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Spielregeln der Ordnungspolitik

Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert

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Ich bin Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft – und zwar von ihren leitenden Prinzipien, die die Gründungsväter Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard formuliert haben. Die Soziale Marktwirtschaft hat in siebzig Jahren bewiesen, dass sie das beste Wirtschafts-, aber ausdrücklich auch das beste Gesellschaftssystem der Welt ist. Aus diesem Grund wende ich mich auch entschieden gegen zwei Tendenzen, die ich seit meinem Einzug in den Deutschen Bundestag vor neuneinhalb Jahren immer öfter beobachte: erstens, dass viele Politiker die Soziale Marktwirtschaft zur Untermauerung ihrer teilweise absurden politischen Forderungen missbrauchen, bei denen sich Ludwig Erhard im Grabe umdrehen müsste. Mittlerweile hält sogar Sahra Wagenknecht Vorträge über die „Rückbesinnung auf Ludwig Erhard“. Und zweitens, dass fast alle Parteien und Politiker der Meinung sind, wir müssten die Soziale Marktwirtschaft überarbeiten, verändern oder weiterentwickeln, da sie nicht mehr zeitgemäß sei. Meines Erachtens trifft genau das Gegenteil zu: Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft sind zeitlos gültig.

Was sich aber in den letzten Jahren enorm geändert hat, sind das wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld und die entsprechenden Herausforderungen, auf die die Prinzipien angewandt werden müssen. Die Stichworte Globalisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel, Islamisierung, Klimawandel oder Eurokrise stehen für gänzlich neue oder für zumindest in dieser Dimension vor siebzig Jahren noch unbekannte Phänomene. Darauf muss die Politik reagieren. Sie muss also den Ordnungsrahmen beständig anpassen – nicht aber die leitenden Prinzipien.

Globalisierung und Wettbewerb

Beginnen wir mit der Globalisierung. Zwar gab es bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine internationale Arbeitsteilung. Doch der Umfang und das Tempo, wie sich die weltweiten Märkte und Wertschöpfungsketten vernetzen, sind neu. Die Wirtschaft macht heute immer weniger an Landesgrenzen halt, die nationale Gesetzgebung häufig aber schon. Das stellt uns beispielsweise in Fragen der Besteuerung vor neue Herausforderungen. Wenn große amerikanische Kaffeekonzerne in Deutschland steuerfrei bleiben, weil sie ihren Gewinn über zweifelhafte Lizenzgebühren in ausländische Steuerschlupflöcher transferieren, kann von einem fairen Wettbewerb mit einheimischen Bäckereien keine Rede sein. Auf eigene Faust kann ein einzelnes Land kaum etwas erreichen – deswegen setzt sich Deutschland seit vielen Jahren für Abkommen auf internationaler Ebene ein, um internationaler Steuervermeidung einen Riegel vorzuschieben.

Mit beachtlichem Erfolg: So sind sogenannte „Patentboxen“, mit denen Gewinne künstlich kleingerechnet und in ausländische Steuerschlupflöcher transferiert werden, ab 2021 in Europa verboten. Außerdem tauschen mittlerweile über 100 Länder weltweit automatisiert Informationen zwischen den Finanzbehörden aus, um die Steuerfahndung zu verbessern – sogar Steuerschlupflöcher wie Panama melden nun Namen, Adressen, Konto- und Depotnummern sowie erzielte Erlöse an deutsche Finanzbeamte. Zu guter Letzt wurde das Bankgeheimnis für geschäftliche Beziehungen von Inländern mit Drittstaaten-Gesellschaften faktisch aufgehoben – Banken müssen Finanzbehörden darüber nun informieren. Freilich dürfen wir bei diesen Reformen nicht stehen bleiben, sondern müssen weiter für einen fairen (Steuer-)Wettbewerb eintreten. Dazu zählt auch ein transparentes Steuersystem hierzulande, das international wettbewerbsfähig ist.

Eine weitere Herausforderung ist die Digitalisierung, die die Wirtschaft von Grund auf verändert. Digitale Plattformmärkte gehorchen anderen Gesetzen als analoge Märkte: Hier locken sich die Nutzer gegenseitig an und sorgen schnell für Monopole. Statt mit Geld wird oft nur mit Daten bezahlt, und anstatt um den Besitz von Taxis oder Hotelzimmern geht es bei Airbnb oder Uber oft nur um die Vermittlung. Was bedeutet das für die Wirtschaftspolitik? Auch für diese Frage bieten die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft Anhaltspunkte. Das Prinzip der Offenheit der Märkte mahnt beispielsweise dazu, nicht jede neue Entwicklung sofort im Keim zu ersticken, sondern auch die Chancen zu sehen. Von im Wettbewerb stehenden Verkaufsplattformen profitieren die Verbraucher durch günstigere Preise, die Volkswirtschaft wird effizienter, und es entstehen neue Wachstumspotenziale.

Wie gehen wir aber damit um, wenn globale Akteure ihre dominante Marktmacht zur Einschränkung des Wettbewerbs einsetzen? Langfristig brauchen wir für diese Unternehmen ein Weltkartellamt. Die Erfahrung zeigt, dass solche Institutionen nicht von heute auf morgen entstehen. In der Zwischenzeit müssen wir national und europäisch vorgehen. Das geschieht auch: 2018 etwa verhängte die Europäische Kommission eine Kartell-Rekordstrafe in Höhe von 4,34 Milliarden Euro gegen Google, weil das US-Unternehmen die Marktmacht seines Smartphone-Betriebssystems ausgenutzt hat. Seit 2016 läuft ein Beihilfeverfahren, da Irland Apple unerlaubte Steuervorteile von über dreizehn Milliarden Euro gewährt haben soll. Unser nationales Bundeskartellamt untersucht, ob Facebook seinen Kunden unangemessene Geschäftsbedingungen aufzwingt und seine Marktmacht missbraucht. Die Novellierung des Wettbewerbsrechts in dieser Wahlperiode zielt auf die Monopol-Prophylaxe. Dazu sollen die Kompetenzen des Kartellamtes beim Verbraucherschutz punktuell geschärft werden. Auch hier liegt ein schmaler Grat zwischen fairem Wettbewerb auf der einen und möglichst offenen Märkten auf der anderen Seite zugrunde.

Demografischer Wandel und Rentenpolitik

Seit Ludwig Erhards Zeiten ist das Sozialbudget Deutschlands sukzessive gestiegen: von umgerechnet rund dreißig Milliarden Euro 1960 auf über 900 Milliarden Euro 2016. Gleichzeitig stehen wir vor einem vor sechzig Jahren noch nicht vorhersehbaren Phänomen, das den riesigen Sozialstaat massiv unter Druck setzen wird: der demografischen Entwicklung. Die Zahl der Erwerbsfähigen wird sich bis zum Jahr 2060 vermutlich um rund zehn Millionen verringern, die Zahl der 65-Jährigen und Älteren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes um mehr als sechs Millionen steigen.

Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft helfen, auf diese gewaltige Herausforderung die richtige Antwort zu finden. Euckens recht allgemein lautendem Prinzip der „Konstanz der Wirtschaftspolitik“ folgend, müssen sich Unternehmen und Privathaushalte langfristig auf die Stabilität des Rentensystems verlassen können. Die Rentenpolitik der vergangenen Jahre hat dieses Prinzip missachtet. Statt den richtigen Weg der Riester-Reformen weiterzugehen und die private und betriebliche Säule zu stärken, wurde mit der „Rente mit 63“ und der Diskussion um „Doppelte Haltelinien“ die Illusion genährt, man könne alles mit der Gießkanne der gesetzlichen Rente regeln.

Um sprunghaft steigende Rentenbeiträge zu verhindern, müssen wir die Vorsorge wieder stärken, indem wir beispielsweise Riester entbürokratisieren und die Abgabenlast auf Betriebsrenten reduzieren. Wir sollten denjenigen zur Seite stehen, die es – aus welchen Gründen auch immer – gar nicht bis zur Regelaltersgrenze schaffen. Für diejenigen, die länger arbeiten können, sollten wir das System so attraktiv machen, dass sie auch länger arbeiten wollen. Doch leider haben wir in Deutschland immer noch ein Mentalitätsproblem. Obwohl wir immer länger und gesünder leben, gehört man mit 65 schon „zum alten Eisen“ und in Rente. Dabei haben Rente und „Alt-Sein“ nichts mit einem bestimmten Geburtstag zu tun, sondern mit der individuellen Lebenssituation.

Ich habe deshalb im Deutschen Bundestag intensiv dafür gekämpft, den Menschen endlich das Recht zu geben, selbst zu entscheiden, ab wann sie sich als Rentner sehen. Dank der „Flexi-Rente“ hat ein 65-jähriger Arbeitnehmer seit 2017 mehrere Optionen: Möchte er länger arbeiten, kann er weiter in die Rentenkasse einzahlen und damit seine Rente verbessern. Er kann aber auch sofort Rente beziehen und diese durch Weiterarbeit jährlich aufbessern. Finanzielle Anreize dieser Art leiten den längst überfälligen Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik ein.

Europäische Integration und gemeinsame Klimapolitik

Zu Zeiten Erhards und Röpkes steckte die Europäische Integration in den Kinderschuhen. Heute leben wir in einer ausgewachsenen Wirtschafts- und Währungsunion, die dringend reformbedürftig ist. Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft – allen voran das Haftungsprinzip – müssen bei dieser Reform handlungsleitend sein. Denn die Euro-Staatsschuldenkrise zeigt auf, was passiert, wenn Handlung und Haftung auseinanderklaffen. Damit die Europäische Währungsunion eine Zukunft hat, brauchen wir ein Insolvenzverfahren für Staaten, das die Haftung stärkt, Schuldner diszipliniert und Gläubiger vor Erpressungsversuchen schützt.

Auch bei der Reform der gesamten Europäischen Union (EU) müssen wir uns an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft – Wettbewerb, Subsidiarität und Haftung – orientieren. Die EU sollte eine grundsätzliche Aufgabenanalyse vornehmen und dabei alles hinterfragen, was einer funktionierenden Wettbewerbsordnung und einem funktionsfähigen Preissystem nicht dienlich ist. Überall dort, wo wir weltweites Gewicht benötigen, wo es auf Größenvorteile und auf das Internalisieren externer Effekte ankommt, sollten wir zusammenarbeiten etwa beim Schutz der Außengrenzen, beim Binnenmarkt oder bei der Außen- und Verteidigungspolitik. Der Rest muss den Mitgliedstaaten überlassen bleiben.

Bei der Klimapolitik etwa kommt es mehr denn je auf internationale Zusammenarbeit und marktwirtschaftliche Instrumente an. Auch wenn Klimapolitik zu Euckens und Erhards Zeiten kein politisches Thema war, würden wohl beide die derzeitigen Versuche, mit nationalen Subventionen und garantierten Abnahmepreisen den Ausbau von Wind- und Solarkraftanlagen zu fördern, ablehnen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) sollte daher möglichst bald auslaufen. Im Gegenzug sollten wir den europäischen CO2-Handel stärken. Er ist marktwirtschaftlich organisiert, liefert klare Preissignale für eine CO2-arme Energieversorgung und wirkt über die nationalen Grenzen hinaus.

Migration und Islam

Für die Gründungsväter war die Soziale Marktwirtschaft nicht nur eine Wirtschaftsordnung, sondern eine Gesellschaftsordnung, mehr noch: eine Lebensordnung. Vor allem Walter Eucken hat immer auch die Interdependenz von Wirtschaft und anderen Lebensbereichen betont. Von Wilhelm Röpke stammt die These, dass die Marktwirtschaft ohne gemeinsame Werte und sittliche Normen keinen Bestand hat. Eine Gesellschaft baue nicht nur auf dem Gesetz von Angebot und Nachfrage auf, sondern auf einer gemeinsamen Wertebasis, so Röpke in seinem Klassiker Jenseits von Angebot und Nachfrage.

Seit der Flüchtlingskrise 2015 sind Röpkes Aussagen aktueller denn je. Innerhalb weniger Monate wanderte rund eine Million Menschen aus meist islamischen Kulturkreisen mit Überzeugungen ein, die mit dem Werteverständnis unserer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung nur schwer in Einklang zu bringen sind. Dabei ist schon in der Vergangenheit die Integration von muslimischen Zuwanderern nicht immer erfolgreich verlaufen.

Wenn sich die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) immer deutlicher als verlängerter Arm des türkischen Präsidenten geriert und hierzulande türkisch-nationalistisches Gedankengut verbreitet, wenn für junge Deutschtürken der zweiten und dritten Generation die Scharia wichtiger ist als unsere Rechtsordnung, ist kulturelle Rücksichtnahme fehl am Platze. Stattdessen müssen wir unsere Werte- und Rechtsordnung konsequent durchsetzen.

Aber genau daran hapert es. Noch immer werden kriminellen Ausländern bei Gericht sogenannte Kulturrabatte eingeräumt. Bei Asylbewerbern, die ihre Integrationskurse schwänzen und wenig bis keine Leistungsbereitschaft zeigen, werden viel zu oft beide Augen zugedrückt. Weiterhin sind in Moscheen Imame am Werk, die unbehelligt gegen den westlichen Lebensstil und gegen die sogenannten „Ungläubigen“ wettern. Die Politik muss endlich beherzt durchgreifen. Dazu zähle ich beispielsweise Korrekturen im Strafrecht, um künftig die Gewährung von Kulturrabatten auszuschließen. Oder anders ausgedrückt: Wenn jemand seine Ehefrau verletzt und dies damit begründet, in seiner Heimat und seiner Kultur habe er das Recht dazu, dann darf er künftig nicht mehr mit Milde rechnen. Auch für Migranten muss gelten, was für Einheimische längst gilt: das Prinzip der Subsidiarität und der Eigenverantwortung. Zuwanderer müssen sich darum bemühen, auf eigenen Füßen zu stehen und der Gemeinschaft nicht länger als nötig auf der Tasche zu liegen. Integrationsverpflichtungen, wie sie in der Schweiz praktiziert werden, könnten ein Lösungsansatz sein.

Konsequente Anwendung allgemeingültiger Prinzipien

Zudem müssen wir den islamistischen Strömungen bereits in den hiesigen Moscheen die Stirn bieten. Die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, jedoch ist sie nicht schrankenlos. Sie endet da, wo sie als Deckmantel genutzt wird, um Freiheitsrechte einzuschränken, bestimmten Religionsgruppierungen Sonderrechte einzuräumen und damit Parallelgesellschaften zuzulassen. Wenn wir diese Grenzen nicht durchsetzen, droht das Fundament unserer freiheitlichen Gesellschaft zu bröckeln – und damit auch das unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung.

Die Soziale Marktwirtschaft muss weder überarbeitet noch weiterentwickelt werden – ihre einfachen, allgemeingültigen Prinzipien müssen lediglich konsequent angewendet werden. Wie dargelegt, bedeutet das nicht, dass wir nichts zu tun hätten. Vieles hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert und verändert sich beständig. Doch auch den aktuellen Herausforderungen in einer globalisierten und digitalisierten Welt begegnen wir am besten mit den Spielregeln der Ordnungspolitik – mit der Betonung darauf, dass sich alle an diese Regeln zu halten haben, nicht zuletzt die Politik selbst.

Carsten Linnemann, geboren 1977 in Paderborn, Diplom-Volkswirt, Bundesvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) der CDU/CSU, Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.

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