns die Bildungsforscher zeigen, können zugleich als Ausdruck von Ungerechtigkeit interpretiert werden. Angemessene Erklärungen für die Differenzen im Bildungsverhalten liefern sie schon gar nicht. Gelassenheit ist deshalb wahrscheinlich die Tugend, die man auch gegenüber dem Alarmismus in der Bildungsdebatte pflegen sollte – zumindest das kann man aus der Beobachtung von Pichts „Bildungskatastrophe“ lernen.

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Heinz-Elmar Tenorth, geboren 1944 in Essen, bis 2011 Professor für Historische Erziehungswissenschaft am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

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