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Einblicke in die Person David Ben Gurions

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Tom Segev: David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis, Siedler Verlag, München 2018, 800 Seiten, 35,00 Euro.

Gründungsgestalten umweht immer ein besonderer Mythos. Und Mythen reizen Wissenschaftler, an ihnen zu kratzen. Diesbezüglich bildet der israelische Staatsgründer David Ben Gurion keine Ausnahme. Das Kratzwerk übernimmt der Jerusalemer Historiker und Journalist Tom Segev. Pünktlich zum 70-jährigen Jubiläum der Gründung des jüdischen Staates hat er eine dickleibige Biographie des ersten israelischen Premierministers vorgelegt. Wer Segev kennt, konnte sich auf ein kritisches Werk gefasst machen. Der Autor von Standardwerken über die Staatsgründung, den Sechstagekrieg, Palästina in der Zwischenkriegszeit oder auch über den Umgang Israels mit dem Holocaust wird den „neuen Historikern“ zugerechnet, die seit den 1980er-Jahren gängige Narrative der israelischen Geschichtsschreibung hinterfragen.

Segev hat den Anspruch, das Leben seines Protagonisten in dessen Gesamtheit aufzuzeichnen; es ist eher der Mensch denn der Politiker Ben Gurion, der ihn interessiert. Folgerichtig widmet sich der Großteil des 800 Seiten starken Werkes der Zeit vor 1948. Das Buch beginnt mit Kindheit und Jugend des künftigen Politikers, schildert den frühen Tod seiner Mutter und Freundschaften, die ein ganzes Leben halten sollten. Vor allem aber zeigt es die frühe Begeisterung des jungen David Grün, wie der 1886 im polnischen Płońsk geborene Knabe damals noch hieß, für den Zionismus. Schon früh unterhielt er sich mit Gleichaltrigen auf Hebräisch und träumte von der Auswanderung nach Palästina. Mit bereits zwanzig Jahren setzte er seinen lang gehegten Plan in die Tat um und wanderte ins Gelobte Land aus.

Zionismus als höchstes politische Prinzip

Dort widmete er, der nie eine Berufsausbildung oder ein Studium abgeschlossen hatte, sein Leben vollständig dem Zionismus. Im Ersten Weltkrieg stellte er sich erst an die Seite der Osmanen, später, als das Kriegsglück sich wendete, an die der Engländer, beides in der Hoffnung auf eine wohlwollende Haltung der beiden Großmächte gegenüber einem zukünftigen jüdischen Staat. Nach Ende des Krieges setzte er seine Arbeit in der Gewerkschaft Histadrut und der Jüdischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Poale Zion fort. Schnell machte er dort Karriere, ab 1930 ebenso in der von ihm mitgegründeten Arbeiterpartei Mapai. Im Laufe der Zeit wurde er zum wichtigsten zionistischen Politiker.

„Ein Staat um jeden Preis“ hat Segev sein Buch im Untertitel genannt und damit auch das entscheidende Motiv des Lebens seines Protagonisten beschrieben. Sein gesamtes Privatleben ordnete Ben Gurion der Gewinnung eines jüdischen Staates in Palästina unter. Im Dienste der zionistischen Sache war er oft monatelang von seiner Familie und seiner Frau Paula getrennt. Auch die eigene Gesundheit schonte er nicht. Und vor allem räumte er dem Zionismus eine höhere Priorität über andere politische Prinzipien ein, wenn notwendig sogar über die Demokratie. Leider erfährt der Leser nichts über die Antriebskräfte, die hinter Ben Gurions zionistischer Haltung standen. Dessen Ehrgeiz und Skrupellosigkeit beleuchtet Segev zur Genüge, aber weshalb sich der spätere Premierminister bereits in sehr frühen Jahren dem Zionismus regelrecht verschrieb, bleibt unterbelichtet.

Eindrucksvoll beschreibt Segev dagegen Ben Gurions unermüdlichen Einsatz für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina, ebenso sein ständiges Ringen mit der ungünstigen Voraussetzung dafür – der arabischen Bevölkerungsmehrheit. Von seiner Ankunft im Nahen Osten bis zu seinem Tod glaubte Ben Gurion nicht an die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens mit den arabischen Nachbarn. Und tragischerweise bestätigte die antijüdische Gewalt der Araber ihn ein ums andere Mal, angefangen mit den Unruhen in Jaffa 1921 über die landesweiten Ausschreitungen 1929, den großen Aufstand 1936 bis 1939 bis zum Angriff der arabischen Nachbarländer auf den neugegründeten jüdischen Staat 1948. Folgerichtig sprach sich Ben Gurion dagegen aus, arabische Arbeiter zu beschäftigen, versuchte, sie durch jüdische Arbeiter zu ersetzen, und setzte seine Hoffnung darauf, die Araber mittelfristig durch jüdische Einwanderer zu minorisieren.

Im Jahr 1937 versuchte die britische Mandatsmacht, Palästina durch einen Teilungsplan zu befrieden, der zu Ben Gurions freudiger Überraschung die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem jüdischen Gebiet vorsah. Während die jüdischen Rechten den Teilungsplan als unzureichend ablehnten, setzte Ben Gurion sich für dessen Annahme ein – in der Hoffnung, die Grenzen des relativ kleinen jüdischen Gebietes unter dem Druck der fortgesetzten Immigration weiter zugunsten der jüdischen Bevölkerung verschieben zu können. Der Plan scheiterte an der arabischen Ablehnung. Die Rahmenbedingungen für eine jüdische Staatsgründung hatten sich jedoch in Ben Gurions Kopf festgesetzt: ein so großes Gebiet wie möglich mit so wenigen arabischen Bewohnern wie möglich, inklusive der Möglichkeit, deren Zahl durch Vertreibungen weiter zu dezimieren.

Mit Entschlossenheit zur israelischen Unabhängigkeit

Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Judenverfolgung brachten ein vorläufiges Ende der hochtrabenden Pläne. Der Holocaust stürzte Ben Gurion in tiefe Verzweiflung – allerdings weniger wegen des Schicksals der Verfolgten selbst, sondern vielmehr, weil er damit das Ende der jüdischen Migration aus Europa nach Palästina und damit das Ende des zionistischen Projekts befürchtete. In aller Offenheit erklärte er: „Ich sehe die grauenhafte geschichtliche Bedeutung der nationalsozialistischen Gräueltaten nicht in der entsetzlichen Menge der ermordeten Juden, sondern in der Vernichtung gerade der hervorragenden Volksgruppe, die als einzige unter allen Teilen fähig […] war, den Staat aufzubauen.“ Folgerichtig widersetzte er sich auch der Rettung europäischer Juden, solange diese nicht der Stärkung des zukünftigen Staates diente: „Die Forderung, Kinder aus Deutschland ins Land zu holen, entspringt bei uns nicht nur dem Mitgefühl mit diesen Kindern. Wenn ich wüsste, dass man alle Kinder Deutschlands durch ihre Verbringung nach England retten könnte und nur die Hälfte durch ihre Verbringung nach Erez Israel, würde ich das Zweite wählen, denn wir haben nicht nur diese Kinder in Rechnung zu ziehen, sondern die Geschichte des Volkes Israel.“ Letztendlich waren das weitgehend theoretische Überlegungen, weil die zionistische Bewegung ohnehin nicht imstande war, größere Gruppen verfolgter Juden zu retten. Dennoch wirft diese Haltung ein bezeichnendes Licht auf die Überzeugung des Politikers, dass die zionistische Staatsgründung allen anderen Zielen überzuordnen war.

Nicht zuletzt dieser Entschlossenheit war es zu verdanken, dass Ben Gurion sein Ziel schließlich erreichte: Am 14. Mai 1948 verlas er in Tel Aviv die israelische Unabhängigkeitserklärung. Vorausgegangen war ihr ein blutiger Untergrundkampf gegen die britischen Besatzer und die Verabschiedung des UN-Teilungsplans am 29. November 1947. Im anschließenden Krieg gelang es dem neugegründeten Staat, seine Unabhängigkeit zu verteidigen. Auf Befehl oder zumindest mit Wissen des neuen Premierministers wurden dabei Hunderttausende Palästinenser aus ihrer angestammten Heimat vertrieben. Und auch nach dem israelischen Sieg setzte Ben Gurion große Anstrengungen daran, ihre Rückkehr zu verhindern. Der jüdische Staat brauchte dauerhaft eine große jüdische Bevölkerungsmehrheit. Immer wieder haderte der Politiker mit der Frage, wie sich seine Vorstellung eines moralisch hochstehenden zionistischen Staates mit dieser Politik in Einklang bringen ließe. Ein ums andere Mal setzte er aber den Pragmatismus über die Moral. Die im Land verbliebenen Araber erhielten zwar die israelische Staatsbürgerschaft, standen aber bis 1966 unter Militärverwaltung. Friedensverhandlungen mit den arabischen Nachbarstaaten lehnte Ben Gurion ab, aus Angst, zu weitgehende Zugeständnisse machen zu müssen. Und als – nach seiner Zeit als Regierungschef – die israelische Armee im Sechstagekrieg Ostjerusalem und das Westjordanland eroberte, war es nicht Friedenswillen oder Kompromissbereitschaft,  sondern  die Angst vor einer arabischen Bevölkerungsmehrheit, die für seine Skepsis gegenüber einer dauerhaften Besatzung sorgte.

Erlahmender Ehrgeiz

Mit der Gründung des jüdischen Staates hatte Ben Gurion sein politisches Lebensziel erreicht, und sein Ehrgeiz erlahmte. Die verbleibenden zwanzig Jahre seines Lebens erzählt Segev als eine Geschichte des Abstiegs, reich an Affären und Intrigen. Das hat eine gewisse Logik, enthält dem Leser jedoch ein genaueres Bild des Regierungspolitikers Ben Gurion vor. Über seine Rolle beim Aufbau und der Konsolidierung Israels erfährt man wenig. Dazu mag Segevs große Distanz gegenüber seinem Protagonisten beigetragen haben. Vor dem geistigen Auge des Lesers entsteht das Bild eines vom Ehrgeiz zerfressenen, misstrauischen und zur Freundschaft unfähigen Mannes. Selbst seine miserablen Qualitäten als Liebhaber, der nur um die eigene Befriedigung bemüht gewesen sei, enthält das Buch nicht vor.

Weitgehend unterbelichtet bleiben jedoch die Verdienste des Spitzenpolitikers. Welche Voraussetzungen waren es, die ihn – abgesehen von persönlichen Ambitionen und hellem Verstand – an die Spitze der zionistischen Bewegung brachten? Wie hoch ist sein Anteil an der Entstehung des jüdischen Staates zu bemessen? Und bei allem Verständnis für Segevs Kritik an Ben Gurions Umgang mit der arabischen Bevölkerung des Landes: Welche Alternativen hätte es gegeben? War Ben Gurions Einschätzung nicht tatsächlich das Ergebnis zwar kühl kalkulierter, aber hochgradig realistischer Überlegungen? In den Weltgeschichtlichen Betrachtungen schreibt Jacob Burckhardt: „Sprichwörtlich heißt es: ,Kein Mensch ist unersetzlich.‘ – Aber die wenigen, die es eben doch sind, sind groß.“ War David Ben Gurion demnach ein „Großer“ der Geschichte? Nach dem Abschluss des vorliegenden Buchs hat man darauf keine Antwort.

Dennoch lohnt die Lektüre. Die Biographie bietet tiefe Einblicke in die Persönlichkeit des israelischen Staatsgründers und analysiert die Probleme, die den jüdischen Staat auch heute, siebzig Jahre nach seiner Gründung, noch umtreiben.

Alexander Brakel, geboren 1976 in Bonn, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem, Israel.

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