In Frankreich wie Deutschland dominieren die Terroranschläge der vergangenen Jahre nicht nur die politische und gesellschaftliche, sondern auch die polizeiliche und geheimdienstliche Agenda. Insbesondere die Doppelanschläge von Paris im Januar und November 2015, die Anschlagsserie 2016 in Brüssel, die Lkw-Anschläge von Nizza und Berlin haben Einfluss auf die gesellschaftliche Atmosphäre. Dabei erwächst die Verunsicherung der Bevölkerung weniger aus der Höhe der Opferzahlen oder statistischen Wahrscheinlichkeiten als daraus, dass jeder sich als potenzielles Opfer fühlen kann. Die Vorschläge aus der Politik – unabhängig von der politischen Verortung – sollen die Handlungsfähigkeit des Staates vermitteln. Die Maßnahmen der Regierungen zielen sowohl auf die objektive Sicherheit als auch auf das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ab.
Verliert die Politik den Blick auf die nötige Balance von Freiheit und Sicherheit, hat der islamistische Terror damit sein Ziel schon erreicht: die erfolgreiche Verbreitung von Angst und Schrecken, die Destabilisierung der Gesellschaften sowie die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas. Auch Überreaktionen durch Politik, Polizei und Geheimdienste sollen provoziert werden und sind Teil der Strategie.
Für Deutschland und Frankreich, aber auch alle anderen westlichen Gesellschaften lässt sich eine gemeinsame Bedrohungslage dahin gehend konstatieren, dass das westliche Lebensmodell mit einem hohen Maß an Freiheit bei gleichzeitiger Gewährleistung von sozialer Sicherheit und Wohlstand im Fokus steht. Es geht bei den terroristischen Attacken gerade nicht um einen gezielten Angriff auf einzelne Staaten, Bevölkerungsgruppen oder Orte, sondern um die Destabilisierung des „Westens“ – mithin einen Kulturkampf. Insofern sind Deutschland und Frankreich gleichermaßen Ziel und Aktionsraum für islamistischen Terrorismus.
Die verbreitete Hoffnung, dass sich Deutschland nicht im Zentrum der terroristischen Aktivitäten befinde, weil es durch die Kolonialgeschichte weniger belastet sei als etwa Frankreich, weil es sich beim militärischen Einsatz gegen den IS weniger engagiere oder freundlicher mit Flüchtlingen umgehe, hat sich als trügerisch erwiesen. Ein Anschlag in Deutschland war nie auszuschließen, sondern wahrscheinlich und eine Frage der Zeit.
Trotz der grundsätzlich vergleichbaren Situation ergeben sich für Deutschland, Frankreich, Belgien oder andere Staaten deutliche Unterschiede in der konkreten terroristischen Bedrohung. Diese beziehen sich auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wirtschaftliche und soziale Situationen sowie polizeiliche und geheimdienstliche Ressourcen.
Frankreich stand mit dem gezielten Terroranschlag gegenüber der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und elf Toten am Beginn der Anschlagsserie des Jahres 2015. Auch aufgrund der verringerten Ausreisen von „Gotteskriegern“ aus Westeuropa nach Syrien und Irak zeigt sich eine Verlagerung der Auseinandersetzung nach Europa. Eine veränderte interne Bedrohungslage ist die Folge.
Frankreich hat daraufhin Maßnahmen ergriffen, die nach den Anschlägen von Paris am 13. November 2015 mit 130 Toten verlängert und sogar verschärft wurden:
- Der seit den 1970er-Jahren bestehende Maßnahmenplan im Falle von Bedrohungen (Plan Vigipirate) wurde modifiziert.
- Als Reaktion auf die Pariser Anschläge wurde der Ausnahmezustand für Frankreich ausgerufen, Grenzkontrollen wurden eingeführt, Reservisten einberufen und die mit der GSG 9 vergleichbaren Spezialeinsatzkräfte der Polizei aktiviert.
- Zusätzlich wurden Notstandsgesetze verabschiedet, die Mitte Dezember 2016 bis zum 15. Juli 2017 zum fünften Mal verlängert wurden. Diese sehen Hausdurchsuchungen ohne richterliche Genehmigung, Hausarrest ohne gerichtliches Verfahren, Versammlungsverbote sowie Möglichkeiten zur Schließung von Moscheen auf Beschluss des jeweiligen Präfekten vor. Insgesamt stehen 96 Franzosen unter Hausarrest, davon 47 seit dreizehn Monaten ohne Anspruch auf eine richterliche Überprüfung.
- Im April 2016 formulierte die französische Regierung das ambitionierte Ziel, innerhalb von zwanzig Minuten an allen Orten in Frankreich polizeiliche oder militärische Antiterroreinheiten aktivieren zu können.
Die Maßnahmen in Frankreich lassen sich nicht nur durch das Bemühen um Sicherheit erklären, sondern zeigen vielmehr die Schwäche der Politik. Unter öffentlichem Druck stehend, mit – in der Innen- und Sicherheitspolitik profilierteren – politischen Gegnern konfrontiert, neigte die sozialistische französische Regierung dazu, jeglichem Ausdruck einer Schwäche des Staates entschieden entgegentreten zu wollen.
Nach 2001 wurde auch in Deutschland eine Reihe rechtlicher Veränderungen (sogenannter Otto-Katalog) vorgenommen, zu denen die Rasterfahndung nach islamistischen Terroristen gehörte. Trotz Einschränkungen lässt das Bundesverfassungsgericht seit 2006 eine präventive polizeiliche Rasterfahndung zu, sofern eine konkrete Gefahr für die Sicherheit des Bundes, für Leib und Leben besteht. Die kurz vor Weihnachten 2016 durch das Kabinett verabschiedeten Gesetzentwürfe zur Stärkung der inneren Sicherheit sehen unter anderem die Ausweitung von Videoüberwachung, inklusive einer intelligenten Gesichtserkennung und eines automatischen Systems zum Lesen von Autokennzeichen, sowie Bodycams für die Bundespolizei vor.
Im Vergleich zu Frankreich muten die in Deutschland getroffenen Maßnahmen geradezu zurückhaltend und detailverliebt an. Entgegen öffentlichen Mutmaßungen ist Deutschland in der inneren Sicherheit ein starker Staat, der unter einer CDU-geführten Regierung nicht überreagieren muss. Die Konzentration auf Details und konkret bestehende Probleme zeigt die politische Stärke. Deutschland braucht keinen Ausnahmezustand, um sich als stark zu präsentieren.
Erhöhung der subjektiven Sicherheit
Die ergriffenen Maßnahmen zielen nicht ausschließlich auf die Erhöhung der objektiven Sicherheit, sondern auch auf die Steigerung des subjektiven Sicherheitsgefühls ab. Einige Forderungen, beispielsweise Polizeibeamte auf Weihnachtsmärkten mit Maschinenpistolen zu bewaffnen, die Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr, die Unterstützung der Polizei durch Hilfspolizisten oder generell die Erhöhung der Anzahl von uniformierten Polizisten bedienen das subjektive Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung – haben aber weniger Wirkung in der Erhöhung der objektiven Sicherheit.
Die Analyse der bisherigen Terroranschläge zeigt, dass es trotz rechtlicher, polizeilicher und geheimdienstlicher Grundlagen und operativer Möglichkeiten keine vollständige Sicherheit geben kann. Der Anschlag auf Charlie Hebdo konnte weder durch die in Frankreich vorgesehene Vorratsdatenspeicherung noch – und das ist viel bedenklicher – durch die zuvor erfolgte Observation der beiden Haupttäter, Said und Chérif Kouachi, verhindert werden. Dass es dem Staat auch nicht grundsätzlich an den Möglichkeiten zur Überwachung potenzieller Gefährder gefehlt hat, zeigte die Einstufung von Anis Amri als Gefährder und die erfolgte, aber dann eingestellte Überwachung der Telekommunikation des Terroristen. Dies verweist eher nicht auf fehlende rechtliche oder polizeiliche Möglichkeiten, sondern auf noch genauer zu untersuchende Fehleinschätzungen, gegebenenfalls mangelnde Personalausstattung, unzureichende Kommunikation der Verfassungsschutzämter, beziehungsweise Ausbildungsdefizite der Mitarbeiter in den Verfassungsschutzbehörden. Insofern ist die vom Bundesinnenminister angestoßene Diskussion über die Zusammenführung nicht ganz unberechtigt.
Täter und Tätergruppen im Fokus
In der Bekämpfung von Terrorismus rücken unweigerlich die Täter, Tätergruppen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen Radikalisierung stattfinden kann, in den Fokus. Auch hier zeigen sich zwischen Deutschland, Belgien und Frankreich deutliche Unterschiede, die über die gemeinsame abstrakte Bedrohungslage hinausgehen.
Die Gefährdung durch islamistischen Terrorismus besteht weniger darin, dass Terroristen vorrangig nach Europa importiert werden; in der Vergangenheit ist (West-)Europa mit circa 5.000 „Gotteskriegern“ eher im „Export“ von Terrorismus aufgefallen. Dabei sind die absoluten Zahlen wenig aussagekräftig: Frankreich verzeichnete über 900 Ausreisen, Belgien über 500, Großbritannien über 700 und auch Deutschland war mit knapp 800 Ausreisen nach Syrien und Irak als Herkunftsland auffällig. Interessanter ist allerdings die Anzahl gemessen auf eine Million Einwohner: Hier verzeichnet Belgien 41, Österreich 31, Schweden 28, Dänemark 22, Frankreich vierzehn sowie Deutschland neun Ausreisen auf eine Million Einwohner (International Center for Counter Terrorism, 2016: The Foreign Fighters Phenomenon in the European Union, Den Haag, S. 50 f.) Auch die Täter der bisherigen Anschläge innerhalb Europas kamen in der Regel aus dem Anschlagsland selbst. Dieser Homegrown-Terrorismus stellt somit eine größere Gefahr dar, zumal in der Regel radikalisierte Jugendliche mit Kontakten in die islamistische Szene die Anschläge als Einzeltäter begehen.
Geht es um die Bekämpfung der Ursachen, so müssen die Jugendlichen in Deutschland und Frankreich in den Blick genommen werden, die in einem Selbstmordanschlag oder dem Engagement als „Gotteskrieger“ einen höheren Sinn ihres Lebens sehen.
Ein Blick in die belgischen oder französischen Vorstädte von Brüssel, Paris oder anderen Großstädten offenbart tatsächliche Parallelgesellschaften; in Deutschland hingegen kann (noch) von Parallelstrukturen gesprochen werden, die allerdings ebenfalls soziale Segregation und Ausgrenzung deutlich werden lassen. Ein Blick auf die Arbeitslosenstatistik des Brüsseler Stadtteils Molenbeek offenbart eine Gesamtarbeitslosenquote von 30,7 Prozent und eine Jugendarbeitslosigkeit von 45,1 Prozent. Auch die Pariser Vorstädte weisen ähnliche soziodemografische Defizite und Problemlagen auf, die nicht nur ein Indikator für Parallelgesellschaften sind, sondern auch ein hohes Radikalisierungspotenzial bieten. Zu beobachten ist ein enger Zusammenhang mit der Art der Zuwanderung: Haben wir es beispielsweise in Frankreich eher mit einer Zuwanderung aus ehemaligen Kolonien zu tun, so war für Deutschland eine Arbeitsmigration prägend. Doch auch in Deutschland gibt es Radikalisierungsprozesse, die sich gegebenenfalls in den kommenden Jahren verschärfen können. Das Bundeskriminalamt (BKA) zählt 549 islamistische Gefährder (davon achtzig inhaftiert) sowie im weiteren Umfeld etwa 360 Unterstützer. Hinzu kommen etwa 1.200 Extremisten, die dem islamistisch-terroristischen Personenpotenzial zugerechnet werden können.
Die Studie des Verfassungsschutzes zu den „Gotteskriegern“ aus Deutschland offenbart ähnliche Problemlagen wie die anderer Staaten, wenn sie auch nicht identisch sind. 61 Prozent der aus Deutschland Ausgereisten wurden hier geboren, teilweise waren schon vor Beginn der Radikalisierung Auffälligkeiten durch Gewalt-, Eigentums- oder Drogenkriminalität zu erkennen. Es handelt sich vorrangig um junge Männer, die sich nicht als Teil unserer Gesellschaft sehen (BKA/BfV/HKE, 2015: Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind, Fortschreibung 2015, Wiesbaden, S. 14.). Nicht empfehlenswert ist es für Politiker, von einem „Kontrollverlust“ des Staates zu sprechen, da damit das Vertrauen nicht nur in Staat und Sicherheitsbehörden, sondern auch in die Handlungsfähigkeit von Politik unterminiert wird. Partielle und zeitlich begrenzte Kontrollverluste im Jahr 2015 an den deutschen Außengrenzen waren einer Ausnahmesituation zuzuschreiben und lassen sich nicht auf die innere Sicherheit in Deutschland übertragen. Die Reaktionsgeschwindigkeit nach der Tat – einer vermeintlichen Terrorlage – in München, zeigte eindrucksvoll, wie einsatzfähig deutsche Sicherheitsbehörden sein können. Die Forderung nach mehr (uniformierter) Polizei wird an der objektiven Sicherheit weniger ändern als vermehrte Einstellung von (nicht uniformierten) und kompetenten Mitarbeitern bei Staats- oder Verfassungsschutz. Hier gibt es allerdings auch in Deutschland einen gravierenden Nachholbedarf.
Bestehende Straftatbestände, zum Beispiel Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Paragraf 129 a Strafgesetzbuch) sowie Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (Paragraf 89 a Strafgesetzbuch) bilden einen rechtsstaatlichen Handlungsrahmen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (und auch der Europäische Gerichtshof) im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung Grenzen gezogen, aber nicht alle bestehenden Handlungsmöglichkeiten genommen. Probleme bestehen weniger in rechtlich fehlenden Kompetenzen, sondern eher in deren mangelhafter Nutzung. Frankreich wirft beispielsweise den belgischen Behörden vor, dass der Terrorist Salah Abdeslam hätte verhaftet werden können, wenn Belgien die Kartei im Schengener Informationssystem (SIS) korrekt geführt hätte.
Auf europäischer Ebene gibt es nicht nur das bei Europol angesiedelte EU Counter Terrorism Centre (ECTC), sondern schon seit den Anschlägen von 2001 die Counter Terrorism Group (CTG), in der die Geheimdienste Informationen austauschen (sollen). Nach Auskunft des Europaabgeordneten Elmar Brok (CDU) geben nur fünf EU-Staaten Geheimdienstinformationen in höherem Maße weiter, zum Beispiel Belgien, die Niederlande und Luxemburg – Deutschland hingegen nicht. Hier bestehen ebenfalls Verbesserungspotenziale.
Stärke von Freiheit und Demokratie
Die westlichen Staaten stehen nun vor der gemeinsamen Frage, wie langfristig terroristische Bedrohungen bekämpft werden können, die aus der westlichen Gesellschaft erwachsen und nicht importiert sind. Die Antworten können in berechtigten rechtlichen, polizeilichen und auch geheimdienstlichen Veränderungen liegen. Sie allein werden das Problem aber nicht beseitigen.
Vielmehr bedarf es eines gemeinsamen Verständnisses über die Errungenschaften von Demokratie und Freiheit. Dieses wird dann deutlich, wenn die Sicherheitsorgane aktive Hilfe durch die Bevölkerung erhalten. Die Hinweise zur Verhaftung des 16-jährigen Mohammed J. in Köln kamen aus einer Moschee. Auch die Verhaftung des Syrers Dschaber al-Bakr wurde durch die Hilfe von Flüchtlingen möglich. Ebenso zählen Ausreiseverbote für Jugendliche aufgrund von Hinweisen aus dem sozialen Umfeld dazu, die es ermöglicht hatten, Radikalisierung früh zu erkennen. Jeder Fußballverein kann mehr zur Bekämpfung von Radikalisierung und Terrorismus beitragen als ein personell und technisch noch so gut ausgestatteter Sicherheitsapparat. Das haben Deutschland, Frankreich und die anderen europäischen Staaten wiederum gemeinsam.
-----
Thorsten Müller, geboren 1972 in Koblenz, Altstipendiat der Konrad-