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Sehnsucht nach Mäßigung

Was denkt die „schweigende Mehrheit“?

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Das Vertrackte an der „schweigenden Mehrheit“ ist, dass sie schweigt. Denn weil sie schweigt, kann sie jeder Politiker ungestraft für sich in Anspruch nehmen. Gibt es sie überhaupt? Die Antwort hängt von den Relationen ab. Eine „schweigende Mehrheit“ kann nur dort sein, wo es eine oder mehrere lautstarke Minderheiten gibt. Freilich lässt sich leicht behaupten, eine Gruppe, die sich Gehör zu verschaffen weiß, sei nur eine Minderheit. Man bewegt sich hier im Bereich des Ungefähren, aber auch dort finden sich Indizien, die eine bestimmte Interpretation nahelegen. Umfragen oder die Theorien von Sozialwissenschaftlern sind dabei weniger verlässlich als Wahlerfolge.

Wer hat das besser vor Augen geführt als Richard Nixon? Er machte die Idee von der „schweigenden Mehrheit“ populär und bewies, dass sie keine Schimäre war. Seit Januar 1969 im Amt des amerikanischen Präsidenten, hatte der Republikaner es mit zum Teil gewalttätigen Protesten gegen den Vietnamkrieg zu tun. Nixon kam bald zu dem Schluss, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei, und traf die Entscheidung, ihn so schnell wie möglich zu beenden. Dabei ging es ihm um einen Frieden, der den Rückzug der amerikanischen Truppen erlaubte, ohne Südvietnam aufzugeben. Das nannte er „peace with honor“.1 Dafür bat er die Amerikaner am 3. November 1969 in einer Fernsehansprache um Unterstützung: „Und deshalb bitte ich Sie – die große schweigende Mehrheit meiner amerikanischen Landsleute – heute Abend um Ihre Unterstützung.“2

Damit war die Formel von der „schweigenden Mehrheit“ in der Welt, oder besser: sie wurde zu einem geflügelten Wort, denn Nixon war nicht der erste, der den Begriff benutzte. Jahrhundertelang, seit der Antike, war die „schweigende Mehrheit“ zwar ein Euphemismus für die Toten. Aber in der politischen Sprache der Vereinigten Staaten erhielt der Begriff spätestens 1919 seine heutige Bedeutung. In einem Porträt der Collier’s Weekly erklärte der Politiker und Werbefachmann Bruce Barton den Gouverneur von Massachusetts, Calvin Coolidge, zum Repräsentanten der „great silent majority“ der Amerikaner. Diese seien „weder Radikale noch Reaktionäre. Sie sind gemäßigte Leute (middle-of-the-road folks) und Hauseigentümer, die hart arbeiten und sich eine Regierung wünschen, die zu der alten Gewohnheit zurückkehrt, sich so wenig wie möglich in das Leben der Menschen einzumischen.“3

 

Rhetorische Mobilisierung und die „Southern Strategy“

 

Barton verband die Idee einer „schweigende Mehrheit“ mit der Tugend der Mäßigung und dem Ideal der Mitte. Coolidge, seit 1920 Vizepräsident und von 1923 bis 1929 Präsident der Vereinigten Staaten, war ein Vertreter des alten republikanischen Establishments der Ostküste: wirtschaftsliberal, progressiv in Bürgerrechtsfragen, von konservativem Temperament, aber nicht ideologisch – ein idealtypischer Vertreter der Partei Abraham Lincolns. Als Nixon das Wort von der „schweigenden Mehrheit“ aufgriff, meinte er damit die gleichen Amerikaner wie Barton. Die „great majority of Americans“, sagte er 1968 auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner, seien „decent people“, schwarz oder weiß, arbeiteten hart und zahlten Steuern; sie seien das Rückgrat Amerikas.4

Nixons Vorgänger im Amt hatten die gleiche Mehrheit ins Visier genommen wie er. Doch weil er die rhetorische Mobilisierung der „schweigenden Mehrheit“ mit der sogenannten „Southern Strategy“ verband, das heißt mit dem Versuch, die Wähler im Süden für die Republikaner zu gewinnen, hieß es bald, Nixon spalte das Land, er polarisiere, um Mehrheiten zu gewinnen. Aber hatte Franklin D. Roosevelt nicht dasselbe getan, und das in viel schärferer Form, als er 1936 über seine politischen Gegner gesagt hatte: „Sie sind einmütig in ihrem Hass auf mich – und ich heiße ihren Hass willkommen“?5

Nixon hatte Erfolg mit seiner Strategie. 1972 gewann er mit 60,7 Prozent der Stimmen und 49 Staaten die Präsidentschaftswahl – ein Erdrutschsieg, der seine Bitte, die „schweigende Mehrheit“ möge ihn unterstützen, im Nachhinein zum Plebiszit machte. Nixon hatte die „schweigende Mehrheit“ zum Sprechen gebracht.

 

Informelle Koalition von Moderaten?

 

Nicht seine problematische Persönlichkeit, nicht seine Paranoia, nicht einmal die Watergate-Affäre bringt die amerikanische Linke bis heute am meisten gegen ihn auf, sondern dieser Wahlsieg. Die Linke verübelt ihm, dass er seine Partei mehrheitsfähig machte. Daher muss die „schweigende Mehrheit“ in ihrer Wahrnehmung eine Koalition von Reaktionären, Hinterwäldlern und christlichen Fundamentalisten sein. Die Linke, so scheint es, weiß genau, was die „schweigende Mehrheit“ denkt, und es gefällt ihr nicht. Wer aber kann wirklich wissen, was sie denkt?

Manche Versuche, die „schweigende Mehrheit“ zu vereinnahmen, sind wenig überzeugend. Anders als Donald Trump es darstellte, wollte eine Mehrheit der Amerikaner ihn weder 2016 noch 2020 im Weißen Haus sehen. Gut 46 Prozent der Stimmen sind keine Mehrheit, schon gar nicht Nixons „schweigende Mehrheit“. Auch Joe Biden hatte 2020 mit 51,3 Prozent nicht die „schweigende Mehrheit“ auf seiner Seite. Das heutige Amerika ist zu polarisiert für Wahlergebnisse, wie sie Lyndon B. Johnson 1964, Nixon 1968 und Ronald Reagan 1984 erzielten. Tatsächlich ist die „schweigende Mehrheit“ in den Vereinigten Staaten derzeit allenfalls eine relative Mehrheit. Die allerdings lässt sich mithilfe einer kürzlich erschienenen Studie recht genau bestimmen. Die „silent majority“ ist demnach weder „conservative“ noch „liberal“, sondern „moderate“.6 Die Mehrheit der Amerikaner neigte nicht den Extremen zu, meinen die Autoren, und wenn, dann vielleicht auf einem Politikfeld, auf anderen jedoch nicht. Die „schweigende Mehrheit“ als eine informelle Koalition von moderates auf der Suche nach einem Kandidaten der Mitte? Der moderate Republikaner Nixon hätte sich bestätigt gesehen.

Wähler der Mitte gibt es in allen liberalen Demokratien. Sind sie aber überall eine Mehrheit, zumindest eine relative Mehrheit? Und kann man sie nach dem Vorbild Nixons zum Sprechen bringen? In Deutschland hat der Begriff der „schweigenden Mehrheit“ jedenfalls keine große Karriere gemacht. Willy Brandt sagte anlässlich des 25. Jahrestags der Kapitulation Hitler-Deutschlands, in der Bundesrepublik gebe es „keine schweigende Mehrheit und keine ins Gewicht fallende antidemokratische Minderheit“.7 Er widersprach damit der von der Opposition gehegten Hoffnung, dass eine „schweigende Mehrheit“ der Bundesregierung ihre Abgrenzung von der Außerparlamentarischen Opposition nicht abnahm. Der Publizist Johannes Gross hingegen zweifelte nicht an der Existenz einer „schweigenden Mehrzahl“, nicht „Mehrheit“, in der Bundesrepublik, hielt aber nichts von ihr. Der Vertraute Carl Schmitts galt als Konservativer, verstand die Analyse von Politik allerdings im Grund nur als gute Gelegenheit, einen Aphorismus nach dem anderen zu formulieren. An der „schweigenden Mehrzahl“ störte ihn, dass sie schwieg. Deshalb sei sie nicht politisch, sondern neige dazu, „negative Mehrheiten zu bilden, bei Wahlen bloß gegen eine Regierung oder Politik zu stimmen, aber nicht Zustimmung auszudrücken“. Nixon habe dies „schmerzlich erfahren müssen“.8 Das schrieb Gross 1970. Zwei Jahre später bewiesen die amerikanischen Wähler das Gegenteil.

 

Geschmähte Mittelschicht

 

Gross befand sich in guter Gesellschaft, denn nur wenige in der deutschen Presselandschaft verstanden, was Nixon 1969 gemeint hatte. Nicht nur der Spiegel, sondern auch bürgerliche Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung übernahmen die Lesart der amerikanischen Linken: Nixon habe das Land aus strategischen Gründen gespalten. Aus deutscher Perspektive ließen sich Nixons Worte anscheinend nicht dechiffrieren, ließ sich nicht erkennen, dass er die Mittelschicht beschrieben hatte, die nach amerikanischem Verständnis die gesamte arbeitende Bevölkerung umfasst. Bruce Barton hatte dafür 1919 den sowohl politisch als auch soziologisch zu verstehenden Begriff „middle-­of­-the-­road folks“ verwendet; Gross sprach 1970 von der „Menge derjenigen, in denen sich Ressentiments gegen den Fortschritt und dessen Propheten anhäufen“.9 Und für den Spiegel bestand „Middle America“ aus „Spießbürgern“ mit „kleinbürgerlichen Vorurteilen“.10

Gross riet den Unionsparteien davon ab, sich des Begriffs der „schweigenden Mehrheit“ zu bedienen. Sie hielten sich jedoch nicht daran, denn nach dem Regierungswechsel von 1983 hatten sie dazu keinen Grund. „Es ist nunmehr höchste Zeit, daß die schweigende Mehrheit in unserem Volke aus ihrem Schlafe erwacht und Farbe bekennt, Flagge zeigt“, schrieb Franz Josef Strauß im Bayernkurier vom 20. Oktober 1983 angesichts der anhaltenden Proteste gegen den NATO-­Doppelbeschluss.11 Was er als dringenden Wunsch formulierte, war in Wirklichkeit längst geschehen, als die westdeutschen Wähler der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP bei der Bundestagswahl vom 6. März 1983 eine Mehrheit von 55,8 Prozent gegeben hatten; 48,8 für die Union und sieben für die FDP. Zweifellos hatte die Union in dieser Zeit ein klares Bild der „schweigenden Mehrheit“ vor Augen: die von den Linksintellektuellen geschmähte breite Mittelschicht. Das erkannten auch ihre Gegner. „Der politische Erfolg“ Helmut Kohls, so konnte man 1986 im Spiegel lesen, gründe „auf seiner überdurchschnittlichen Durchschnittlichkeit“.12 Ebenso wie Nixon hatte sich Kohl des Vergehens schuldig gemacht, der „schweigenden Mehrheit“ eine Stimme zu geben.

 

„Toxic Politics“

 

Später verlor sich das Bewusstsein für die Herkunft und Bedeutung des Begriffs. In Deutschland gibt es heute überall und für jedes Anliegen eine „schweigende Mehrheit“. Einmal soll sie zur Wahl gehen, um eine Umgehungsstraße durchzusetzen. Dann wieder wird die Ohnmacht der „schweigenden Mehrheit“ gegenüber dem Anstieg des Gaspreises beklagt. Und schließlich sagt der Vorsitzende eines FC Bayern München-Fanclubs, „eine große schweigende Mehrheit“ der Fans finde es richtig, dass der Verein von Qatar Airways gesponsert werde. Zehn bis fünfzehn Prozent seien dagegen, weil sie eben noch nie in Katar gewesen seien.13 In jedem dieser Fälle ist erstens nicht klar, wer diese „schweigende Mehrheit“ sein soll, und zweitens unbekannt, aus welcher Quelle das Wissen über ihre Überzeugungen stammt. Schließlich kann man sich bei der „schweigenden Mehrheit“ nur auf eines verlassen: dass sie schweigt, bis sie zu den Urnen gerufen wird. Belastbar ist jedoch zumindest die Behauptung, eine „schweigende Mehrheit“ der Deutschen, Männer wie Frauen, lehne die „Gendersprache“ ab. Denn 65 Prozent haben sich 2021 in einer Umfrage dagegen ausgesprochen.14 In diesem Fall lässt sich das Denken der „schweigenden Mehrheit“ einmal dingfest machen.

Diese Mehrheit würde sich wahrscheinlich darüber freuen, wenn sie bei Politikern Gehör fände. Sie dürfte zudem wenig für das übrighaben, was der amerikanische Kolumnist George F. Will als „toxic politics“15 bezeichnet. Wokeness­-Aktivisten nennen heute vieles „toxisch“, klassische Rollenbilder zum Beispiel, Männlichkeit oder die westliche Zivilisation. Toxisch dürfte indes eher der Glaube lautstarker Minderheiten sein, eine „schweigende Mehrheit“ zu vertreten, die angeblich mit den herrschenden Zuständen nicht einverstanden sei. Diese Überzeugung haben radikale Klimaaktivisten und Kämpfer für Wokeness mit den Propagandisten eines neuen völkischen Nationalismus gemeinsam.

Man muss schon an der liberalen Demokratie verzweifeln, um zu glauben, dass die „schweigende Mehrheit“ von den Denkstrukturen dieser Radikalen geprägt sei. Stattdessen ist mit Bruce Barton anzunehmen, dass die Angehörigen der „schweigenden Mehrheit“ in Deutschland weder Radikale noch Reaktionäre sind, sondern „middle-­of-­the-­road folks“ mit einer gewissen Sehnsucht nach Mäßigung. Wer die „schweigende Mehrheit“ gewinnen will, sollte deshalb befolgen, was der Tory-­Politiker George Canning 1819 in Anlehnung an ein Zitat von Edmund Burke gesagt hat: „Ich werde den aufdringlichen Lärm von ein paar Grashüpfern, die unter einem Farnbusch zirpen, nicht mit den Stimmen der erhabenen Ochsen verwechseln, die in nüchterner Gelassenheit auf dem Feld umherschweifen.“16

 

Matthias Oppermann, geboren 1974, Stellvertretender Leiter Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik und Leiter Zeitgeschichte der Konrad-Adenauer-Stiftung, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.

 

1 Richard M. Nixon: „January 23, 1973: Address to the Nation Announcing an Agreement on Ending the War in Vietnam“, in: University of Virginia, Miller Center: Presidential Speeches. Richard M. Nixon Presidency, https://millercenter.org/the-presidency/presidential-speeches/january23-1973-address-nation-announcing-agreement-ending-war [letzter Zugriff: 03.02.2023].
2 Ders.: „November 3, 1969: Address to the Nation on the War in Vietnam“, in: ebd., https://millercenter.org/the-presidency/presidential-speeches/november-3-1969-addressnation-war-vietnam [letzter Zugriff: 03.02.2023].
3  Bruce Barton: „Concerning Coolidge“, in: Collier’s. The National Weekly, 64. Jg., Nr. 17, 22.11.1919,  S. 8, S. 24, S. 28, hier S. 28.
4 Richard M. Nixon: „Address Accepting the Presidential Nomination at the Republican National Convention in Miami Beach, Florida“, 08.08.1968, in: University of California, Santa Barbara, The American Presidency Project, www.presidency.ucsb.edu/documents/address-accepting-the-presidential-nomination-the-republican-national-convention-miami [letzter Zugriff: 03.02.2023].
5 Franklin D. Roosevelt: „Address at Madison Square Garden, New York City“, 31.10.1936, in: ebd., www.presidency.ucsb.edu/documents/address-madison-square-garden-new-york-city-1 [letzter Zugriff: 03.02.2023].
6  Siehe Anthony Fowler u. a.: „Moderates“, in: American Political Science Review, 05.09.2022, S. 1–18.
7 Willy Brandt: „Verpflichtung zum Frieden und Wahrung von Freiheit und Recht, 8. Mai 1945“, in: Bulletin der Bundesregierung, Nr. 63, 09.05.1970, S. 591 f., hier S. 592.
8 Johannes Gross: „Konservativ auf deutsch“, in: Der Spiegel, Nr. 12, 14.03.1971.
9 Ebd.
10 „Bleibt friedlich“, in: Der Spiegel, Nr. 21, 17.05.1970.
11 Franz Josef Strauß: „Frieden und Freiheit sind unser Auftrag“, in: Bayernkurier, 20.10.1983.
12 Guy Kirsch / Klaus Mackscheidt: „Der Amtsinhaber“, in: Der Spiegel, Nr. 16, 13.04.1986.
13 Siehe „Schweigende Mehrheit zur Wahl bewegen“, in: Münchner Merkur – Holzkirchner Merkur, 10.10.2022; Markus Minten: „‚Gaspreisbremse dringend notwendig‘. Podiumsdiskussion. Experten sprechen beim UGO-Abend über Energie von gestern, heute und morgen“, in: Nordwest-Zeitung. Ausgabe Kreiszeitung Friesland, 27.10.2022; Bernd Hofmann: „Die Qatarer lachen über uns“. Interview, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.12.2022.
14 Siehe: „Die Bürger wollen keine Gendersprache“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Onlineausgabe, 23.05.2021, www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/grosse-mehrheit-laut-umfragegegen-gendersprache-17355174.html [letzter Zugriff: 03.02.2023].
15 George F. Will, Why Toxic Politics Thrives in an Age of Plenty, in: The Washington Post, 25.11.2022.
16 The Speeches of The Right Honourable George Canning. With a Memoir of His Life. In Six Volumes, hrsg. von Roger Therry, London 1828, Bd. IV, S. 187.

 

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