Das Gymnasium steht im Fokus der bildungspolitischen Debatte: Im Kontext einer „Elitenbildung“ geht es grundsätzlich um die Rolle des Gymnasiums; im Rahmen bestimmter Reformen bei der Lehrerbildung wird der „Einheitslehrer“ thematisiert und damit die Zukunft des Gymnasiallehrers infrage gestellt; zum achtjährigen Gymnasium gibt es eine Reihe von Initiativen, die eine Rückkehr zum G9 anstreben; und nicht zuletzt hat John Hattie (vergleiche auch das Interview in dieser Ausgabe, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/interview-great-teachers) mit seinem Werk Lernen sichtbar machen die Auseinandersetzung mit dem Gymnasium angeregt, weil er die Bedeutung des Lehrers als Regisseur und entsprechender Unterrichtsmethoden in den Mittelpunkt rückt. All das sind Bestandteile der zentralen Frage: Was zeichnet ein gutes Gymnasium aus?
Diese Fokussierung bleibt in erziehungswissenschaftlichen Diskussionen nicht ohne Kritik: Das Attribut „gut“, so wird argumentiert, würde viel zu plakativ und inflationär verwendet. „Gut“ sei keine wissenschaftliche Kategorie und müsse als Diskussionsbegriff entfallen. Allerdings negiert diese Schlussfolgerung, dass pädagogisches Handeln, wie jedes Handeln, normativ ist und daher immer Wertungen beinhaltet. Insofern kann, ja muss pädagogisches Handeln mit „gut“ oder auch „schlecht“ beschrieben werden können – auch im Gymnasium. Vielmehr liegt das Problem darin, dass die zugrunde liegenden Wertemaßstäbe häufig unscharf und uneinheitlich sind sowie meistens auch unreflektiert verwendet werden. Abhilfe kann ein erkenntnistheoretischer Zugang leisten, der auf Ken Wilbers Integraler Philosophie basiert.
„Prüft alles! Behaltet das Gute!“
Ken Wilbers Kernthese lautet, dass sich niemand zu hundert Prozent irrt und in jeder Aussage ein Stück Wahrheit steckt. Insofern kommt es darauf an, verschiedene Perspektiven miteinander zu verbinden – gemäß einer eklektischen Grundhaltung, wie sie bis in die Antike zurückverfolgt werden kann und in den Worten des Apostels Paulus kulminiert: „Prüft alles! Behaltet das Gute!“ (1 Thess 5, 21). Im sogenannten Quadrantenmodell entwickelt Ken Wilber ein erkenntnistheoretisches Modell, anhand dessen auch für unseren Zusammenhang die wichtigsten Perspektiven identifiziert werden können:
Was ist ein „gutes“ Gymnasium?
Was ist ein "freudvolles" Gymnasium? subjektiv |
Was ist ein "effektives" Gymnasium? objektiv |
Was ist ein "kulturell passendes Gymnasium? intersubjektiv |
Was ist ein "funktional passendes" Gymnasium? interobjektiv |
Der objektive Zugang zielt auf Messbarkeit und Beobachtbarkeit als zentrale Kategorien. Im pädagogischen Kontext geht es in diesem Quadranten dementsprechend darum, Kriterien aufzuzeigen, die dem Schulerfolg nachweislich dienlich sind – Effektivität ist das Maß aller Dinge. Insofern lautet die entscheidende Frage: „Was ist ein effektives Gymnasium?“
Das bereits genannte Werk John Hatties fasst den derzeit verfügbaren Kenntnisstand zu den Bedingungen erfolgreichen Lernens zusammen: Akzeleration, Feedback, Lehrer-Schüler-Beziehung und direkte Instruktion sind wichtige Faktoren. Und dennoch ist an dieser Stelle Vorsicht geboten. Denn John Hattie nimmt vornehmlich sprachlich-linguistische und logisch-mathematische Intelligenzen in den Blick und vernachlässigt beispielsweise körperlich-kinästhetische und musikalisch-rhythmische, die aber ebenso zum gymnasialen Ziel der Allgemeinen Hochschulreife gehören.
Der zweite Zugang ist ein subjektiver, der Interessen, Wünsche und Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Aussagen in diesem Quadranten können nicht überprüft werden, sondern sind interpretierend zugänglich. Bezogen auf unseren Zusammenhang lautet die Teilfrage: „Was ist eine freudvolle Schule?“
Folglich geht es um die Befindlichkeiten aller Beteiligten – nicht nur um die von Schülern, sondern auch um die von Lehrern, Eltern und allen anderen, die direkt oder indirekt am schulischen Geschehen mitwirken. Dabei interessiert nicht so sehr, ob das Gymnasium den Lehrplan umsetzt und Kompetenzen anbahnt, sondern ob die Zeit auf dem Gymnasium als erfüllte Lebenszeit wahrgenommen wird. Es ist bemerkenswert, dass eine erfüllte Lebenszeit nicht immer effektiv genutzt werden muss, sondern auch Phasen der Langeweile, des Nichtstuns und der Erholung dazugehören. Schule ist Lebenszeit, die nicht bis in ihre kleinsten Zeiteinheiten zerlegt werden muss. „Turbo-Abitur“ und „Lerntorpedos“ sind Wörter des öffentlichen Bildungsdiskurses zum achtjährigen Gymnasium, die das daran gekoppelte Problem auf den Punkt bringen.
Drittens besteht ein intersubjektiver Zugang, dessen Ziel in einem „kulturellen Passen“ besteht und Gerechtigkeit sowie Richtigkeit als zentrale Kriterien nennt. Werte und Normen, Regeln und Rituale sind Inhalte dieses Quadranten. Sie können weder empirisch gewonnen noch vom Einzelnen festgelegt werden, sondern bedürfen der diskursiven und argumentativen Auseinandersetzung in der Gemeinschaft. Im schulischen Kontext lautet die Frage also: „Was ist ein kulturell passendes Gymnasium?“
Hier geht es folglich um den Bildungsauftrag, die Bildungsziele und -inhalte, die immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden müssen. Von Interesse ist auch, ob es dem Unterricht gelingt, diejenigen Inhalte zu vermitteln und Kompetenzen anzubahnen sowie diesen selbst auch gerecht zu werden, die grundlegend für die Gesellschaft sind: Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Toleranz, Medien-, Umwelt- und Fremdsprachenkompetenz, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ein gutes Gymnasium misst sich also auch daran, was und wie es unterrichtet und erzieht, und nicht nur daran, ob es dies tut.
Darf Elite sein?
Von hier aus kann die „Elitenbildung“ kritisch beleuchtet werden, denn es wird ersichtlich, dass die Frage, was eine Elite ist, nicht einfach beantwortet werden kann. Sicherlich bezieht sie sich nicht nur auf mathematische, naturwissenschaftliche und sprachliche Fähigkeiten, sondern auch auf soziale, künstlerische und andere Kompetenzen. Demzufolge kann das Gymnasium durchaus ein wichtiger Teil einer „Elitenbildung“ sein, sofern es sich dem Konzept einer Allgemeinbildung im weitesten Sinn verpflichtet sieht – aber es liegt ebenso auf der Hand, dass es das Feld einer „Elitenbildung“ nicht mit einem Alleinstellungsmerkmal für sich in Anspruch nehmen kann.
Viertens kommt ein interobjektiver Zugang hinzu, der einen systemischen Anspruch erhebt und ein „funktionales Passen“ fokussiert. Dahinter verbirgt sich die an die Systemtheorie von Niklas Luhmann angelehnte Auffassung, dass jeder Mensch in einen systemischen Zusammenhang eingebettet ist, der komplex und mannigfaltig ist: Familie, Peers, Wirtschaft, Politik und Kirche, um die vielleicht wichtigsten Systeme zu nennen. Jedes dieser Systeme folgt eigenen Regeln, hat unterschiedliche Funktionen und verwendet spezifische Codes, sodass es zu Spannungen kommen kann. Beispielsweise geht es der Politik in erster Linie um Macht, die Kirche agiert im Kontext des Glaubens, und die Wirtschaft verfolgt das Ziel des finanziellen Gewinns. In diesen systemischen Zusammenhang ordnet sich die Schule als ein eigenes System ein, für das die Bildung der Kernauftrag ist. Sie steht vor der Herausforderung, den Erwartungen, die von den anderen Systemen an sie herangetragen werden, bei gleichzeitiger Wahrung der systemischen Eigeninteressen gerecht zu werden und die damit verbundenen Differenzen auszuhalten oder aufzulösen. Damit ist die Debatte um die Frage „Was ist ein funktional passendes Gymnasium?“ eröffnet.
Einheitslehrer ohne Profil
Das Schulsystem lässt sich nur mit Blick auf politische, wirtschaftliche und viele weitere Systeme in seiner Komplexität erfassen. Vor diesem Hintergrund bietet sich eine Stellungnahme zum „Einheitslehrer“ an: Wenn Schule in einen systemischen Kontext eingebettet ist, dann steht jeder Lehrer vor der Herausforderung, die sich daraus ergebenden Wechselwirkungen zu kennen und damit in angemessener Weise umgehen zu können. Diese sind in besonderem Maß abhängig von der Schulart – das Gymnasium, ebenso wie die Grundschule, die Hauptschule und die Realschule, hat einen bestimmten Bildungsauftrag, der vonseiten des Lehrers spezielle Fähigkeiten erfordert. Diese umfassen – dem Wilber’schen Quadrantenmodell folgend – nicht nur Sach-, Ich- und Sozialkompetenzen, sondern auch Systemkompetenzen. Vom Gymnasium wird beispielsweise erwartet, dass die Abiturienten in der Lage sind, ein Hochschulstudium zu absolvieren – eine Aufgabe, die in dieser Deutlichkeit keine andere Schulart zu erfüllen hat. Es steht damit außer Frage, dass für das Gymnasium ein spezielles Lehrerprofil notwendig ist und ein „Einheitslehrer“ letztendlich diesem Anspruch nicht gerecht werden kann.
Bloß nicht einseitig werden
Kernaussage des Ansatzes von Ken Wilber ist nun, dass die Beantwortung komplexer Fragestellungen nicht nur mithilfe eines Zuganges erfolgen kann, sondern alle genannten Perspektiven berücksichtigt werden müssen. Infolgedessen sind bei der Auseinandersetzung mit der Frage, was ein gutes Gymnasium auszeichnet, mindestens die Fragen nach einem effektiven, einem freudvollen, einem kulturell passenden und einem funktional passenden Gymnasium zu beantworten. Dabei zeigt sich, dass die damit verbundenen Teilfragen selbst in einem Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen und jeder Versuch, isoliert aus einem Zugang heraus zu antworten, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Es lässt sich beispielsweise nicht allein anhand der PISA-Ergebnisse sagen, ob das Gymnasium eine gute Schule ist. Vielleicht kann damit beantwortet werden, wie effektiv das Gymnasium im Hinblick auf die Vermittlung von mathematischen, naturwissenschaftlichen und sprachlichen Kompetenzen im Ländervergleich ist, aber nicht, ob die Beteiligten ihre Gymnasialzeit als erfüllte Lebenszeit wahrnehmen, ob die Werte unserer Gesellschaft in einer angemessenen Weise im Schulleben verankert sind und ob die Abiturienten auf ihre wirtschaftlichen, politischen und anderen gesellschaftlichen Aufgaben ausreichend vorbereitet sind.
Welcher Schluss lässt sich angesichts der angestellten Überlegungen ziehen? Bildungspolitische Diskussionen zur Rolle und zur Zukunft des Gymnasiums liefen in der Vergangenheit häufig Gefahr, einseitig aus nur einer Perspektive zu argumentieren – meistens mithilfe eines objektiven Zuganges. Verkürzende oder, wie es Ken Wilber nennt, reduktionistische Überlegungen waren die Folge, die der Komplexität des Gymnasiums weder theoretisch noch praktisch gerecht wurden. Die Frage, was ein gutes Gymnasium auszeichnet, erfordert mindestens die Beantwortung der vier Teilfragen, ob es eine effektive, eine freudvolle, eine kulturell passende und eine funktional passende Schule ist – unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beeinflussungen.
Klaus Zierer, geboren 1976 in Vilsbiburg, Lehrstuhlinhaber für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Allgemeine Didaktik / Schulpädagogik und Direktor des Didaktischen Zentrums, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.