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Das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit

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„Das Ende der Worte ist erreicht.“ So lautet die dramatische Antwort zweier vom Hungerstreik geschwächter türkischer Intellektueller auf den Rat, ihren Streik angesichts seines hohen Risikos abzubrechen. Aber für beide zählt nur noch die Tat.1 Das Ende der Worte verstehen sie als eine Folge des Verlusts der Freiheit des Wortes – und der Freiheit der Gedanken, lässt sich hinzufügen. Das Ende der Worte ist ein Signal gegen den Anspruch der Macht zur ideologischen Durchformung von Staat und Gesellschaft und zur exklusiven Besetzung der Köpfe gegen ihren freien Willen. Um die Köpfe zu besetzen, muss die Macht die Öffentlichkeit möglichst reinigen – von individuellen Rechten, Meinungen, Gefühlen und Informationsansprüchen. Es bedarf eines Gleichtaktes der öffentlich artikulierbaren Positionen mit ihren Interessen. Unabhängigkeit der Medien (übrigens auch der Bildung, der Kultur, der Wissenschaft und der Geschichtsinterpretation) wird zum Ärgernis. Und sie wird bekämpft. Dieser Krieg gegen die Medien zielt ab auf die Zerstörung objektiver Berichterstattung, auf die Kriminalisierung von Journalisten, auf vollständige Kontrolle der Medien, der Öffentlichkeit sowie schlechthin der freien Meinungsäußerung und persönlichen Entfaltung insgesamt.

Das türkische Beispiel mit über vierzig Gerichtsverfahren gegen Journalistinnen und Journalisten mag in unserer weiteren und engeren Nachbarschaft derzeit das augenfälligste, zügelloseste und sich am konsequentesten fortsetzende sein, unterstützt durch eine politisierte Justiz. Doch es steht nicht einmal in seinen vorgeschobenen religionspolitischen Motiven allein: Ähnliches findet sich auch in Polen (wo die Verfassung immerhin auch andere als explizit christliche Quellen universeller Werte anerkennt, die Mehrheitspartei Prawo i Sprawiedliwość – „Recht und Gerechtigkeit“ – aber eher nicht), Ungarn (wo ähnlich konservativ­nationalistische, selbst so definierte „illiberative“ Ansprüche dominieren) und Russland (wo das Bündnis von Thron und orthodoxem Altar unter Berufung auf „traditionelle Werte“ seit Langem wiederbelebt ist und der Glauben an Gott gerade verbindlich Einzug in Putins neue Verfassung hielt).

Auch China begnügt sich nicht nur mit neuzeitlicher Ideologie, sondern ruft das alte Reich und das „Mandat des Himmels“ an, unter dessen harmonisierendem Weltmodell alles auf das Reich der Mitte ausgerichtet und Peking zum „allgemeinen Besten Zentrum der globalen menschlichen Schicksalsgemeinschaft“ geworden ist.2 Weltanschauungs- und Herrschaftsmonopol und die Instrumentalisierung des Rechts zu ihren Diensten vertragen keine individuelle Freiheit. Ihrer Logik entsprechen Beherrschung, Kontrolle und Indienstnahme der Medien, zum Beispiel durch die Förderung von Eingriffen in die Besitzverhältnisse, die Besetzung und Beherrschung der Personalstrukturen in Redaktionen, Verlagen und Sendern sowie durch wachsweiche rechtliche Vorgaben, die geradezu willkürliche Staatseingriffe ermöglichen – selbst in Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie Polen und Ungarn. Zensur im Netz tritt hinzu.3

 

Übergriffe auf Journalisten

 

China und Russland erstreben inzwischen sogar die Internationalisierung ihrer Sichtweisen. Sie investieren weltweit Millionen in instrumentalisierte Medien und Kanäle, nicht nur um selbst zu bestimmen, wie die Welt über sie spricht und denkt, sondern auch, um die Politik andernorts konkret und manipulativ in ihrem Sinn zu beeinflussen – Wahlentscheidungen nicht ausgenommen. China arbeitet an einer neuen Weltordnung der Medien, stellte die Organisation Reporter ohne Grenzen 2019 fest. Kritischen Medien in Skandinavien droht es mit der „Faust Pekings“.4 Zusätzliche Staaten ließen sich benennen: Seit Neuestem foltern Myanmar und Belarus kritische Journalisten, um sie mundtot zu machen. Belarus holt sie sogar im Flugzeug vom Himmel.5

Nach der weltweiten Caselist des internationalen Autorenverbandes PEN gab es insgesamt 220 Übergriffe auf Autoren und Medienschaffende im Jahr 2020, davon 22 Morde aufgrund journalistischer Berichterstattung.6 Opfer solcher sich verbreiternder Sicht- und Verhaltensweisen sind stets Meinungsfreiheit und Pluralität; mit ihnen sind es Institutionen politischer, rechtlicher und kommunikativer – medialer – Kontrollen. Auch Algorithmen, Bots und Cyberkriege nehmen die Idee unversehrter Öffentlichkeit von Grund auf ins Visier. Daher hat die Verleihung des Friedensnobelpreises an die unbeugsamen Journalisten Maria Ressa und Dmitri Muratow 2021 zu Recht daran erinnert, dass innerer Friede, Macht und Öffentlichkeit, politisches System und Kommunikationssystem seit je in einem unauflöslichen Verhältnis stehen. Die herrschende Kommunikationsordnung ist noch immer eines der wichtigsten Kriterien zur Unterscheidung politischer Systeme. Aus gutem Grund hat das Bundesverfassungsgericht in einer frühen grundlegenden Entscheidung die Kommunikationsfreiheit als „schlechthin konstituierend“7 für eine freie Demokratie erachtet, zu deren Kriterien Manipulation, Zensur und Desinformation nicht gehören.

 

Wegweiser im Meinungsdschungel?

 

Demokratie verwirklicht sich in Kommunikation und Öffentlichkeit – oder sie wird nicht sein. Die wachsende Segmentierung einer „Gesellschaft der Singularitäten“,8 die sich in Filterblasen und Echokammern gegenseitig bestätigen, untergräbt eine plural­offene, Integration stiftende Kommunikation. Früher war es die Absicht „alternativer Öffentlichkeit“, sich vom allgemeinen Kommunikationsmarkt abzuwenden. Inzwischen vermag jede Position über ihren eigenen Markt zu verfügen – oder in Zuspitzung diverser Identitäten sogar die Legitimität alternativer Argumente und Meinungen zu leugnen und zu versuchen, deren Äußerung zu unterbinden.9 Faktisch wäre dann die fundamentale Funktion professioneller Medien als Wegweiser im immer unübersichtlicheren Informationsdschungel erheblich eingeengt. Denn wer nur seinen eigenen wahrheitsbestimmten klaren Kurs kennt und allein für zulässig hält, bedarf keiner Navigation.

Eine Konsequenz sind gesellschaftliche Einbußen an Rationalität und Kompetenz zu politischer Urteilsbildung – bis zur Bildung absolut überzeugter, ausdruckswilliger, aber informationsverweigernder Bewegungen, die sich „Diktatur“ und „Lügenpresse“ ausgeliefert sehen, obgleich ihre Demonstrationsfreiheit bewahrt und über ihre Position auch berichtet wird – beides Kennzeichen freiheitlicher Demokratie. Diese treibt „Querdenker“ (oder Extremisten und Populisten) gar nicht in ihre Echokammern und Filterblasen. Sie befinden sich vielmehr ohnehin dort und bestärken sich gegen Alternativen, die sie für diktatorisch halten, solange sie die Herrschaft ihres eigenen Weltbildes verhindern.

Eine weitere Tendenz ist der Verfall von Respekt und Stil in der Meinungsäußerung. Er tritt mehr und mehr aus dem Netz heraus und wird in der sozialen Wirklichkeit wirksam. Wahrscheinlich bilden sich hierin unschöne gesellschaftliche Realitäten ab, die hinter dem Vorhang der früheren Medienwelt im Privaten verborgen geblieben waren, nun aber durch die nach außen gerichtete Wendung von potenziell jedermanns Privatheit und ihren zugehörigen Verhaltensweisen öffentlich sichtbar werden. Natürlich ist die Idee stilvoller deliberativer Demokratie10 immer eine Idee idealistischer Intellektueller gewesen. Doch wohnte ihr eine richtungweisende normative Sehnsucht inne, von der gewisse disziplinierende Ansprüche ausgingen. Damit ist es vorbei. Auch erscheint der Gesamtbefund ambivalent.

 

Politische Öffentlichkeit steht infrage

 

Denn als Gegentendenz zu den kritikbedürftigen Tendenzen ist die Erleichterung und Vermehrung der Möglichkeiten öffentlicher Kommunikation durchaus ins Feld zu führen: geradezu eine Autonomisierung bürgerlicher Entfaltung nach Artikel 5 Grundgesetz. Auch gegen die steigende, vom Medienwandel gestützte gesellschaftliche Pluralisierung gibt es grundsätzlich keinen Einwand, folgt sie doch aus den Entfaltungsfreiheiten der Individuen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Meinungs- und Entfaltungsfreiheit nach dem Grundgesetz keine absoluten, sondern relationale und relative Begriffe sind11 – eben in Relation zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die in ihren Fundamenten und Wirkungen für niemanden zur Disposition steht und die Grenzen des Pluralismus in der Pluralitätsverneinung und -verweigerung sieht. Für die Verletzung von Persönlichkeitsrechten gilt das Gleiche.

Inzwischen stellt ein radikaler technischer und verhaltensdispositioneller Wandel politische Öffentlichkeit nicht als Prinzip, aber in ihrer Gestalt fundamental infrage. Vielfältiger Qualitätsjournalismus und Demokratiekompetenz wären dagegen ins Feld zu führen.12

Allein, die Aufgaben sind eher noch herausfordernder geworden, nachdem das Netz Privatisierungs- und Entrationalisierungstendenzen dynamisiert und die Wirkweise von Algorithmen und Bots die genuine politische Willensbildung verfälscht. Beide sind weder wählbar, noch rechenschaftspflichtig, jedoch einflussstark. Fragmentierung und Manipulation entsprechen keineswegs der vom Bundesverfassungsgericht anvisierten Gemeinwohlorientierung einer demokratierelevanten Kommunikation. Doch sind sie andererseits durchaus Konsequenz einer den Staat auf Distanz haltenden Kommunikationsfreiheit, die das Gericht ziemlich weise als eine Freiheit interpretiert hat, die regulierende staatliche Eingriffe und „jedwede Art der Bevormundung“13 ganz erheblich begrenzt. Daraus folgt dann, dass die Wiedergewinnung der Bedeutung der „klassischen“ Medien beziehungsweise angemessener Kommunikation in der demokratischen Öffentlichkeit wohl Ergebnis eines offenen gesellschaftlichen Prozesses sein muss. Ob er Chancen hat?

Wird aber wirklich in freiheitlichen Systemen jede Art der Bevormundung ferngehalten? Sicher nicht, wenn zum Beispiel – wie vormals Donald Trump – die oberste Macht im Staat ins hauptstädtische Pressekorps eingreift, große eigenständige Zeitungen als „Fake Media“ diffamiert, „alternative Fakten“ definiert, kritischen Journalisten mit Aggressivität begegnet, ihnen keine Antworten gewährt oder sie überhaupt von Informationen auszuschließen sucht, wie ehedem vom Weißen Haus und partiell auch von Downing Street No. 10 im Vereinigten Königreich praktiziert. Wie um die These vom unauflöslichen Zusammenhang von politischem System und Kommunikationssystem zu beweisen, paaren sich diese Missgriffe mit einem gebrochenen Verhältnis zum Rechtsstaat einerseits; anderseits paaren sie sich mit dem Interesse ideologisch machtnaher Medienunternehmen, demgemäß keine objektive, sondern „eine wirkungsvolle Berichterstattung“ im Sinne der Politik des Machthabers wahrnehmen zu wollen – bis hin zur Unterstützung des präsidialen Angriffs auf die Korrektheit und Freiheit der Wahl, und dies in den USA, in einem Staat, der 1791 mit dem Ersten Verfassungszusatz die Freiheit der Rede und der Presse kodifiziert und seither bemerkenswert hochgehalten hatte. Das Vereinigte Königreich nähert sich dem neuerdings mit Versuchen der Entmachtung des Verfassungsgerichts ebenso wie der BBC an, die finanziell ausgeblutet werden soll.14

Im Gegenzug scheint in den USA investigativer Journalismus geradezu von der Kette gelassen. New York Times und Washington Post erblühen an Aktivität, Leser- und Abonnentenresonanz. Sie gewinnen auch Glaubwürdigkeit gegenüber oberflächlich recherchierenden Internetportalen. Auf der Strecke der aggressiven und die Öffentlichkeit autonom und mit bewusster Desinformation gestalten wollenden Amtsführung im Staat bleibt die Integration der Gesellschaft. Diese vor allem „von oben“ ausgehende Konfrontation von Macht und ihr ergebenen opportunistischen Medien einerseits sowie liberalen Medien andererseits trägt zur verheerenden Spaltung der Gesellschaft bei, die anscheinend nur schwer zu überwinden ist. Deutschland ist sie (noch) fremd.

Wenn schon keine rechtliche und politische Bevormundung, gibt es aber nicht vielleicht doch eine Art Selbstbindung, die schon vor den Realitätsverdrängungen zur Silvesternacht von Köln hierzulande in Wissenschaft und Praxis kritisch befragt wird?

 

Bonner Käseglocke, Berliner Glaskuppel

 

Zuerst ist es der Vorwurf eines politisch-medialen Komplexes aufgrund beständiger professioneller Nähe, die den Meinungskorridor beenge sowie Kritik- und Kontrollpotenziale beschneide. Die Verwandtschaft mit der in den USA seit gut zwei Jahrzehnten währenden Kritik an der „inside the beltway“ („innerhalb des Washingtoner Autobahnrings“) gemeinsam agierenden Medien- und Politikelite ist deutlich.15 Beltway, Bonner Käseglocke, Berliner Glaskuppel: Diese Begriffe stehen für Entfremdung von der Alltagsnormalität. Ist aber die Kritikfähigkeit wirklich verlorengegangen? Trumps politische Obszönität hat schon zu seiner Amtszeit täglich auch publizistische Gegenbeweise hervorgebracht. Selbst wenn die normative Eigenständigkeit von Medien- und Politiksystem zutrifft, erscheinen Schnittstellen unvermeidlich. Freilich dürfen sie auf beiden Seiten nicht zur Preisgabe der Autonomie führen. Ob aber zum Beispiel ausgerechnet die Bitte der Kanzlerin an die Chefredakteure der stimmführenden Medien, in der heraufziehenden Finanzkrise 2008 keine Panik zu verbreiten, und die Tatsache, dass diese sich daran hielten, eine skandalöse Selbstpreisgabe16 war, lässt sich bestreiten. Eher haben beide Seiten nachvollziehbare Verantwortung wahrgenommen im Dienst an der Stabilität der Demokratie, an der sie gemeinsam – symbiotisch – Interesse haben müssen.

Eine zweite Kritik trifft den Journalismus als selbstreferenzielles System. Auch sie ist ebenso angejahrt, wie sie lange ungehört geblieben war. Amerikanische wie deutsche Analysen sprachen schon in den 1980er­-Jahren von journalistischer „Konsonanz“ – in Deutschland etwa Elisabeth Noelle-Neumann17 und Theo Sommer, der 1982 in Die Zeit gar von „Rudeljournalismus“ (amerikanisch: „pack journalism“)18 schrieb. Heute sind die Begriffe „Fokussierung“ und „Mainstream“19 hinzugekommen. Zweifellos gehört zur dienenden Freiheit der Medien im Pluralismus einerseits die Repräsentation der Vielfalt, in einem Hochkonsenssystem vielleicht sogar die Suche nach Alternativen, speziell dann, wenn die Politik – die Macht – keine sehen will. Andererseits gibt es aber auch Faktoren der Relevanz oder der Effektivität, die im Entscheidungsverfahren auf eine Balance von relativer Vielfalt und notwendiger Fokussierung drängen. Schließlich müssen ja Ergebnisse gefunden und Regierungsentscheidungen getroffen werden. Konformitätsdruck durch die politische Macht ist hier gewiss nicht gemeint. Generell haben aber auch sonst in der Gesellschaft fast überall Stimm- und Meinungsführer starken, oft sogar überstarken Einfluss.

Diese beiden Phänomene – Käseglocke und Konsonanz – wirken in dem Augenblick kritisch und vertrauenszerstörerisch, wenn in einem wesentlichen Problembereich Diskrepanzen zwischen der Bevölkerung (oder einem Teil von ihr, wobei in diesem Kontext nicht Blasen gemeint sind) und konsensuell geeinter politisch-medialer Elite bestehen und wenn von daher existierende Meinungen und Werthaltungen im öffentlichen Diskurs unterrepräsentiert bleiben.

 

Pädagogisches Berufsverständnis

 

Offensichtlich ist diese Ansicht mit politischen Konsequenzen vor allem in konservativ­kleinbürgerlichen und prekären Milieus der Gesellschaft verbreitet; aber nicht nur dort. Muss man die aktuellen Themen überhaupt nennen? Patriotismus, Flüchtlinge, Islam, Ausländer, Euro, Minderheiten, Toleranz, Gleichstellung und so weiter. In der Literatur finden sich dazu zwei gegenteilige Positionen. Die eine sieht „gute Gründe“20 oder „Verantwortungsbewusstsein“21, Informationen zu unterlassen, um Minderheiten nicht zu stigmatisieren. Die andere ist skeptisch gegenüber „einem allzu pädagogischen Berufsverständnis mancher Journalisten“ und sieht in solcher „Political Correctness“ eine Tendenz zur „Selbstzensur“.22 Beide sind sich jedoch darin einig, dass unterbleibende Information über Realitäten Misstrauen begründet und verbreitet – speziell gegenüber den Medien, aber auch gegenüber der Politik wegen der angeblich ausgeprägt konsensuellen Zuordnung beider. Die Rezipienten erwarten von den Medien, deren Einfluss sie zu 95 Prozent für groß und sehr groß halten, keine Volkspädagogik, sondern rückhaltlose Information (zu 78 Prozent).23 Offensichtlich reklamieren die Bürger ihr unzweifelhaftes Recht, auf der Basis ungeschönter Tatsachen ihre Urteile und Positionen selbst zu finden. Sie wollen ernst genommen werden. Mündigkeit nennt man das und ersehnt es in anderen politischen Zusammenhängen. Zur Mündigkeit führt allerdings gewiss nicht die Suche nach einer genehmen Blase im Netz.

 

Entfaltung legitimer Pluralität

 

Zusätzlich verbreitet sich das Gefühl, man könne seine Meinung zu manchen Themen nicht mehr öffentlich äußern, weil die Gefahr bestehe, in eine politische Schmuddelecke gestellt zu werden. „Der öffentliche Raum wird weitaus weniger mit Meinungsfreiheit assoziiert als der private Bereich.“24 Nur 18 Prozent der Bevölkerung sehen die Freiheit dort ausgeprägt, 59 Prozent dagegen im Freundes- und Bekanntenkreis, 41 Prozent halten die Political Correctness für übertrieben. Derlei Correctness beschädigt aber die Demokratie substanziell, weil sie Vertrauen ins System unterminiert. Es geht um Öffentlichkeit. Diese soll von den Medien hergestellt und begleitet werden, um im Rahmen des rechtlich Zulässigen legitime Pluralität zu entfalten, auch wenn sie schmerzt, und nicht, um sie kanalisierend und qualifizierend zu begrenzen oder zu verweigern. Ohne öffentliches Gespräch mit den Bürgern gibt es keine Legitimität des Regierens. Medien sollten es anwaltschaftlich erzwingen.

 

Heinrich Oberreuter, geboren 1942 in Breslau, 1980 bis 2010 Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Passau, 1993 bis 2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, seit 2012 Leitung  der Redaktion des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft.

 

1 Bülent Mumay: „Brief aus Istanbul: Türkische Polizei beschlagnahmt Bücher“, in: Frankfurter Allgemeinde Zeitung, 10.05.2017.
2 Zhao Tingyang: Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung, Berlin 2020; Peter Buchas/Walter Feichtinger/Doris Vogel (Hrsg.): Chinas Grand Strategy im Wandel, Wien 2019.
3 Siehe z.B. Kristin Shi-Kupfer: „Meinungsmacht und Meinungsmacher – Wie Chinas Regierung und Bevölkerung um Einfluss in Sozialen Medien ringen“, in: Totalitarismus und Demokratie 2019/Heft 2, S. 161–175.
​​​​​​​4 Kai Strittmatter: „Neue Grenzen zu China zeichnen sich ab. Dänische Karikatur löst diplomatische Kritik aus“, in: Süddeutsche Zeitung, 30.01.2020.
​​​​​​​5 Siehe: „Es darf keine Öffentlichkeit geben“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.05.2021, S. 13; mehr noch: Der vielfach ausgezeichnete belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič berichtet, dass die größte Propagandazeitung „vor kurzem feurig dazu aufrief, Regimekritiker öffentlich aufzuhängen…“. Siehe: „Worte kommen zu spät“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2021, S. 11.
​​​​​​​6 PEN Zentrum Deutschland: Pressemitteilung, 26.05.2021.
​​​​​​​7 BVerfGE 5, 85 (205).
​​​​​​​8 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, Frankfurt am Main 2017.
​​​​​​​9 Siehe Wolfgang Thierse: „Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.02.2021, S. 9.
​​​​​​​10 Jürgen Habermas: „Drei normative Modelle der Demokratie“, in: Ders.: Die Einbeziehung des Anderen, 1999, S. 277–292.
​​​​​​​11 Alexander Schwan: „Pluralismus“, in: Staatslexikon, Bd. 4, 7. Aufl, Freiburg 1995, S. 428.
​​​​​​​12 Michael Schröder: Die Twitter-Demokratie: Der Strukturwandel politischer Kommunikation durch digitale Medien, Tutzing, Akademie-Kurzanalyse 2/2020, S. 13.
​​​​​​​13 Wolfgang Hoffmann-Riem: „Art.5 (Recht der freien Meinungsäußerung), Abs.1, 2“, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd.1 Neuwied 1984, S. 494.
​​​​​​​14 Tim Shipman: „No 10 tells BBC licence fee will be scrapped“, in: Sunday Times, 16.02.2020.
​​​​​​​15 Eliot Nelson: The Beltway Bible. A totally serious A-Z guide to our no-good, corrupt, incompetent, terrible, depressing and sometimes hilarious government, New York 2016.
​​​​​​​16 So aber Jakob Augstein: „Das ist nicht Ihr Kanzleramt!“, in: Süddeutsche Zeitung, 22.07.2010.
​​​​​​​17 Elisabeth Noelle-Neumann: „Kumulation, Konsonanz und Öffentlichkeitseffekt“, in: Publizistik, Nr. 18/1973, S. 26–55.
​​​​​​​18 Theo Sommer: „Von Machern und Wellenmachern“, in: Die Zeit, Nr. 49, 05.12.1980. Dazu auch Heinrich Oberreuter: Stimmungsdemokratie, Zürich 1987, S. 77 ff.
​​​​​​​19 Uwe Krüger: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen, München 2016.
​​​​​​​20 Stefan Niggemeier: „Nicht nur die Welt, auch sich selbst erklären. Zur Rolle des Journalismus heute“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 30-32/2016, S. 7.
​​​​​​​21 Uwe Krüger: „Medien im Mainstream. Problem oder Notwendigkeit?“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 30-32/2016, S. 24.
​​​​​​​22 Horst Pöttker: „Pressefreiheit in Deutschland. Nutzen, Grenzen, Gefährdungen“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 30-32/2016, S. 12, 14.
​​​​​​​23 Renate Köcher: „Vertrauen und Skepsis – Bürger und Medien“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2015, S. 8.
​​​​​​​24 Renate Köcher: „Grenzen der Freiheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.05.2019, S. 8.

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