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Anmerkungen zur politischen Kultur in der Hauptstadt

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„Das ist doch provinziell!“, heißt es oft. Also hinterwäldlerisch, unterentwickelt, spießig, engstirnig, zurückgeblieben, kurz: von gestern. Wer so charakterisiert wird, kann gleich einpacken und nach Hause gehen. Seit jeher funktioniert das Attribut „provinziell“ zugleich auf zwei Ebenen: ethnisch-geografisch und politisch-intellektuell. Klar, die Provinz war seit dem Römischen Reich stets das Periphere, „jottwedee“, wie der Berliner sagt, „janz weit draußen“, Eroberungen jenseits des Zentrums, jenseits der Metropolen. Das aber hieß stets auch: jenseits der politischen Macht und der kulturellen Entwicklung. Schon die Kunst der Renaissance entstand in italienischen Städten wie Siena und Florenz, nicht in den abgelegenen Bergen der Abruzzen oder an der Küste Kalabriens.

So hat sich bis heute der Dünkel gegenüber dem „platten Land“ und seinen „Provinzpolitikern“ gehalten, selbst wenn immer neue Wellen der Landlust, so der Titel einer Zeitschrift, durch die Republik wogten. Angeblich aber macht nur Stadtluft frei, während sich in den Dörfern die soziale Enge auch in den Köpfen widerspiegelt: geistige Beschränktheit, eisernes Festhalten an Traditionen, kommunikative Selbstgenügsamkeit.

Umso erstaunlicher, dass dieselben Phänomene in Metropolen anzutreffen sind, in denen doch angeblich Weltoffenheit, Vielfalt, multikultureller Austausch und urbane Intellektualität dominieren. Während die Provinzler stets nur mit ihresgleichen konfrontiert würden, herrsche in der großen Stadt, so zumindest die Legende, der unentwegte Austausch verschiedenster Kulturen, sozialer Realitäten und „bunter“ Individualitäten. Solche Urbanität, in der der Dichter auf den Denker trifft, die Künstlerin auf den Soziologen, mag es in einigen Häusern und Straßenzügen geben, in bestimmten Restaurants und Cafés, vor allem in akademisch geprägten Milieus. Doch die Lebenswirklichkeit der großen Mehrheit in den Städten sieht anders aus.

 

Eine Art Lindenstraße im Karree

Man lebt in seinem Viertel, das oft kaum weniger homogen ist als ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Bundesweit berühmt für ein derart dorfähnliches Biotop ist der fast schon sprichwörtliche Prenzlauer Berg in Berlin, jener „Kiez“ der Besserlebenden, in dem ein Menschenstamm zu wohnen scheint, der keine Sorgen kennt außer der Frage: „Ist das auch bio?“ Ein Stillleben der fortgeschrittenen Wohlstandsgesellschaft, eine Art Lindenstraße im Karree, ein Miniatur-Paradies, von dem nicht einmal Karl Marx zu träumen wagte.

Die böse Welt bleibt weitgehend draußen, irgendwo im Wedding, in Kreuzberg oder Neukölln. Kaum ein Flüchtling traut sich in diese postmoderne Idylle. Gewiss, ein paar Schwarze kehren nun den Bürgersteig vor den Restaurants, aber auch das sind nur Farbtupfer im Gesamtkunstwerk des glücklichen Zwergenreichs einer neuen sanften Bürgerlichkeit.

So ist es kein Wunder, dass hier Grüne, Linke und SPD überwältigende Mehrheiten erringen, ohne sich im Detail erklären zu müssen. So wie früher der Vater ein Leben lang CDU gewählt hat, machen heute Sohn und Tochter wie von selbst bei Grünen oder Linkspartei ihr Kreuz. Nur das Milieu hat sich geändert, nicht der Vorgang selbst, der wenig mit kritischer Reflexion zu tun hat. Freilich zeigt der aktuelle Niedergang der Grünen im Bund, dass auch deren Stammwähler sich zunehmend auf jene provinziellen Inseln zurückgezogen haben, wo der möglichst klimaneutrale „Fußabdruck“, Fahrradwege und Organic Food wichtiger sind als existenzielle Fragen wie Jobs und Sicherheit.

Eine verschärfte Variante dieser durchaus spießigen Kiezkultur ist in jenem Bezirk zu besichtigen, der seit der Wiedervereinigung Friedrichshain-Kreuzberg heißt. Im Kern aber geht es um das einst berühmte Westberliner Quartier im Schatten der Mauer, dort, wo die Nächte so lang waren wie die Tresen in den verrauchten Stammkneipen. Bis heute ist hier ein habitueller Retro-Linksradikalismus prägend, der konservativ-museale Züge trägt.

 

Folklore der Fundamentalopposition

Die CDU in Kreuzberg, man kann es nicht höflicher sagen, ist eine Splitterpartei. Hans-Christian Ströbele dagegen, dem bis heute kein kritisches Wort zu seiner einstigen Rolle als RAF-Anwalt einfällt, ist hier ein geradezu mythischer Held, obwohl er nie im Dorf der Aufständischen gewohnt hat.

In weiten Teilen Kreuzbergs reimt sich immer noch Anarchie auf Alltag wie zu Zeiten von Rio Reisers „Ton, Steine, Scherben“, und wenn die Revolution, die stets pünktlich zum 1. Mai mit voller Wucht, bei Blaulicht und Feuerwehrsirenen ausbricht, auch nur noch Folklore ist, so ist „Fundamentalopposition“ doch immer noch ein zentraler Bezugspunkt des politisch-kulturellen Milieus. Geistige Beschränktheit, eisernes Festhalten an Traditionen, kommunikative Selbstgenügsamkeit – nichts könnte das Provinzielle der Kreuzberger Kiez-Politik besser charakterisieren.

Selbst die Multikulti-Ideologie kann hier in ausländerfeindliche Ressentiments umschlagen, wenn die sich verändernde Metropolenwirklichkeit auf die hartnäckige Provinz im Kopf trifft. Jüngst wurde ein neues, von einer jungen New Yorkerin betriebenes Lokal im Kiez am berüchtigten Görlitzer Park mit Baseball-Schlägern attackiert. An die Wand pinselte die linksfaschistische Heimatschutztruppe: „Auslander Bonzen raus!“ Auch wenn diese militante Aktion gegen eine vermeintliche „Gentrifizierung“ von beinahe allen Seiten verurteilt wurde, ist sie doch typisch für jene Borniertheit, mit der man in Kreuzberg immer rechnen muss. Die führenden Bezirkspolitiker kennen ihre Klientel bestens und bedienen sie nach Kräften.

 

Ideologische Parallelgesellschaft

Für diese Art von Klientelismus steht auch die grün-alternative Bürgermeisterin Monika Herrmann, der selbst Parteifreundinnen die Förderung einer „ideologischen Parallelgesellschaft“ vorhalten. Bundesweit bekannt wurde sie durch ihren Umgang mit der seit Jahren von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule. Noch immer harren einige dort aus und blockieren den geplanten Umbau zu einer regulären Unterkunft. Der Kostenaufwand für den Bezirk geht längst in die Millionen. Ein Schildbürgerstreich, gegen den sich kein wirklicher Protest regt. Warum? Weil die Vertreter des ewigen Protests ja schon in der Regierung sitzen und nur das Beste wollen. Oder sollte jemand so reaktionär sein, die offenkundige Verschwendung von Steuergeldern anzuprangern?

So besonders die Kreuzberger Verhältnisse auch sind – sie sind durchaus repräsentativ für ganz Berlin, soweit es um das immer weitere Vordringen von Interessengruppen, Partikularinteressen und lobbyartige Pressure-Groups geht, die sich gerne als Vertreter des Allgemeinwohls inszenieren. Die „sozialen Medien“ machen es leichter als früher, mit geschickten Aktionen Agenda-Setting zu betreiben, und eine ebenso kritische wie schlagkräftige Hauptstadtpresse wie in Washington, Paris oder London gibt es nicht.

 

Stasi-belasteter Linksaktivist als Staatssekretär

Dabei sind die Baustellen Berlins gewaltig. Die größte, der auf kafkaeske Weise vor sich hindämmernde, längst gar nicht mehr neue Flughafen, setzt das Paradigma: fachliche Unfähigkeit, gepaart mit einem fulminanten Chaos der Zuständigkeiten und einer politischen Verantwortungslosigkeit, die dafür sorgt, dass niemand ernsthaft zur Rechenschaft gezogen wird. Unvergessen das Verwaltungsdesaster namens „LAGeSo“ auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle, unübertroffen in seiner politischen Instinktlosigkeit die Ernennung eines stasi-belasteten Linksaktivisten zum Staatssekretär für Stadtentwicklung. Hätte ihn nicht ein kurzer, aber heftiger Skandal aus dem Amt gefegt, wäre er einer von 25 Staatssekretären des rot-rot-grünen Senats geblieben. Das um ein Vielfaches größere Bundesland Nordrhein-Westfalen beschäftigt gerade einmal zehn Beamte in dieser hohen politischen Stellung.

Der Ur-Kreuzberger und Mitbegründer der linken taz Max Thomas Mehr kritisiert, dass es „eine gemeinsame Vorstellung, wo und wie sich politischer Wille heute herausbildet“, inzwischen nicht mehr gebe: „Das Gemeinwesen Berlin existiert nur noch als Ansammlung und Interessenvertretung von Kiez-Kulturen, Minderheiten und allerlei selbsternannten Expertengremien, denen jegliche Legitimation durch den Wahlbürger fehlt. Die Parteien sind eher leere Hüllen als Mittler zwischen Bürgerinteressen, Parlament und Regierung. Nirgendwo haben sich die politischen Parteien in ihren Konturen so aufgelöst wie in der Hauptstadt. Der kurze Herbst der friedlichen Revolution in Ost-Berlin hat auch kein neues Bürgertum geschaffen. Übrig geblieben sind Klüngel, die keine Idee von der Stadt als Metropole haben.“

Wenn das nicht provinziell ist.

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Reinhard Mohr, geboren 1955 in Frankfurt am Main, Journalist und Autor. Nach dem Studium der Soziologie arbeitete er für das von Daniel Cohn-Bendit verantwortete Frankfurter Stadtmagazin „Pflasterstrand“, die „tageszeitung“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und den „stern“. Von 1996 bis 2004 war er Kulturredakteur beim „Spiegel“, von 2006 bis Oktober 2010 freier Mitarbeiter für „Spiegel Online“. Seitdem schreibt er als freier Autor vor allem für die „Welt am Sonntag“.

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