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Mit neuen Ansätzen gegen die Repräsentationskrise

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Die Debatte um die Krise der Repräsentation ist zu einem festen Bestandteil politischer Analysen, wenn nicht gar zu einem geflügelten Wort geworden. Der Aufstieg populistischer und extremer Kräfte in vielen westlichen Demokratien hat die politische Landschaft neu vermessen. Das Ringen um prägende Ideen für eine Gesellschaft findet zwischen freiheitlich-demokratischen und autoritären Entwürfen statt.

Festzustellen ist ebenso eine Krise des Vertrauens und Zutrauens in demokratische Institutionen. Vielen Umfragen zufolge nimmt die Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie ab. Dagegen steigt der Anteil von Menschen, die Verschwörungserzählungen bereitwillig Glauben schenken. Auf diese besorgniserregenden Entwicklungen brauchen wir Antworten. Politik in einer demokratischen Gesellschaft muss stets mehr sein als nur Ausübung und Verwaltung von Macht. Demokratie bedeutet Gemeinsinn und muss von der Überzeugung getragen werden, dass es sich lohnt, für unser demokratisches Gemeinwesen einzustehen und sich dafür zu engagieren.

 

Keine fünfjährige Wahlperiode

Eine wiederkehrende Idee zur Reform demokratischer Institutionen ist die Überlegung, die Legislaturperiode des Deutschen Bundestages von vier auf fünf Jahre zu verlängern. Die Wahlrechtskommission empfiehlt das, und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterstützt diese Überlegung. Es bliebe mehr Zeit für die gesetzgeberische Arbeit. Dem ist allerdings nicht zu folgen. Bereits in der Analyse wird ein entscheidender Punkt übersehen: Es ist nicht die lediglich vierjährige Wahlperiode des Bundestages, die die Sacharbeit verkürzt, sondern das durch die Fraktionen und Parteien selbst gewählte Verfahren ausgedehnter Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen inklusive als notwendig erachteter Rückkoppelungen an die Parteibasis sowie die verbreitete Einschätzung, ein halbes Jahr vor der Wahl gebe es ohnehin nicht mehr viel Raum für gesetzgeberisches Handeln.

Nach der Bundestagswahl 2017 dauerte es wegen gescheiterter Verhandlungen über eine „Jamaika-Koalition“ und der sich hinziehenden Neuauflage der Großen Koalition beinahe ein halbes Jahr, bis die neue Regierung vereidigt werden konnte. In dieser Zeit hat der Bundestag weitgehend darauf verzichtet, die gesetzgeberische Arbeit aufzunehmen; nicht einmal die Ausschüsse mit Ausnahme des Hauptausschusses wurden eingesetzt, obwohl auch eine geschäftsführende Bundesregierung hinreichend parlamentarische Kontrolle benötigt. Eine vierjährige Wahlperiode ist ausreichend, wenn sie von einem selbstbewussten Parlament mit Sacharbeit gefüllt wird. Wahlkämpfe kosten Geld und sind eine intensive Zeit für Parteien und Kandidaten. Sie sind aber auch eine Zeit umfangreicher politischer Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit, mithin also des Ringens um die richtigen Personen, Antworten und Konzepte, die jenseits der zu beklagenden Polarisierung eine demokratische Gesellschaft im besten Sinne politisieren kann. Bei der Debatte über eine fünfjährige Wahlperiode darf sich deshalb nicht der Eindruck verfestigen, Argumente aus der parlamentarischen und exekutiven Binnensicht, also aus dem Maschinenraum der Politik, begründeten bereits hinreichend genug eine Einschränkung demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger durch Wahlen.

Eine Legislaturperiode von fünf Jahren bedeutet nämlich genau das: weniger demokratische Mitsprache des Volkes. Die Staatsgewalt wird in Wahlen ausgeübt.

Der Bundestag ist das einzig direkt gewählte Verfassungsorgan auf Bundesebene. Durch seine Wahl wird die Regierung legitimiert. Die vierjährige Legislaturperiode hält die richtige Balance zwischen der Arbeitsfähigkeit des Parlaments und dem Interesse des Staatsvolks an der Erneuerung seines Mandats und der Möglichkeit, einen Macht- oder Politikwechsel herbeizuführen. In den Ländern erfolgten in den 1990er- und 2000er-Jahren Verlängerungen der Legislaturperioden der Landtage von vier auf fünf Jahre. Wenn nun auch der Bundestag für fünf Jahre gewählt würde, bedeutete das effektiv eine um ein Fünftel reduzierte Möglichkeit der demokratischen Entscheidung durch die Bürger.

Sind Bürgerräte dagegen ein neuer und interessanter Weg? Die Ampelkoalitionsparteien haben am 10. Mai 2023 einen Bürgerrat im Bundestag eingesetzt, der aus 160 zufällig ausgelosten Bürgern besteht, die sich mit dem Thema Ernährung auseinandersetzen sollen. Dieser Bürgerrat wird durch Experten beraten und moderiert. Ziel ist die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen an den Bundestag. Auf den ersten Blick klingt das einleuchtend. Erfahrungen und Sichtweisen der Bürgerschaft in den politischen Prozess einzubinden, ist ein wichtiges Anliegen.

 

Bürgerräte ohne demokratische Legitimation

Skepsis ist dennoch angebracht. Bei diesem Bürgerrat sind zu viele Fragen offen. Wer lost die mitwirkungsberechtigten Teilnehmer aus, und nach welchen Kriterien kommen geeignete Kandidaten in die Auswahl? Und wenn schon das Los entscheiden soll, wieso muss dann im Vorfeld nach unterschiedlichen Kriterien wie gar nach der persönlichen Ernährungsform differenziert werden? Und ganz allgemein gefragt: Darf in einer Demokratie der Losentscheid überhaupt eine geeignete Form der Entscheidungsfindung sein? Wer wählt nach welchen Kriterien die Experten aus? Und wie wird sichergestellt, dass nicht die Experten die Debatte in einem Bürgerrat so lenken, dass am Ende die von den Experten im Vorfeld bereits feststehende Einschätzung zum Ergebnis der Beratungen wird? In einem Bürgerrat mit unterschiedlich verteiltem Wissen, in dem Bürger den zufällig ausgelosten Experten gegenüberstehen, ist nach allen Erfahrungen aus der Organisationspsychologie nicht unwahrscheinlich, dass sich aufgrund Informationsasymmetrien und der Architektur dieses Bürgerrats die Ansichten der Experten durchsetzen werden. Dieser Bürgerrat weckt daher Erwartungen, die er nicht erfüllen kann.

Wenn der Befund einer Krise der parlamentarischen Demokratie zutreffend ist, dann darf darauf nicht reagiert werden, indem einseitige Repräsentationserwartungen neben und jenseits des Parlaments geweckt und verfestigt werden. Ein Bürgerrat kann und darf keine demokratische Legitimation vermitteln, denn künstlich hergestellte Repräsentativität ist nicht identisch mit demokratischer Repräsentation. Doch ist einmal das Narrativ in der Welt, dass der Querschnitt der Gesellschaft – repräsentativ ausgelost und von Experten beraten – die besseren Antworten gibt, kann das den Weg zu einer Entwicklung bereiten, an deren Ende Parlamente kaum oder gar nicht mehr benötigt werden. Das wäre gefährlich. Was von einigen sogar mit gutem Willen als Ergänzung der parlamentarischen Demokratie gedacht war, kann sich als Weg zur Abkehr von ihr erweisen.

Völlig aus der Debatte sind all jene Formen der Mitwirkung verschwunden, die die Grundlage unserer repräsentativen Demokratie bilden: das Engagement in den Parteien selbst und in Bürgerinitiativen; die Möglichkeit der Gestaltung und Einmischung auf kommunaler Ebene.

 

Stärkung der Repräsentation

Wir brauchen selbstbewusste und starke Parlamente als Antwort auf die Krise der Repräsentation. Die Verantwortung kommt dabei den gewählten Abgeordneten und selbstverständlich auch den kommunalen Mandatsträgern zu. Wir Bundestagsabgeordnete sind nach dem Auftrag des Grundgesetzes Vertreter des gesamten deutschen Volkes und nicht allein Vertreter der Gruppe, der man persönlich angehört. Ein Abgeordneter aus Bayern kann sich ebenso kundig für eine deutsche Hafenstrategie einsetzen wie ein Kollege aus dem Norden für den Schutz des Alpenraumes. Abgeordnete aus dem Mittelstand kümmern sich um den Schutz von Arbeitnehmern so, wie sich auch Abgeordnete aus der Arbeitnehmerschaft oder den Gewerkschaften um Standortpolitik oder die Anliegen von Freiberuflern kümmern. Das Prinzip der Repräsentation bedeutet, dass sich das Parlament durch seine Abgeordneten, die durch die Wahl hinreichend demokratisch legitimiert sind, eine eigene Position entwickelt. Dabei kommt es gerade nicht darauf an, die demoskopisch vorherrschende Meinung in konkrete Politik umzusetzen, sondern in eigener Verantwortung und verantwortungsvoller Weitsicht zu gestalten; übrigens selbst dann, wenn dies der aktuell ermittelten Mehrheitsmeinung widerspricht. Um eine bedeutende Aussage des ehemaligen Bundespräsidenten Walter Scheel aufzugreifen: Es geht nicht darum, das zu tun, was populär ist, sondern jenes, was richtig ist, um es dann populär zu machen. Nicht wenige Richtungsentscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik hatten zunächst keinen breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Sie sind dennoch getroffen worden, weil die gewählten Repräsentanten ihrer Verantwortung gerecht wurden. Heute stehen wir vor einer ähnlichen Situation. Der demografische Wandel, die Herausforderungen des menschengemachten Klimawandels, technologische Disruptionen wie Künstliche Intelligenz, der Angriffskrieg mitten in Europa und Neuausrichtungen der internationalen Ordnung erfordern neue Antworten. Diese müssen auch darin bestehen, den Menschen etwas abzuverlangen und zuzumuten. Ein populistischer Sound mag zum kurzfristigen Applaus verführen, er wird jedoch selten nachhaltig erfolgreich sein. Der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich hat zu Recht von der „Demokratie als Zumutung“ gesprochen. Das erfordert Legitimation der Entscheidungen, Mut und Fähigkeit zum Ausgleich. Die repräsentative Demokratie ist dafür am besten geeignet.

Wir müssen in unserem Land wieder grundlegend über den Stellenwert von Parlamenten und ihre Bedeutung sprechen und diese im politischen Gefüge zwischen einer raumeinnehmenden Exekutive und zunehmender Europäisierung und Internationalisierung neu verorten. Die Corona-Pandemie war rückblickend gesehen nicht die beste Zeit für die Parlamente. Vielleicht wurden parlamentarische Befugnisse allzu bereitwillig auf die Exekutive übertragen.

 

Falsche Wahlrechtsreform

In der jüngsten Vergangenheit haben Entscheidungen der Ampelkoalition dem Parlamentarismus in Deutschland geschadet. So hat die Wahlrechtsreform auf mehreren Ebenen mit grundlegenden Traditionen und gemeinsamen demokratischen Überzeugungen gebrochen. Der vermeintlich populäre Zweck der Verkleinerung des Bundestages heiligt eben nicht die Mittel eines Bruches mit grundlegenden demokratischen Traditionen und Prinzipien. Weder der Gewinn eines Wahlkreises noch eine breite regionale Verankerung garantieren künftig den Einzug in den Bundestag. Aus dem Ringen um das richtige Wahlrecht wurde eine Machtdemonstration der Regierungskoalition und ein Instrument der politischen Auseinandersetzung. Eine solche Reform würde in jedem anderen europäischen Land zu Recht zu lauter Empörung führen. Die Debatte darf also auch bei uns nicht verstummen. Zudem ist anzumerken: Parlamentarische Mitwirkungsmöglichkeiten wurden jüngst durch die Verkürzung von Fristen eingeengt. Wenn die Regierung zahlreiche neue Stellen für die Bundesministerien schafft, dann entsteht eine stärkere Unwucht zulasten des Parlaments, das diese Regierung kontrollieren soll, zumal sich ungeachtet der jeweiligen Regierungskonstellation die regierungsstützenden Fraktionen in der politischen Praxis auch als erweiterter Raum der Exekutive verstehen. In dieser Situation ist die Einführung von Bürgerräten als weitere Schwächung der parlamentarischen Demokratie zu verstehen.

Wir brauchen stattdessen eine breite Debatte über die Stärkung von Parlamenten und starke Debatten in den Parlamenten. Die unglückliche Wahlrechtsreform ist zurückzunehmen. Eine Ausdehnung der Wahlperiode des Bundestages auf fünf Jahre ist keine gute Idee. Der Bundestag muss sich jedoch selbstbewusster gegenüber der Regierung zeigen, sie kontrollieren und fordern. Mut zur großen Diskussion und parlamentarisches Selbstbewusstsein gehören dazu. Starke Parlamente sind eine gute Grundlage für die parlamentarische Demokratie und können der Krise der Repräsentation begegnen.
 

Volker Ullrich, geboren 1975 in Illertissen, promovierter Jurist, Diplom-Kaufmann, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Mitglied des Fraktionsvorstandes der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Mitglied im Vorstand der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung, Bezirksvorsitzender der CSU.