Asset Publisher

Die Europäer können ihre Hausaufgaben nicht an die Türkei delegieren

Asset Publisher

Herr Röttgen, die Türkei hat bislang rund zweieinhalb Millionen Syrer aufgenommen. Die Länder der Europäischen Union (EU) sehen sich mit nicht einmal der Hälfte dieser Flüchtlingszahlen überfordert. Wieso kann, warum soll die Türkei das stemmen, wozu sich die viel größere EU außerstande sieht?

Norbert Röttgen: Das ist eine berechtigte Frage. Die Leistung der Türkei verdient große Anerkennung, wenngleich es die Situation nicht ganz treffend beschreibt – zu sagen: „Die Türkei hat zweieinhalb Millionen Flüchtlinge aufgenommen.“ Denn diese Menschen sind im Laufe des jahrelangen Syrien-Krieges über die Grenze gekommen, aber nur ein geringer Anteil ist in Flüchtlingslagern untergebracht und erhält eine Versorgung mit Nahrung oder anderen Dingen. Der weit größere Teil hält sich im Land auf – ohne Ansprüche und ohne Rechte. Sie sind Terror und Krieg entkommen, sie haben überlebt, das ist angesichts der Lage in Syrien nicht wenig, aber viel mehr als ein Überleben ist es auch nicht.

Das schmälert nicht die Tatsache, dass sich diese große Zahl von Flüchtlingen in der Türkei befindet. Und es ist auch richtig, die Widersprüchlichkeit so zu beschreiben, wie Sie es in Ihrer Frage getan haben: Die Europäer sagen der Türkei, dass sie etwas tun soll, wozu sie selbst offensichtlich nicht in der Lage sind. Die Türkei hat 77 Millionen Einwohner, die EU 500 Millionen. Deutschland hat eine Million aufgenommen, die Türkei hat 2,7 Millionen im eigenen Land. Das ist der Grund, warum die Türkei zu Recht sagt: „Ihr müsst uns unterstützen! Wir müssen mit euch ein System von Lastenteilung vereinbaren!“ Darum ist es richtig, dass sich die Europäische Union mit einem milliardenschweren Betrag an der Betreuung der Flüchtlinge in der Türkei und auch an der Entwicklung von Perspektiven für sie beteiligt.

 

Für wie stabil halten Sie die Lage in der Türkei? Noch hört man nichts von fremdenfeindlichen Reaktionen, aber die Situation erscheint doch prekär, wenn man an die Kämpfe in den Kurdengebieten mit mehr als 1.000 Toten denkt oder an die terroristischen Anschläge, von denen auch Deutsche betroffen waren.

Norbert Röttgen: Die Türkei ist in einer außergewöhnlich angespannten inneren und außenpolitischen Lage. Es gibt die sichtbare Entschlossenheit von Staatspräsident Erdoğan, das Land hin zu einer autoritären inneren Verfassung zu führen. Die Ausschaltung der freien Presse ist nahezu komplett. Dabei werden oppositionelle Zeitungen nicht nur ausgeschaltet, sondern direkt von der Regierung übernommen. Es handelt sich gewissermaßen um eine feindliche Übernahme der kritischen Presse – im Zusammenspiel mit einem Teil einer nicht mehr unabhängigen Justiz. Gleichzeitig wurde der Wiederbeginn terroristischer Aktivitäten der PKK zwischen den beiden Wahlen im letzten Jahr dazu genutzt, um einen unverhältnismäßigen militärischen Kampf gegen die Kurden auf türkischem, aber auch auf syrischem Gebiet zu führen.

Außenpolitisch ist die Türkei in einer ziemlichen Sackgasse gelandet – nicht allein wegen des Abschusses des russischen Militärflugzeuges im türkischen Luftraum. Wirtschaftlich hat es für die Türkei schwere Folgen, dass die Beziehungen zu Russland auf dem Nullpunkt angekommen sind.

 

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es aktuell um mehr geht als um die Reduzierung von Flüchtlingszahlen. Welche geopolitischen Fragen müssen im Verhältnis zur Türkei mit bedacht werden?

Norbert Röttgen: Grundsätzlich gibt es zwischen der EU und der Türkei einen großen Bereich wechselseitiger Interessen. Für Europa ist es von großer Bedeutung, welche Rolle die Türkei als großes sunnitisches Land im arabischen Raum – in Syrien, im Irak, in Palästina – spielt. Das gilt aktuell umso mehr, als wir feststellen müssen, dass sich die Instabilität und die Unsicherheit des Nahen Ostens auf Europa übertragen. Auf der anderen Seite braucht die Türkei Europa mit Sicht auf eine tragfähige, vor allem wirtschaftliche Entwicklung.

Das deutsch-türkische Verhältnis besitzt also geostrategisch ein großes Potenzial – zumal es eine lange Geschichte und belastbare Tradition guter Beziehungen zwischen beiden Ländern gibt. Dabei ist einzuräumen, dass es zuletzt im europäisch-türkischen Verhältnis eine große Vernachlässigung gegeben hat – mit dem Ergebnis eines erheblichen wechselseitigen Vertrauensverlustes.

Darum bin ich der Auffassung, dass man mit kleineren Schritten anfangen sollte, um wieder Vertrauen zu schaffen. Wenn man auf die Schnelle mit unrealistischen Erwartungen ansetzt, ist die Gefahr von Enttäuschungen mit erheblichem Flurschaden groß. Das gilt jetzt besonders in der Flüchtlingsfrage. Meine Auffassung ist, dass die Türkei weder willens noch in der Lage ist, das europäische Flüchtlingsproblem anstelle Europas zu lösen.

 

Trotzdem hat die Türkei ihre Unterstützung zur Lösung der Flüchtlingsfrage angeboten. Das tut sie gewiss nicht nur aus Selbstlosigkeit und Menschenfreundlichkeit?

Norbert Röttgen: Absolut entscheidend ist für mich, dass die Kooperation zwischen der EU und der Türkei keinesfalls auf dem Rücken von Flüchtlingen stattfindet. Ich sehe nämlich die Gefahr, dass – entgegen europäischem und internationalem Recht – aus konkreten Menschen mit individuellen Flüchtlingsschicksalen „Zahlen“ werden. Dass ein Flüchtling auf griechischem Boden ohne Prüfung seiner Verfolgungssituation in die Türkei, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ohne Vorbehalte unterzeichnet hat, zurückgeführt und im Austausch dafür ein anderer Flüchtling aus der Türkei nach Europa geschickt wird, hieße, Menschen zu Nummern zu machen. Es kommt also darauf an, wie die Vereinbarung mit der Türkei ausgestaltet wird, und dann bleibt die Frage, ob das Verabredete auch eingehalten wird.

 

Letzteres ist auch eine Frage der machtpolitischen Verteilung. Sitzt die Türkei am längeren Hebel, wie häufig behauptet wird?

Norbert Röttgen: Aus meiner Sicht zeigt sich vor allem, dass Europa die Türkei nicht an ihrer Stelle handeln lassen darf. Wenn wir das zuließen, würden wir uns in Abhängigkeit begeben. Und das gilt nicht speziell für die Türkei; aus eigenem Interesse sollte sich die Europäische Union gegenüber keinem Land in Abhängigkeit begeben. Auch jetzt muss die Geschäftsgrundlage sein, dass wir die europäische Handlungsmacht nicht abgeben, denn das hätte fatale Folgen.

 

Wie passt dazu die türkische Forderung, die Beitrittsverhandlungen mit der EU auszuweiten?

Norbert Röttgen: Ich habe nichts dagegen, sondern befürworte es, wenn weitere Kapitel in den Beitrittsverhandlungen eröffnet würden – zum Beispiel das Kapitel über die Rechtsstaatlichkeit. Denn wenn wir der Auffassung sind, dass es Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit gibt, dann muss man diese mit der Türkei diskutieren und alles andere tun, als die Verhandlungen darüber zu verweigern. Die eigentliche Ursache für die Schwierigkeiten in diesem Prozess liegt ja bisher im Zypernkonflikt und in der Blockade der Republik Zypern – ist also nicht in der Sache selbst begründet. Wenn es in diesem Punkt zu Fortschritten käme, wäre es zu begrüßen. Doch wird es auch dann ein Prozess sein, bei dem deutlich werden muss, dass der gegenwärtige innenpolitische Kurs die Türkei nicht näher an die Europäische Union heranführt, sondern die Verletzungen von Freiheitsrechten unvereinbar mit den Prinzipien einer europäischen Mitgliedschaft sind.

 

Ist die Vorstellung naiv, dass Beitrittsverhandlungen zu einer Wiederannäherung führen könnten?

Norbert Röttgen: Nein, das halte ich nicht für naiv, sondern für möglich. Wir benötigen einen schrittweisen Prozess, bei dem neues Vertrauen entsteht. Dabei gibt es wechselseitig Vorbehalte, von denen manche durchaus berechtigt sind. In einem türkisch-deutschen Gesprächskreis, an dem ich teilnehme, ist von türkischer Seite zu hören: „Es ist wieder bezeichnend. Jetzt, wo ihr uns braucht, seid ihr wieder da. Daraus ergibt sich für uns der Schluss, dass ihr nicht wirklich an uns interessiert seid und ihr uns eigentlich gar nicht haben wollt. Es geht euch nur darum, uns zu benutzen.“ Ich glaube, dass die Antwort auf solche Vorbehalte langfristige vertrauensbildende Prozesse sind, die dann auch die Perspektive für ein wirklich geostrategisches Verhältnis schaffen.

 

Wie „ehrlich“ ist denn eine Ausweitung der Verhandlungen, wenn die Aussicht gar kein vollständiger Beitritt ist?

Norbert Röttgen: Das ist genau das, was die Türkei sagt: „Ihr meint es nicht ehrlich mit uns!“ Ich glaube auch, dass an dieser Stelle die Türkei einen Punkt hat, weil wir das in der Europäischen Union für uns noch nicht wirklich geklärt haben. Würden wir den Beitritt wollen, selbst wenn die Türkei alle Kriterien erfüllt? Da wird gesagt: „Wir wollen euch!“ – aber nur in dem Wissen, dass sich die Frage gar nicht stellt. Diesen Punkt kritisiert die Türkei zu Recht. Vielleicht würde ich erwidern: Es ist in der Tat so lange schwer zu beantworten, wie es in ganz grundsätzlichen Fragen eine Unvereinbarkeit gibt. Die jetzige Lage verschärft diese Widersprüchlichkeit eher, wenn etwa Staatspräsident Erdoğan die Pressefreiheit bekämpft und gleichzeitig sagt: „Wir wollen aber schneller in die EU.“ Dann muss man eben auch antworten: „Mach dir keine Illusionen, beides geht nicht zusammen!“

 

Ein anderer kritischer Punkt: Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger! Handeln wir uns dadurch nicht ein neues Flüchtlingsproblem ein?

Norbert Röttgen: Es gibt für die Visa-Freiheit wie für den Zugang zum Schengenraum Kriterien. Diese kann man jetzt nicht ignorieren – und zwar auch deshalb nicht, weil wir sonst so täten, als ob wir kurzfristig ein Problem gelöst hätten, aber uns in Wirklichkeit längerfristig ein neues Problem einhandeln würden.

 

Es heißt, dass die EU ihre Probleme ohne die Türkei nicht lösen könne. Aber ist es nicht ein Armutszeugnis für die EU, dass sie es nicht selbst schafft, ihre Außengrenze schützen?

Norbert Röttgen: Ich würde beides bejahen. Wie gesagt, sind die türkisch-europäischen Beziehungen beiderseitig von größtem Interesse. Mit Sicht auf die neue Situation im Nahen Osten, als NATO-Mitglied, in Energie- und Wirtschaftsfragen ist die Türkei für Europa von großer Bedeutung. Auf der anderen Seite haben die Europäer mit dem Schengenraum ein gemeinsames europäisches Gut – nämlich einen Raum des Vertrauens der Staaten untereinander – geschaffen. Jetzt besteht die Aufgabe, dieses europäische Gut auch durch eine europäische Grenze mit einem europäischen Grenzschutz zu bewahren. Die Widersprüchlichkeit, die Sie in Ihrer Eingangsfrage in Bezug auf die Flüchtlingskrise aufgezeigt haben: „Nehmt mehr Flüchtlinge! Tut das, was wir nicht können!“ – sie gibt es auch beim Schutz der Außengrenzen. Die Europäer sagen: „Die EU-Außengrenze sichern – das können wir nicht machen. Bitte schützt ihr mal unsere Grenze.“ Darum muss das gemeinsame Europa seine Hausaufgaben selbst machen, wir können sie nicht an die Türkei delegieren. Das wird nicht funktionieren.

 

Die Türkei ist ein „schwieriger Partner“, aber momentan scheint es doch so zu sein, dass die Partner in der EU noch viel schwieriger sind.

Norbert Röttgen: Ich würde das eine mit dem anderen nicht unbedingt vergleichen. Aber es gibt in der EU nach wie vor eine Mehrheit der Staaten, die nicht bereit zu sein scheinen, sich an Lösungen eines europäischen Problems, der Flüchtlingskrise, zu beteiligen – sei es dadurch, dass mehr Geld für die Flüchtlingslager im Nahen Osten fließt, dass eine bessere Sicherung der Außengrenzen erfolgt. Oder auch dadurch, dass Flüchtlinge in Europa verteilt werden. Das stimmt, und ich rechne nicht damit, dass sich das auf absehbare Zeit ändert, weil diese Fragen in allen diesen Ländern hochpolitisch sind und sich über sie die Machtfrage stellt. Insofern haben alle Schwierigkeiten, über die wir im Verhältnis mit der Türkei gesprochen haben, ihren Ursprung darin, dass sich Europa bislang nicht in der Lage zeigt, ein europäisches Problem europäisch zu lösen. Darum gibt es leider immer nur schlechtere andere Lösungen.
 

Norbert Röttgen, geboren 1965 in Meckenheim, Bundesminister a. D., Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages.

Die Fragen stellte Bernd Löhmann am 10. März 2016.

 

comment-portlet