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Das Zentrum und die Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung vor 100 Jahren

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Die Deutsche Zentrumspartei verstand sich seit ihrer Gründung im Herbst 1870 als die politische Interessenvertretung der katholischen Volksminderheit im Deutschen Reich. Dies konnte nach ihrem Selbstverständnis nur auf verfassungsmäßigem Weg erfolgen: Treue zur Verfassung, Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte aller Bürger, freie Entfaltung des religiös-kirchlichen Lebens, Beibehaltung der föderativen Struktur des Reiches und eine vorausschauende Sozialpolitik mit „gerechtem“ Interessenausgleich von Kapital und Arbeit sowie gesetzlichem Arbeiterschutz lauteten bereits die zentralen Forderungen des Soester Wahlprogramms vom 28. Oktober 1870. Sie bestimmten länger als ein halbes Jahrhundert das Selbstverständnis des Zentrums als einer „Verfassungs- und Rechtspartei“. Seine Grundsätze wurzelten in der christlichen Staatsund Gesellschaftslehre, wie sie namentlich in den Lehrschreiben Papst Leos XIII. ihren Ausdruck gefunden hatte. Für eine dogmatische Festlegung auf eine bestimmte Staatsform war in diesem Denken kein Platz. Schon nach Verabschiedung der Oktober-Reformen 1918 wies Adolf Gröber, Fraktionsführer des Zentrums im Deutschen Reichstag, öffentlich darauf hin, dass „unter den heutigen Umständen“ diejenige Staatsform dem Gemeinwohl am besten diene, „die eine erweiterte Mitwirkung des Volkes an allen Entscheidungen über sein Dasein und seine Entwicklung ins Auge“ fasse.

Diese Haltung erleichterte es der Partei, sich nach verlorenem Weltkrieg und revolutionärer Umwälzung auf den Boden der ohne ihre Mitwirkung neu geschaffenen Tatsachen zu stellen. Wahl und Einberufung einer Verfassunggebenden Nationalversammlung, die den revolutionären Übergangszustand beenden sollten, entsprachen einer zentralen Forderung des Zentrums. Die seit 1917 im Interfraktionellen Ausschuss praktizierte Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und Linksliberalen hatte die Parlamentarisierung des Reiches bedeutend gefördert. Sie erleichterte 1919 auch den Eintritt in eine von diesen gebildete Koalitionsregierung, allerdings um den Preis einer Entfremdung des stärker rechts orientierten bayerischen Zentrumsflügels. Dies führte 1920 zur definitiven Trennung und damit zu einer weiteren Schwächung des politischen Katholizismus, der auch künftig in seiner traditionellen Minderheitsposition von nicht einmal einem Fünftel der Wählerstimmen verblieb. Somit konnte er seine Ziele nur im Bündnis mit anderen Parteien erreichen, wobei sich rasch zeigte, dass zentrale weltanschaulich fundierte Forderungen des Zentrums auch in wechselnden Regierungskoalitionen nicht mehrheitsfähig waren. Für die Verfassungsberatungen von 1919 erwies es sich jedoch als hilfreich, dass das Gewicht als Regierungspartner in die Waagschale geworfen werden konnte, zumal die Ausgangspositionen der Parteien gerade in schul- und kulturpolitischen Fragen, aber auch beim Schutz der bestehenden Eigentumsordnung oder der föderalistischen Struktur des Reiches weit auseinanderklafften.

Kontroverse Beratungen

Den Verfassungsberatungen lag ein mehrfach revidierter Entwurf des linksliberalen Staatsrechtlers Hugo Preuß zugrunde, der insgesamt stark in liberalen Vorstellungen der 1848er-Bewegung wurzelte und unitaristische Tendenzen zeigte. Weder Sozialdemokraten noch Zentrum verfügten über ein eigenes verfassungstheoretisches Konzept. Im 28-köpfigen Verfassungsausschuss war das Zentrum mit lediglich sechs Abgeordneten neben zwölf der Sozialdemokratischen / Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD/USPD), fünf der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), drei der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und zwei der Deutschen Volkspartei (DVP) vertreten. Schon aufgrund dieser Stimmverhältnisse war von vornherein klar, dass die Verfassung nicht „aus einem Guss“ sein konnte, sondern Ergebnis von Kompromissen sein musste, die oft genug mit wechselnden Mehrheiten zustande kamen. Selbst die Schlussabstimmung ergab lediglich eine Zustimmung von 62 Prozent. So verliefen die Ausschuss- und Plenumsberatungen denn auch äußerst kontrovers und kamen erst Ende Juli 1919 zu einem für das Zentrum akzeptablen Ergebnis.

Mit dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung am 11. August 1919 war die so lange vergeblich erstrebte volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Katholiken erreicht. Kirchliche Grund- und Freiheitsrechte waren anerkannt, eine Trennung von Staat und Kirche wie in Frankreich vermieden. Der Bestand der Länder wurde verfassungsrechtlich garantiert; regionale Neugliederungen sollten allenfalls nach Volksabstimmungen möglich sein, und die überkommene Eigentumsordnung blieb in Geltung – nach den Sozialisierungsforderungen der Revolutionsmonate ein keineswegs selbstverständliches Ergebnis. In der dem Zentrum besonders am Herzen liegenden Schulfrage wurde indessen die Gleichstellung der Bekenntnisschule mit der Simultanschule als Regelschule nicht erreicht, doch konnten auch künftig Bekenntnisschulen auf Antrag der Erziehungsberechtigten eingerichtet werden, „soweit hierdurch ein geordneter Schulbetrieb […] nicht beeinträchtigt wird“. Der Religionsunterricht blieb ordentliches Lehrfach. Weitere Regelungen waren einem Reichsschulgesetz vorbehalten, das aber nicht zustande kam. Fragt man, welche Verfassungsbestimmungen in besonderer Weise die Handschrift des Zentrums tragen, so ist auf folgende vier Punkte zu verweisen: Erstens muss der im Regierungsentwurf höchst mager ausgefallene Grundrechtsteil genannt werden. Sein Ausbau ist vor allem dem Zentrumsabgeordneten Konrad Beyerle zu verdanken. In der schließlich angenommenen Endfassung enthielt er nach begründetem Urteil „mehr von ‚Religion und Kirche‘ […] als jede andere moderne Verfassung“.

Zweitens ging mit auf den Einsatz des Zentrums zurück, dass das Reich nicht als zentralistischer Einheitsstaat konstruiert wurde, sondern seine föderale Gliederung behielt. Allerdings wurden seine Kompetenzen gestärkt, namentlich in der Finanz- und Steuerpolitik. Die Reichsfinanzreform von 1919 ist mit dem Namen des Zentrumsministers Matthias Erzberger verbunden. Das Übergewicht Preußens wurde durch Reduzierung seines Stimmenanteils im Reichsrat gemindert. Die Möglichkeit einer künftigen Länderneugliederung nach Volksabstimmung ging auf eine Initiative der Zentrumspartei zurück. Sie sollte laufenden Autonomiebestrebungen den Wind aus den Segeln nehmen.

Drittens wirkt noch im Rückblick erstaunlich, was die Verhandlungsführer des Zentrums bei denkbar ungünstiger Ausgangslage in der Schulfrage erreicht hatten. Zwar fiel der mit Sozialdemokraten und Linksliberalen erzielte sogenannte zweite Weimarer Schulkompromiss gegenüber dem ersten, allerdings auf brüchiger Mehrheit gegründeten deutlich zurück; ein besseres Ergebnis war jedoch nicht erreichbar.

Schließlich war es viertens im Verhältnis von Staat und Kirche dem Einsatz des Zentrums zuzuschreiben, dass die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt und ihre Vermögensrechte garantiert wurden. Ihre Angelegenheiten konnten sie „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ selbstständig regeln. Durch Übernahme der Weimarer Kirchenartikel in das Grundgesetz stehen wir bis heute auf dem damals errichteten Fundament.

Bei ruhiger Betrachtung konnte der so mühsam erzielte Verfassungskompromiss nur diejenigen enttäuschen, die mit der Elle irrealer Maximalforderungen maßen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung hätte niemand dieses Ergebnis zu Beginn der Beratungen voraussagen können. Dem späteren Parteivorsitzenden Wilhelm Marx kam das Erreichte rückblickend als „geradezu wunderbar“ vor. Ausgerechnet mit seinen weltanschaulichen Hauptwidersachern habe das Zentrum nun erreicht, was „in jahrelangen mühsamen Verhandlungen mit den Konservativen niemals“ gelungen war. Und den Sozialdemokraten glaubte er auf dem ersten Reichsparteitag des Zentrums die Feststellung schuldig zu sein, dass in der Schulfrage nicht sie, sondern die Demokraten „unser Hauptgegner“ gewesen seien.

Belastende Hypothek der Niederlage

Wenn diese Einsicht nur langsam an Boden gewann, ja die Kritik sich in der (rechts)katholischen Publizistik sogar zu einem „Verfassungsstreit“ steigerte, so hatte das vor allem drei Gründe: Zum einen war die Weimarer Republik (und damit auch das sie mittragende Zentrum) mit der Hypothek der Niederlage belastet. Ihre Gegner machten sie für den „Schmachfrieden“ von Versailles verantwortlich, der am 28. Juni 1919 auch von einem Zentrumsminister, Johannes Bell, unterzeichnet werden musste.

Der zweite Grund lag in den Irritationen, welche die politische Zusammenarbeit des Zentrums im Reich wie in Preußen mit dem weltanschaulichen Hauptgegner, der als „revolutionär“ und „militant antichristlich“ beargwöhnten Sozialdemokratie, bei vielen Katholiken auslöste.

Adenauer gegen Faulhaber

Beides wurde zum Dritten von der mehr grundsätzlichen Kritik überlagert, die sich am Souveränitätsbegriff der Verfassung entzündete („Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“), deren Verfechter also der „Revolutionsrepublik“ die Legitimität bestritten oder der untergegangenen Monarchie nachtrauerten. Ihr bekanntester Wortführer wurde der Münchner Erzbischof Michael Kardinal von Faulhaber, der auf dem Katholikentag 1922 in München die Weimarer Reichsverfassung als eine Verfassung ohne Gott bezeichnete und die demokratische Republik wegen ihrer revolutionären Anfänge mit dem „Kainsmal“ von „Meineid und Hochverrat“ gekennzeichnet sah. Dass die Verfassungen von 1849 und 1871 ebenfalls keinen Gottesbezug enthielten, übersah er dabei geflissentlich. Damit provozierte er einen scharfen Zusammenstoß mit dem Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, dem Präsidenten des Katholikentags.

Auch nach Abschluss der Verfassungsberatungen zählte das Zentrum zu den staatstragenden Parteien der Weimarer Republik. Den meisten der von 1919 bis Januar 1933 amtierenden zwanzig (meist kurzlebigen) Kabinette hat es angehört und unter Einbeziehung der beiden von Heinrich Brüning geleiteten Präsidialkabinette insgesamt neunmal den Reichskanzler gestellt. Als geborene Partei der Mitte besaß das Zentrum eine Scharnierfunktion zwischen den politischen Lagern. Allerdings war unübersehbar, dass die Wähler den politischen Dauereinsatz nicht honorierten, wie überhaupt in der Weimarer Demokratie nach einem Wort Rudolf Morseys „Mitregierung nicht Teilhabe an ‚Macht‘, sondern vor allem an höchst unpopulärer Verantwortung“ bedeutete. Auch in den Reihen des Zentrums waren „Standesinteressen“ massiv auf dem Vormarsch, die auszugleichen zunehmend schwerfiel. Vor allem aber gelang es trotz ernsthafter Versuche nicht, den konfessionellen „Turm“ zu verlassen. Hierzu bedurfte es erst der Erfahrungen eines zweiten Weltkrieges, bis die interkonfessionelle Zusammenarbeit in den Unionsparteien verwirklicht wurde.

Als die Zentrumspartei 1929 auf das in zehnjähriger „nationaler Arbeit“ Geleistete zurückblickte, nahm sie für sich in Anspruch, die Annäherung der Sozialdemokraten an den Staat, aber zugleich auch die Annäherung antirepublikanischer Parteien an die Verfassung gefördert und sich selbst nie in den „Schmollwinkel fruchtloser Kritik zurückgezogen“ zu haben. In außenpolitischer Hinsicht verwies sie darauf, dass die in besonderer Weise mit dem Namen Gustav Stresemann verbundene Verständigungspolitik ohne ihre nachhaltig-kritische Unterstützung nicht möglich gewesen wäre. Die Grundlagen für die aktive Mitgestaltung der Weimarer Politik aber waren schon 1919 bei den Verfassungsberatungen gelegt worden.

Ulrich von Hehl, geboren 1947 in Viersen, Professor emeritus, 1992 bis 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Leipzig.

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