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Ein Plädoyer für eine ehrliche Debatte in Frankreich und auf europäischer Ebene

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2019 wird ein Schicksalsjahr für Frankreich und Europa, so viel steht fest. Noch vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai steht der Brexit bevor: Ab Mitternacht des 29. März wird Großbritannien nicht mehr Mitglied der Europäischen Union (EU) sein. Wie viele meiner Mitbürger bedaure ich die Entscheidung der britischen Wähler. Und doch haben die Verhandlungen zwischen Brüssel und London unter der Führung Michel Barniers bewiesen, dass die anderen europäischen Mitgliedstaaten trotz zahlreicher Meinungsverschiedenheiten weiterhin mit einer Stimme sprechen können. Dieses Bild der geeinten Union zu stärken, muss mit Blick auf die Wahlen und darüber hinaus unser Ziel sein.

In Frankreich sind die europäischen Parlamentswahlen seit einiger Zeit in den Hintergrund gerückt. Die gilets jaunes (Gelbwesten) haben ihr demokratisches Grundrecht wahrgenommen und ihren Anliegen auf der Straße, in den Medien und in der Politik Gehör verschafft. Allerdings hat die Gewalt und die Infragestellung rechtsstaatlicher Prinzipien durch einige Teilnehmer die Legitimität ihrer Anliegen schwer beschädigt. Auch mit Verweis auf die deutsche Debatte rund um die Gelbwesten gilt es zu betonen, dass die Bewegung mitnichten das französische Volk vertritt, wie es einige ihrer selbsternannten Vertreter behaupten. Selbst wenn die Mehrheit der Franzosen die diversen Forderungen der Gelbwesten unterstützte, wäre das noch lange keine Rechtfertigung für die Gewalt gegen Polizisten, für zahllose Sachbeschädigungen und die massiven Drohungen gegen Politiker und Journalisten.

Gründe für die Wut der „Gelbwesten“

In den vergangenen Wochen habe ich versucht, die Gründe für die Wut der Gelbwesten zu verstehen. Die Erklärung ist dabei weit über meinen Wahlkreis oder Paris hinaus von großer Bedeutung. Die Antwort wird schließlich hoffentlich eine europäische sein. Die Auseinandersetzungen um den Brexit, die Wahlen in Italien und auch die Demonstrationen in Ostdeutschland im vergangenen Jahr haben den Blick auf die großen Bruchlinien in Europa geschärft: Während sich die eine Seite ein Europa wünscht, das auf der internationalen Bühne mit einer gemeinsamen, starken Stimme spricht, pocht die andere Seite auf Selbstbestimmungsrechte und nationalstaatliche Kompetenzen.

Dabei haben viele der zunächst so unterschiedlich wirkenden nationalen Konflikte in Wahrheit viel gemeinsam. Die Vertrauenskrise, mit der Regierungen in ganz Europa zu kämpfen haben, muss deshalb auf europäischer Ebene diskutiert werden. Die „große Debatte“, die Präsident Emmanuel Macron im vergangenen Dezember als Reaktion auf die Forderungen der Gelbwesten angestoßen hat, sollte anlässlich der Wahlen im Mai auch auf europäischer Ebene geführt werden. Eine selbstbewusste Diskussion mit Kritikern und Gegnern der Europäischen Union ist in allen Mitgliedstaaten vonnöten – in Deutschland über die Europawahl hinaus auch mit Verweis auf die im Herbst anstehenden Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern und die dortigen Prognosewerte der „Alternative für Deutschland“ (AfD).

In Frankreich hat der Geograf Christophe Guilluy mit seinen Thesen viel Aufmerksamkeit erregt. Mit Blick auf die wöchentlichen Proteste seit Anfang Dezember macht auch er auf die neuen Bruchlinien aufmerksam, die sich durch unsere Gesellschaft ziehen. Der Eindruck, dass sich Teile dieser Gesellschaft zunehmend abgehängt fühlen, wird auch in der deutschen Diskussion oft beschrieben. Auch ich hatte während des Besuchs eines Protestlagers in meinem Wahlkreis auf einem der vielbeschriebenen Kreisverkehre im Gespräch mit Protestierenden den Eindruck, dass viele der dort versammelten Menschen auf der Suche nach Gemeinschaft und Solidarität waren. Das verlorene Gemeinschaftsgefühl wieder zu stärken, ist unsere gemeinsame, europäische Aufgabe. Ob mit Blick auf die Gelbwesten in Frankreich, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien oder die AfD-Wählerschaft in Deutschland – die Menschen von der Zukunftsfähigkeit europäischer Zusammenarbeit zu überzeugen, wird eine zentrale Aufgabe der Politik in den kommenden Jahren sein.

Guilluy: Das „schmutzige Geheimnis der Globalisierung“

Die Diskussion über die Vor- und Nachteile von Europäisierung und Globalisierung darf nicht nationalistischen Kräften überlassen werden. Im Dezember hat der Spiegel Guilluy in einem Beitrag mit den Worten zitiert, das „schmutzige Geheimnis“ der Globalisierung sei der Untergang der Mittelschicht; das letzte Buch des Autors trägt den Titel No Society. Wo aber, wenn nicht auf europäischer Ebene, wollen wir uns dafür einsetzen, dass die negativen Auswirkungen der Globalisierung die Menschen nicht ungebremst treffen?

Die Gelbwesten-Bewegung zeigt, wie wichtig die gerechte Verteilung von Steuerlast und Sozialabgaben in Zeiten fortschreitender Globalisierung ist. Angesichts transnationaler Phänomene wie Klimawandel, globalen Migrationsbewegungen oder den Herausforderungen des rasanten technologischen Fortschritts kann Frankreich nicht allein handeln – genauso wenig wie Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten. Wer, wenn nicht die EU, kann der ungezügelten Konkurrenz juristische Grenzen setzen? Wo, wenn nicht in Brüssel, können die Repräsentanten der Mitgliedstaaten gemeinsam jenes „Rendezvous mit der Globalisierung“ moderieren, das Wolfgang Schäuble vor einiger Zeit so treffend beschrieben hat?

Zu Beginn des vergangenen Jahres war es mir eine große Freude, Wolfgang Schäuble in seiner neuen Funktion als Präsident des Deutschen Bundestages in Paris zu begrüßen. Anlässlich des 55-jährigen Jubiläums der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle war er als Mitglied einer deutschen Delegation zu Besuch in der französischen Nationalversammlung. Das damals beschlossene Parlamentsabkommen sendet ein wichtiges Signal an alle, die sich für konkrete Fortschritte in der deutsch-französischen Zusammenarbeit einsetzen.

Eurobarometer: Positive Einstellung zur EU

Für viele Franzosen ist die EU noch immer eine abstrakte Institution. Ohnehin weit entfernt von den Alltagssorgen der Menschen, wird sie mit ihren vielen Verordnungen und Vorschriften oft eher als Bremsklotz denn als Türöffner wahrgenommen. Dass europäische Erfolge oft genug nationalisiert werden, während hausgemachte Probleme auf die europäischen Institutionen abgewälzt werden, gehört auch zur Wahrheit.

Und dennoch: Die Eurobarometer zeigen regelmäßig, dass ein Großteil der Befragten eine positive Einstellung zur Europäischen Union und zum Euro teilt. Hier müssen wir als Abgeordnete der nationalen Parlamente ansetzen, die Vorteile der europäischen Zusammenarbeit greifbar und unzutreffende Vorwürfe gegen Europa kenntlich zu machen. Auf Initiative der Parlamente in Berlin und Paris wird das künftig auch in einer gemeinsamen deutsch-französischen Versammlung geschehen. Das europäische Projekt ist seit seiner Begründung von Kompromissen geprägt gewesen. Dabei ist der Begriff „Kompromiss“ in Frankreich heute eher negativ besetzt, wird in den Debatten oft synonym mit „Aufgeben“ verwendet. In Deutschland dagegen gehört der Kompromiss seit langer Zeit zum selbstverständlichen Vokabular demokratischer Meinungsfindung. Diese Meinungsfindung muss in den kommenden Jahren auf europäischer Ebene dazu führen, dass wir uns von europhoben genauso wie von europhilen Aussagen verabschieden und zu einem gesunden „Europragmatismus“ finden.

Teils skeptische Haltung gegenüber Deutschland

Für mich stellt sich diese Aufgabe in Frankreich gerade ganz konkret. Als Mitglied der Nominierungskommission meiner Partei für die Europawahlen trage ich mit Verantwortung dafür, dass es uns gelingt, eine Liste aufzustellen, die den Herausforderungen der Europäischen Union in den kommenden fünf Jahren gerecht wird und dabei die französische Gesellschaft in ihrer Diversität abbildet. Es gilt, Kandidaten zu nominieren, die fachpolitisch gute Arbeit leisten, ohne dabei die Alltagssorgen der Bürger zu vernachlässigen. Es gilt, die Anliegen der französischen Wähler in Brüssel zu formulieren, ohne dabei um jeden Preis nationale Interessen durchsetzen zu wollen.

Im französischen Verständnis der Europapolitik spielt Deutschland dabei eine Schlüsselrolle. Einerseits herrscht Einigkeit, dass ohne den berühmten deutsch-französischen Motor auch nach den Parlamentswahlen wenig gelingen kann. Die Initiative für eine deutschfranzösische parlamentarische Versammlung ist dafür ein Beleg. Andererseits bleiben Teile der französischen Politik Berlin und seiner Wirtschaftskraft gegenüber misstrauisch. Diese Stimmen fühlen sich durch die zögerlichen Reaktionen auf die Reformvorschläge Emmanuel Macrons bestätigt.

Formulierung neuer Ziele

Der kommende Wahlkampf muss eine ehrliche Debatte über die Frage führen, ob Wähler und Politiker bereit sind, die Europäische Union weiter als Schicksalsgemeinschaft zu begreifen. Die Grundwerte, für die Europa steht und die in Artikel 2 des Lissabon-Vertrages verankert sind, müssen weiterhin die Handlungsgrundlage bilden: Solidarität mit Griechenland, Italien und Spanien in Fragen der Flüchtlingsverteilung gehört ebenso dazu wie die offene Diskussion mit jenen Mitgliedstaaten, die in den vergangenen Monaten rechtsstaatliche Errungenschaften infrage gestellt haben. Europa muss nach den Wahlen im Mai neue Ziele formulieren und neue Prioritäten setzen. Dann kann 2019 ein Schicksalsjahr werden, für Frankreich und für Europa – im besten Sinne.

Sabine Thillaye, geboren 1959 in Remscheid, seit Juni 2017 Abgeordnete für „La République En Marche!“, Vorsitzende des Europaausschusses der französischen Nationalversammlung. Sie vertritt einen Wahlkreis im Departement Indre-et-Loire.

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