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Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Vermögensverteilung in Deutschland

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„Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Krise“ – so lautete die Schlagzeile, als der Paritätische Gesamtverband im April 2014 erstmals sein Jahresgutachten zur Entwicklung des sozialen Zusammenhalts vorlegte. „Der Zusammenhalt steht auf dem Spiel“, titelte der Böckler Impuls im Januar 2015 zur Studie von Jutta Allmendinger und Ellen van den Driesch über soziale Ungleichheiten in Europa. Und für seine besorgte Kommentierung des Vierten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung wählte der Caritas-Verband 2013 die Überschrift „Vermögen gerecht verteilen und Zusammenhalt sichern!“ Die Headlines spiegeln zweierlei wider: Erstens, die Sorgen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt latent in Gefahr ist, sind weit verbreitet, und zweitens, als Ursache der schwindenden sozialen Kohäsion gerät nicht zuletzt die auseinanderdriftende Einkommens- und Vermögensverteilung, die ungleiche Verteilung von selbst erworbenem Wohlstand und ererbtem Reichtum, in den Blick.

Die Warnungen vor einer Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts treffen bei den politisch Verantwortlichen auf offene Ohren – unzweifelhaft kann es als elementare Aufgabe politischen Handelns verstanden werden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern. Wo dieser fehlt, fehlen die wesentlichen Grundlagen für Stabilität und Frieden, auch für wirtschaftliche Entwicklung. Der Koalitionsvertrag enthält nicht zufällig ein eigenes Kapitel zum „Zusammenhalt der Gesellschaft“; eine der drei Zukunftskommissionen, die die CDU zur Vorbereitung des Parteitags 2015 eingerichtet hat, ist dem gesellschaftlichen Zusammenhalt gewidmet. Wie lässt sich der oft beschworene gesellschaftliche Zusammenhalt erfassen? Kann man messen, ob er wächst oder diffundiert? Und wie kann man feststellen, ob tatsächlich zunehmende soziale Ungleichheiten und wachsende Vermögensunterschiede den Kitt bröcklig werden lassen, der die Gesellschaft zusammenhält?

 

Messen, was verbindet

Mit dem „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ hat die Bertelsmann Stiftung ein Instrument vorgelegt, das die Diskussionen über Gemeinsinn und Zusammengehörigkeit und deren Gefährdungen aus dem Reich des Spekulativen herausholt. Anstelle medial gefühlter Polarisierung und behaupteter Spaltung führt das Radar einen Maßstab ein, der die Faktoren des Zusammenhalts kompakt erfasst und internationale Vergleiche möglich macht.

Zusammenhalt, definiert als die Qualität des gemeinschaftlichen Miteinanders, drückt sich durch belastbare soziale Beziehungen, eine positive emotionale Verbundenheit der Menschen mit dem Gemeinwesen und eine ausgeprägte Gemeinwohlorientierung aus. Die Zusammenhalt stiftende Solidarität ist in modernen Gesellschaften dabei nicht eine solche, die aus Ähnlichkeit erwächst, sondern Solidarität unter Ungleichen. Zusammenhalt muss gelingen und gestaltet werden unter Bedingungen erlebter Verschiedenheit und gegenseitiger Abhängigkeit. Es geht um einen „inklusiven gesellschaftlichen Zusammenhalt“, der die Pluralität der Lebensentwürfe und Identitäten nicht nur als gegeben hinnimmt, sondern als Stärke zu begreifen sucht. Dort allerdings, wo sich (wachsende) Unterschiede in ungleiche Teilhabechancen übersetzen und als Ungerechtigkeiten erlebt werden, entwickeln sich Fliehkräfte, die den inklusiven Zusammenhalt von innen heraus gefährden. Das gilt für Unterschiede in Bezug auf Herkunft und Bildung ebenso wie für Einkommens- und Vermögensunterschiede.

Das Radar erfasst den gesellschaftlichen Zusammenhalt quantitativ; dazu stellt er Indikatoren aus international vergleichenden Befragungsstudien und ergänzende wissenschaftliche Daten in einem Gesamtindex zusammen. Drei Ergebnisse stechen hervor: Deutschland liegt beim Zusammenhalt im internationalen Vergleich im Mittelfeld. Bei der Akzeptanz von Diversität und der Identifikation mit der Nation zeigt Deutschland Schwächen.

Und: Als gute Rahmenbedingungen für starken Zusammenhalt erweisen sich international vor allem der höhere Wohlstand und eine größere Einkommensgleichheit.

Der Sorge, dass im Prozess der Modernisierung der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren ginge, treten die Autoren des Radars entgegen. Sie liefern Hinweise, dass der Zusammenhalt in den Ländern höher ist, die sich stärker in Richtung einer modernen Wissensgesellschaft entwickelt haben, das heißt, die über ein höheres Bildungsniveau, ein höheres ökonomisches Innovationsniveau und eine ausgebaute Informations- und Kommunikationsinfrastruktur verfügen.

 

Ungleiche Verteilung unterschätzt

Auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Reichtum und Zusammenhalt gibt das Radar eine doppelte Antwort: Wohlhabenden Gesellschaften mit florierender Wirtschaft gelingt es besser, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. Je höher das Bruttoinlandsprodukt eines Landes, umso stärker ist insgesamt der gesellschaftliche Zusammenhalt. Wohlstand ist aber nicht gleich Wohlstand: Es kommt wesentlich auch darauf an, wie der Wohlstand verteilt ist. Länder, in denen die Einkommensunterschiede geringer sind, weisen einen höheren gesellschaftlichen Zusammenhalt auf.

Bei der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen befindet sich Deutschland in den letzten Jahren auf einem riskanten Pfad. Zwischen Ost und West, Männern und Frauen, zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund verfestigen sich die Einkommens- und Vermögensunterschiede. Der Anteil der Reichen und sehr Reichen ist seit der Deutschen Einheit fast kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 1991 lebten 5,6 Prozent aller Personen in Haushalten, deren Einkommen mindestens das Zweifache des mittleren Einkommens betrug. Bis zum Jahr 2001 ist der Gesamtanteil an reichen und sehr reichen Haushalten auf über acht Prozent gestiegen (Report des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes / WSI, September 2014). Die Finanzkrise hat an dieser Entwicklung nicht wesentlich etwas geändert: 2009 waren 7,1 Prozent der Privathaushalte reich oder sehr reich. 2011 sind es 8,1 Prozent und damit mehr als je zuvor. In Ostdeutschland lebte weniger als jeder zehnte Reiche.

Dabei ist die Ungleichverteilung der Vermögen insgesamt in den letzten Jahren vermutlich systematisch unterschätzt worden, da der Anteil der Multimillionäre und Milliardäre untererfasst blieb. Der reichste Haushalt im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) besitzt netto, also nach Abzug von Schulden, nur knapp fünfzig Millionen Euro. Wenn die Top-Vermögen hinzugeschätzt werden, steigt das Gesamtvermögen in Deutschland ebenso wie die Vermögensungleichverteilung: Dem reichsten Hundertstel dürfte fast ein Drittel aller Vermögen gehören. Der ökonomische Abstand zwischen den Reichsten und dem Gros der Bevölkerung wäre damit deutlich größer als bisher angenommen. Auch der Vermögensanteil, der auf die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte entfällt, muss nach Schätzungen des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) nach oben korrigiert werden: Er liegt zwischen 63 und siebzig Prozent am Gesamtvermögen.

Die Vermögensverteilung ist in den letzten Jahren ungleicher geworden und sie begründet eine stabil exkludierende Teilung der Bevölkerung: Der WSI Report zeigt, dass auch der Anteil der Reichen und sehr Reichen, der im Verlauf der Zeit seine relative Wohlstandsposition halten konnte, gestiegen ist. Hinzu kommt: Hohe Privatvermögen sind häufig ererbtes, „unverdientes“ Vermögen. 150.000 Erbschaftsfälle mit einem Gesamtwert von 41 Milliarden Euro wurden in Deutschland für 2010 erfasst.

Im Hinblick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind die skizzierten Generationen- und Lebenslaufeffekte der Vermögensverteilung wichtiger als die Frage nach der Vermögensungleichheit per se. Vermögensunterschiede entwickeln sich dann zu spaltungsträchtigen gesellschaftlichen Unterschieden, wenn sie sich im Lebenslauf und über mehrere Generationen hinweg vertiefen und sich mit anderen Unterscheidungslinien in kritischer Weise überlagern. Wenn beispielsweise Zugewanderte auch in der zweiten Generation noch eine deutlich schlechtere Teilhabe an Bildung und ein deutlich geringeres Vermögen vorweisen können, dann potenzieren sich die drei Unterschiede; sofern allerdings Vermögensunterschiede nicht mit ethnischen, religiösen oder Bildungsunterschieden verbunden sind, haben sie weniger spaltendes Potenzial. Die Überschneidung verschiedener Spaltungslinien relativiert die Bedeutung der einzelnen Gruppenzugehörigkeiten und erleichtert die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. Um den Zusammenhalt zu fördern, muss daher vermieden werden, dass integrationswidrige Konstellationen entstehen, in denen sich die „Angehörigen einer bestimmten Gruppe […] als solche permanent mit allen ihren wichtigsten Interessen in der Minderheit befinden“ (Gertrude Lübbe-Wolff).

Die in einer vielfältigen Gesellschaft Einheit stiftende Funktion gleicher Freiheit umfasst die Freiheit, Eigentum zu bilden. Das Recht und die Chance, Eigentum zu bilden, entfalten ihre positiven Effekte allerdings nur, wenn die Beziehung zwischen privatem und gesellschaftlichem Nutzen des Privatvermögens ausbalanciert ist. Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber zu einer gesellschaftsdienlichen Ausgestaltung des privaten Eigentums (Artikel 14 Absatz 2 Grundgesetz); es verpflichtet ihn weiterhin – mit dem Sozialstaatsprinzip – zur Schaffung von Rahmenbedingungen, die der Tendenz zur Verschärfung sozialer Gegensätze entgegenwirken. Die Gestaltung der Besteuerung ist ein wichtiges Instrument, um den Allgemeinnutzen des Eigentums zu realisieren und – gleichzeitig – wachsenden Disparitäten entgegenzuwirken.

 

Eigentum befähigt – und verpflichtet

Besonders offensichtlich wird dieser Auftrag bei der Erbschaftssteuer. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber zum wiederholten Mal dazu aufgefordert, in diesem Sinne nachzusteuern. Die Verschärfung von Ungleichheiten zwischen Ost und West, Deutschen und Migranten, zwischen Durchschnittsverdienern und Superreichen in der „Erbenrepublik“ – vor allem durch die kaum beschränkte Möglichkeit, Betriebsvermögen ungeschmälert zu vererben – ist kontraproduktiv in Bezug auf soziale Kohäsion und inklusiven Zusammenhalt. Das Aufkommen der Erbschaftssteuer lag 2013 bei bescheidenen 4,6 Milliarden Euro, deutlich weniger als ein Prozent der gesamten Steuereinnahmen. Damit liegt Deutschland im EU-Vergleich weit hinter Belgien und Frankreich, aber auch hinter Dänemark und Großbritannien.

Eine Reform ist überfällig. Die Erbschafts- und Schenkungssteuer kann und muss nicht nur einen spürbaren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten, sie kann und sollte auch der zunehmenden Ungleichheit der Vermögensverteilung entgegenwirken. Um das viel zitierte kleine Häuschen der Oma, das seit Jahren die Erbschaftssteuerfreiheit für große Immobilienvermögen in der Hand von Familienunternehmen schützt, soll es dabei natürlich nicht gehen. Die große Mehrheit der Menschen empfindet es als gerecht, wenn selbst genutztes Wohneigentum, Gebrauchsvermögen und Geldvermögen steuerfrei an enge Verwandte weitergegeben werden können, sofern sich der Vermögenswert in Größenordnungen bewegt, den breite Teile der Bevölkerung mit Erwerbsarbeit erlangen können. Darüber hinausgehende Vermögensübergänge allerdings vertiefen die soziale Spaltung, da sie nicht durch Leistungen der Erben oder Beschenkten begründbar sind.

Die Möglichkeit zur Vermögensbildung ist sehr ungleich verteilt. Wer kein Startkapital geerbt hat und mit seinem Einkommen nicht deutlich über dem Existenzminimum liegt, hat keine Chance, eigenes Vermögen zu bilden – auch die Bildung von Vorsorgevermögen für die Absicherung im Alter ist für genau diejenigen eine besonders große Hürde, die auf eine solche Vorsorge besonders angewiesen wären. Die Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung ist daher eine der wesentlichen Maßnahmen zur „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand“. Die vermögensähnlichen Anwartschaften in der Rentenversicherung erfüllen für die Versicherten die wichtige stabilisierende Funktion von Eigentum. Das Bundesverfassungsgericht hat dies durch mehrere Urteile bekräftigt, in denen die Anwartschaften in der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung als vermögensähnliche Ansprüche geschützt wurden. Rentenauskünfte, wie sie die Rentenversicherung regelmäßig verschickt, sind also eine „Volksaktie“, an deren Sicherheit besondere Anforderungen zu stellen sind, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt und der Zusammenhalt der Generationen auf Dauer gesichert werden sollen.

 

Keine hohen Zäune

Es gibt in Deutschland keine eingeschlagenen Fensterscheiben von Luxusgeschäften, keine hohen Zäune um die Villenviertel der Superreichen. Sozialneid ist – gelegentlichen Verlockungen der Boulevard-Medien zum Trotz – kein verbreitetes Phänomen. Sozialabgaben und Steuern werden vergleichsweise widerstandsfrei und ehrlich gezahlt, weil das Zusammengehörigkeitsgefühl insgesamt vorhanden ist. Sprengstoff für den Zusammenhalt von morgen liegt allerdings in der Einkommens- und Vermögensverteilung von heute begründet. Die Freiheit, Eigentum zu bilden, und die soziale Verpflichtung des Eigentums gehören zusammen. Politik ist gut beraten, dem Auseinanderdriften der Vermögen aktiv entgegenzutreten. Dazu gibt es verschiedene Instrumente – eine armutsfeste, an Lebensstandardsicherung orientierte gesetzliche Altersversorgung muss ihren Beitrag dazu ebenso leisten wie eine Erbschaftssteuer, die bedürfnisgerechtes Entsparen im Alter befördert und die Verschärfung von Vermögensdivergenzen in der Generationenfolge bremst.

 

Eva M. Welskop-Deffaa, geboren 1959 in Duisburg, Diplom-Volkswirtin, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand, CDA-Bundesvorstand und in der CDU-Zukunftskommission „Zusammenhalt der Gesellschaft“.

 

Literatur

Lübbe-Wolff, Gertrude: Integration durch Verfassung, in: Zeitschrift des Deutschen Juristinnenbundes 4/2009, S. 174–180.

Dragolov, Georgi / Ignácz, Zsófia / Lorenz, Jan / Delhey, Jan / Boehnke, Klaus: Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt – messen was verbindet. Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2014.

Spannagel, Dorothee / Broschinski, Sven: Reichtum in Deutschland wächst weiter, WSI Report, 17. September 2014.

Wenner, Ulrich: Erbschaftssteuer und Sozialstaat. Verfassungsauftrag zum Ausgleich einer ungleichen Vermögensverteilung, SoSi 1/2015.

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