Desinformationskampagnen und Fake News sind so alt wie die Geschichte des Krieges. Durch das Internet haben Qualität und Quantität von Desinformationskampagnen im 21. Jahrhundert jedoch ein bisher einmalig hohes Niveau erreicht.
Seit der Krim-Annexion im Jahr 2014 hat das System Putin die Intensität und Reichweite von Desinformationskampagnen signifikant erhöht. Für die Verbreitung von Inhalten werden neben herkömmlichen Kommunikationsmitteln, wie staatsnahen oder -eigenen Fernsehsendern oder Tageszeitungen, Instant Messaging-Dienste wie Telegram, Twitter oder Facebook genutzt.
Nach Angaben der deutschen Bundesregierung soll durch gezielte Desinformation „das Vertrauen in staatliche Institutionen untergraben werden“ […] „aktuell im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz konstatiert im Verfassungsschutzbericht von Juni 2022: „Zusätzlich zu seinen Spionageinteressen ist Russland weiterhin bestrebt, die politische und öffentliche Meinung in Deutschland durch die Verbreitung von Propaganda, Desinformation und weitere Einflussnahmeversuche zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Wichtige Werkzeuge sind dabei soziale Netzwerke, staatlich geförderte und private Institute (z. B. Thinktanks), einzeln agierende Einflussakteure sowie russische Staatsmedien. Diese weltweit sendenden TV-, Radio- und Internetkanäle streuen gezielt Narrative im Sinne der russischen Führung und kaschieren ihre Aktivitäten durch ein Auftreten als ‚autonome, gemeinnützige Organisation‘ beziehungsweise als Medium mit einem ‚anderen Blick‘ und versuchen so, sich als ‚offen und fair‘ arbeitend darzustellen.“1 Ziel der russischen Desinformationskampagnen sei die „Schwächung der deutschen Bundesregierung, um russische geostrategische und politische Ziele durchzusetzen“. Dazu würden bewusst kontroverse Themen mit Spaltungspotenzial aufgegriffen, um den politischen Diskurs zu polarisieren, die Bundesregierung zu diskreditieren und das Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Stellen zu untergraben.2
Am 24. Februar 2022, am ersten Tag der russischen Invasion in die Ukraine, sprach Präsident Putin im russischen Fernsehen zur russischen Bevölkerung. Zusammengefasst sind die Narrative seiner Rede die folgenden; sie finden sich hunderttausendfach kopiert in Telegram-Gruppen und anderen sozialen Medien in Deutschland, Europa und der Welt: „Die NATO bedroht die Existenz Russlands mit militärischen Mitteln.“ „Die westliche Kriegsmaschinerie nähert sich den russischen Grenzen.“ „Russland gehört zu den mächtigsten Nuklearmächten der Welt“, „ein direkter Angriff des Westens auf Russland wird zu nuklearen Konsequenzen führen“. „In der Ukraine wurde ein feindlich gesinntes Anti-Russland erschaffen, das unter vollständiger Kontrolle des Westens gestellt wurde.“ „Für Russland ist die Spezialoperation in der Ukraine eine Frage von Leben und Tod, eine Frage der historischen Zukunft als Nation.“ „Die führenden NATO-Länder unterstützen zum Erreichen ihrer eigenen Ziele extreme Nationalisten und Neonazis in der Ukraine.“ „Russland hat nicht vor, die ganze Ukraine zu besetzen, aber sie zu demilitarisieren.“ „Das Ziel der russischen Spezialoperationen ist ein Regimewechsel in der Ukraine.“ „Russland wird von der Ukraine bedroht und muss sich verteidigen.“3
Verbreitung ungefilterter Propaganda
Diese Narrative werden seit dem 24. Februar 2022 von Populisten, Radikalen und Extremisten in Deutschland und Europa aufgenommen, verbreitet und können dort potenziell im Rahmen von Desinformationskampagnen radikalisieren und zu extremistischer Gewalt führen.4
Russia Today DE war nach Angaben des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) in der ersten Kriegswoche mit Abstand das meistgeteilte Medium in den einschlägigen Kanälen und Gruppen auf Telegram: Verschwörungsgläubige, Radikale und Extremisten verbreiteten teilweise ungefiltert die Propaganda des Systems Putin und wurden damit im eigenen Milieu – etwa unter „Querdenkern“ – zu einer wichtigen Verbreitungsquelle russischer Desinformation. Für das System Putin positionierte sich die Mehrheit der zehn Kanäle mit den meisten Abonnenten – unter anderem die Kanäle der Verschwörungsideologen Eva Herman, Bodo Schiffmann und Reiner Fuellmich. Auch die Kanäle der sächsischen Kleinstpartei Freie Sachsen sowie der „Alternativmedien“ AUF1, Freie Medien und Ken Jebsen – Aufklärung und Information verorteten sich an der Seite Putins. Allgemein stellten Miro Dittrich, Jan Rathje und Martin Müller am 18. März 2022 für das CeMAS fest, dass die Top-10-Kanäle, die sich pro Putin positionierten, seit Beginn des russischen Angriffskriegs einen klaren Zuwachs verzeichnen konnten. Ebenso erzielten prorussische Kanäle, die zuvor eher weniger Abonnenten aufwiesen und vor dem Krieg nicht zu den reichweitenstärksten Kanälen des Milieus von „Querdenkern“, „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ sowie Rechtsextremisten zählten, einen großen Zuwachs.5
Inhaltlich wurde vor allem das Handeln der russischen Regierung entschuldigt: Putin „reagiere lediglich auf jahrelange Provokationen des Westens“ – vor allem der NATO. Der Kanal AUF1 bot dem Verschwörungsideologen Christoph Hörstel, der zwei verschwörungsideologische Kleinstparteien gegründet hat (Deutsche Mitte, Neue Mitte), mit einem Interview eine Plattform für diese Position. Bodo Schiffmann griff darüber hinaus die von Russland verbreitete Desinformation über eine „Entnazifizierung“ der Ukraine durch Russland auf, indem er behauptete, die NATO habe in der Ukraine eine faschistische Regierung an die Macht gebracht. Außerdem teilte er, wie auch Eva Herman, eine innerhalb des Milieus oftmals anzutreffende Desinformation über Biolabore in der Ukraine, die ebenfalls den Angriff Putins rechtfertigen sollte. Diese Labore sollen an der Grenze zu Russland beziehungsweise zur russisch besetzten Krim liegen, angeblich vom US-Verteidigungsministerium finanziert sein und an biologischen Waffen arbeiten. Diese Behauptungen sind seit Jahren Teil einer russischen Desinformationskampagne.6
Corona und „The Great Reset“
Sehr deutlich werde nach Angaben von CeMAS innerhalb des Gesamtmilieus der Bezug zur Corona-Pandemie und zu damit verbundenen Themen wie der Errichtung einer „Neuen Weltordnung“ oder der Vergiftung der Bevölkerung durch Impfungen hergestellt. Eva Hermans mit 277.532 Aufrufen reichweitenstärkstes Posting, aber auch Bodo Schiffmann und die Freien Sachsen behaupten, dass „der Krieg in der Ukraine von einer geplanten Zwangsimpfung ablenken“ solle.
AUF1, Freie Medien sowie die Kanäle von Bodo Schiffmann, Reiner Fuellmich und Oliver Janich sehen den Krieg in der Ukraine als Teil des verschwörungsideologischen Masterplans The Great Reset („Der große Neustart“). Schiffmann, Janich und Fuellmich unterstellen, der Krieg solle den Umsetzungsprozess, der mit COVID-19 begonnen habe, beschleunigen. Fuellmich behauptete in einem Interview mit dem verschwörungsideologischen „alternativen“ Medium Bittel TV vom 28. Februar 2022 gar, er könne keine Kampfhandlungen in der Ukraine wahrnehmen. Auch die ältere Chiffre von der „Neuen Weltordnung“ wird im Zusammenhang mit dem Great Reset von AUF1 und Schiffmann genutzt. AUF1 hebt in einem der analysierten Postings besonders die Rolle von „Globalisten“ bei der Verschwörung hervor. Bei dem Begriff handelt es sich um eine antisemitische Chiffre, die vor allem in verschwörungsideologischen und rechtsextremistischen Milieus genutzt wird.7
Weitverbreitete Verschwörungstheorien
Die zehn reichweitenstärksten deutschsprachigen Telegram-Kanäle – reitschuster. de, Eva Herman Offiziell, AUF1, GemEINSam stark – JETZT, Freie Medien, Alles Ausser Mainstram, Reiner Fuellmich, Oliver Janich öffentlich, Freie Sachsen sowie Ken Jebsen – Aufklärung und Information – mit verschwörungsideologischen Inhalten kamen mit Stand 11. März 2022 auf über 1.854 Millionen Abonnenten. Sie werden – nicht exklusiv – unter anderem von Verschwörungsgläubigen, Radikalen und Extremisten – konsumiert. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine spielt eine hervorgehobene Rolle innerhalb des deutschen Milieus von Verschwörungsgläubigen, Radikalen und Extremisten. Die im Augenblick mehrheitliche Positionierung pro System Putin ist nicht überraschend, da sie bereits seit Jahren Teil des verschwörungsideologischen Milieus ist.8
Eine aktuelle repräsentative CeMAS-Umfrage im Zeitraum vom 1. bis 12. April 2022 in Deutschland zeigt, wie weit Verschwörungserzählungen über den russischen Krieg gegen die Ukraine verbreitet sind. Etwa ein Fünftel der Befragten stimmt entsprechenden Aussagen demnach eher zu. Deutlich höher ist der Wert bei AfD-Wählern, Ungeimpften und Corona-Demonstranten. In der Umfrage wurde die Zustimmung zu einer ganzen Reihe von Aussagen abgefragt. Rund zwölf Prozent der Befragten stimmten ganz und fast zwanzig Prozent zumindest teilweise der Aussage zu, Wladimir Putin gehe „gegen eine globale Elite vor, die im Hintergrund die Fäden zieht“. Dass der russische Präsident „vom Westen zu einem Sündenbock gemacht“ werde, „um von den wahren Problemen abzulenken“, glaubten gut fünfzehn Prozent voll und ganz und etwa sechzehn weitere Prozent teilweise. Der Verschwörungserzählung, die Ukraine betreibe zusammen mit den USA geheime Labore zur Herstellung von Biowaffen, stimmten knapp sieben Prozent vollständig zu und doppelt so viele teilweise.9 Ebenfalls weit verbreitet ist der Umfrage zufolge eine Skepsis gegenüber westlichen Medien. Der Aussage, man könne ihnen in der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine nicht trauen, stimmten vierzehn Prozent vollständig zu, mehr als 21 Prozent teilweise.
Das System Putin wird sehr wahrscheinlich intensive Kooperationsformen mit den Feinden der liberalen Demokratien suchen, also beispielsweise mit Rechtsextremisten und anderen Staatsgegnern in Deutschland und Europa. In Zeiten von Krisen haben es Extremisten leichter, zu destabilisieren, Propaganda zu verbreiten und zu rekrutieren. Eine potenziell signifikante Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, insbesondere auch durch die Preissteigerungen, hätte damit potenziell auch Auswirkungen auf die Innere Sicherheit Deutschlands und Europas. Nach Angaben von Eleonora Heinze und Manuel Steudle, Autoren einer Kurzstudie für die Hanns-Seidel-Stiftung, stehe „Deutschland russischen Desinformationskampagnen relativ unvorbereitet gegenüber“. Eines der Probleme sei, „neben fehlender Ausbildung staatlicher Institutionen, die mangelhafte öffentliche Kommunikation von Seiten der Politik, obwohl Politik und Sicherheitsbehörden nach Expertenmeinung genau wüssten, wer hinter diesen Desinformationskampagnen steckt“.10 Dabei könnte sich die deutsche Politik an Tschechien und Estland orientieren, die sich mit einem Zusammenspiel staatlicher und zivilgesellschaftlicher Mittel in erprobter Weise erfolgreich gegen russische Desinformationskampagnen behaupten. So verfüge etwa Tschechien über eine Spezialeinheit innerhalb des Innenministeriums, die auf das Erkennen und Analysieren von Desinformationskampagnen spezialisiert sei und in kurzer Zeit in Abstimmung mit anderen Ministerien und Nichtregierungsorganisationen Gegenmaßnahmen in Stellung bringen könne. Eine ähnliche Spezialeinheit findet sich auch in Estland.
Die deutsche Politik und die Leitungen der deutschen Sicherheitsbehörden sollten erkennen, dass die deutsche Sicherheitsarchitektur angesichts des Angriffskriegs in Europa vor neuen Herausforderungen steht und sie daher ein Zentrum beziehungsweise einen Beauftragten samt Behörde für das Erkennen und Analysieren von Desinformationskampagnen einrichten sollten, das/der konkrete Handlungsableitungen erarbeitet und eng mit den Sicherheitsbehörden einerseits und zivilgesellschaftlichen Stellen andererseits kooperiert. Im Zeitalter einer sicherheitspolitischen „Zeitenwende“ sollte hier innovativ gedacht und rasch gehandelt werden.
Stefan Goertz, promovierter Staatswissenschaftler, Professor für Sicherheitspolitik, Schwerpunkt Extremismus- und Terrorismusforschung, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei, Lübeck.
Dieser Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.
1 Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin 2022, S. 278.
2 Vgl. ebd., S. 277–278.
3 „Krieg in der Ukraine. Die Rede von Wladimir Putin im Wortlaut“, in: Zeit online, 24.02.2022, www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/wladimir-putin-rede-militaereinsatz-ukraine-wortlaut?utm_refer [letzter Zugriff: 15.08.2022].
4 Vgl. Stefan Goertz: „Der Krieg in der Ukraine. Folgen für Deutschland und Europa“, in: Kriminalistik, Nr. 7/2022, S. 404–406.
5 Vgl. Miro Dittrich / Jan Rathje / Martin Müller: Telegram-Analyse zum Ukraine-Krieg. RT DE dominant im verschwörungstheoretischen Milieu, 18.03.2022, https://cemas.io/blog/telegram-rt-ukraine/ [letzter Zugriff: 15.08.2022]; Stefan Goertz: „Der Krieg in der Ukraine. Folgen für die Innere Sicherheit Deutschlands und Europas“, in: Polizei, Verkehr und Technik, Nr. 3/2022, S. 11–12.
6 Vgl. ebd.
7 Vgl. ebd.
8 Vgl. Stefan Goertz: „Der Krieg in der Ukraine. Folgen für Deutschland und Europa“, a. a. O., En. 4, S. 406–407.
9 Vgl. Felix Huesmann: „Verschwörungsmythen zum Krieg gegen Ukraine: Ungeimpfte und AfD-Wähler besonders anfällig“, in: RedaktionsNetzwerk Deutschland, 05.05.2022, www.rnd.de/politik/umfrage-ungeimpfte-und-afd-waehler-glauben-staerker-an-verschwoerungen-hinter-ukraine-krieg-2TSBI4VWMZGZXN7LU2S2LSLN74.html; https://cemas.io/publikationen/von-der-krise-zum-krieg-verschwoerungserzaehlungen-ueber-den-angriffskrieg-gegen-die-ukraine-in-der-gesellschaft/2022_05_CeMAS_ResearchPaper_Verschwoerungserzaehlungen_Ukraine.pdf [letzter Zugriff: 15.08.2022].
10 Vgl. Eleonora Heinze / Manuel Steudle: Vor und während der Ukraine-Invasion: Russlands Einsatz von Desinformation, Hanns-Seidel-Stiftung, 01.04.2022, www.hss.de/news/detail/russlands-einsatz-von-desinformationen-news8625 [letzter Zugriff: 15.08.2022].