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Warum Umfrageergebnisse doch nicht so schlecht sind

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Spätestens mit der Präsidentenwahl in den USA hat das zyklisch wiederkehrende Demoskopenbashing eingesetzt. Nachdem sie nicht so ausgegangen war, wie es viele Leitartikler herbeizuschreiben versucht hatten, wird die Schuld für die Fehleinschätzungen an die Demoskopen weitergereicht. Dabei hatte man sich zuvor der Umfrageergebnisse je nach Bedarf sehr selektiv bedient.

Viele Journalisten zeigten keinerlei Hemmungen, die Umfragedaten der Demoskopen selbst zu interpretieren. Die ergänzenden Erläuterungen wischten sie beiseite. Nun thematisieren sie Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Umfrageforschung im Allgemeinen. Dies geschieht mit der gleichen verabsolutierenden Rigorosität, wie sie dem Publikum zuvor die Daten ohne jegliche Relativierung präsentiert hatten. Beides wurzelt letztlich in der Unkenntnis der Methoden und der Leistungsfähigkeit demoskopischer Instrumente, die wahlweise als Wundermittel der Prophetie glorifiziert oder als Scharlatanerie verteufelt werden.

Für einen in Deutschland agierenden Meinungsforscher ist es nicht notwendig, für die Kollegen in Großbritannien, den USA und Österreich Rechenschaft abzulegen; dennoch haben sie eine faire Bewertung ihrer Arbeit verdient. Auf die ungerechtfertigten Vorwürfe einzugehen, ist aber unerlässlich, weil diese Kritik zum Anlass genommen wird, um gegen die Meinungsforschung in Deutschland zu polemisieren. Aktuell steht dabei im Fokus, dass angesichts des europaweit wachsenden Populismus die politische Stimmung mit Umfragen nicht (mehr) korrekt erfassbar sein soll.

Brexit: Solitäre Fehlbewertung

In den Umfragen über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union (EU) führten über viele Monate hinweg die Anhänger des „Remain“. Allerdings zeigten die Umfragen, die in den Tagen vor der Abstimmung veröffentlicht wurden, einen deutlich knapper werdenden Vorsprung dieses Lagers. Die letzten Umfragen ergaben im Durchschnitt ein Ergebnis von 52 Prozent zu 48 Prozent für den Verbleib in der EU. Angesichts der den Umfragen innewohnenden statistischen Fehlerbereiche kann man einen solchen Befund seriöserweise lediglich als ein Kopf-an-KopfRennen klassifizieren. Mit einer Ausnahme haben sich deshalb die führenden Meinungsforschungsinstitute im Hinblick auf eine Prognose des Ausgangs der Abstimmung stark zurückgehalten. Zudem wurde die Situation durch die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox wenige Tage vor der Abstimmung noch unkalkulierbarer. Lediglich das Institut YouGov hatte sich auf der Basis einer Onlinebefragung klar auf einen Sieg des RemainLagers festgelegt. Allerdings hatte diese Umfrage auch nur einen Vorsprung von 52 Prozent zu 48 Prozent ermittelt. Insofern handelt es sich hierbei um eine solitäre Fehlbewertung durch YouGov.

USA: Wahlausgang nicht vorhersehbar

Bei den Präsidentschaftswahlen in den USA kann man es sich leicht machen und auf die Schlagzeile des Berliner Tagesspiegel einen Tag vor der Wahl verweisen: „Amerikas Demoskopen warnen vor Überraschungen“, stand in großen Lettern auf Seite eins. Insofern liegt im Falle der US-Wahl offen sichtlich weniger ein Versagen der Meinungsforscher vor als vielmehr eine

weitverbreitete inadäquate Interpretation von Umfrageergebnissen durch große Teile der Medienlandschaft, aber vor allem durch einige sogenannte Strategen.

Die Fehleinschätzung resultiert vor allem daraus, dass viele Beobachter für den Ausgang der US-Wahl Umfragen zur Popular Vote, also zum prozentualen Abschneiden bezogen auf das ganze Land, herangezogen haben. Dies ignoriert aber völlig das geltende Wahlsystem, bei dem es letztlich allein auf das Abschneiden in einer guten Handvoll Swing-States ankommt. Aber selbst die Popular Vote war nicht so schlecht, denn Clinton hat in der Tat landesweit mehr als 2,8 Millionen Stimmen mehr bekommen als Trump, was die Umfragen im Durchschnitt mit knapper werdender Tendenz durchaus richtig wiedergegeben haben; dazu kam ein angegebener Anteil von rund zehn Prozent Unentschlossenen.

Relevant ist aber das Wahlmännerergebnis. Dafür braucht es zumindest in allen Swing-States (und noch ein paar mehr Bundesstaaten) bundesstaatenspezifische solide und regelmäßige Umfragen, die auch jemand finanzieren muss. Das Mediensystem muss dann zwischen den soliden und den 500erOnlineumfragen unterscheiden und dies differenziert bewerten.

Ein seriöses Sichten und Bewerten der vielen Umfragen, die in den einzelnen Staaten erhoben wurden, musste unmittelbar vor der Wahl zu dem Ergebnis eines unentscheidbaren Kopf-an-Kopf-Rennens führen. Wenn die Meinungsforscher etwas als unentscheidbar knapp einstufen, dann sollte man das eben auch so hinnehmen. Die Forschungsgruppe Wahlen hat für das ZDF durch die Bewertung einer Vielzahl von Meinungsumfragen unter schiedlicher Qualität insgesamt 115 Wahlmännerstimmen vor Beginn des Vorliegens der ersten Exit-Poll-Ergebnisse am Wahlabend als unbestimmt eingestuft, was einen offenen Ausgang der Wahl implizierte und ganz sicher keinen sicheren Sieg für Clinton, auch keinen knappen. Faktisch war der Ausgang der Wahl auch in den entscheidenden Bundesstaaten extrem knapp. Vereinzelte Institute – teils mit sehr seltsamen Verfahren – mögen mit der Prognose eines Trump-Sieges richtiggelegen haben; wissenschaftlich korrekt war ihr Ergebnis aber dennoch nicht, weil es nicht die tatsächliche extreme Knappheit der Situation wiedergegeben hat, die es nicht erlaubte, seriös einen Gewinner vorher zu ermitteln.

Österreich: Keine aktuellen Umfragen

Bei der Wiederholungswahl für den österreichischen Bundespräsidenten wollen die Medien ebenfalls ein Versagen der Demoskopen festgestellt haben. Wenn man genau hinsieht, stellt man allerdings fest, dass die beiden letzten Umfragen in Österreich am 17. November 2016 veröffentlicht wurden (Gallup und Unique Research). Das heißt: Sie waren circa drei Wochen vor dem Wahl gang durchgeführt worden und kamen beide zu einem Kopf-an-Kopf-Ergebnis (49 Prozent zu 51 Prozent beziehungsweise 52 Prozent zu 48 Prozent).

Die meisten Medien in Österreich hatten sich vor dieser Wahl geweigert, Umfrageergebnisse zu veröffentlichen beziehungsweise in Auftrag zu geben. Allein der große zeitliche Abstand der Umfragen zur tatsächlichen Wahlentscheidung, die beispielsweise den Strategiewechsel von Norbert Hofer von der FPÖ in den letzten Tagen vor der Wahl nicht mehr berücksichtigen konnte, lässt eigentlich nur die Feststellung zu, dass es für die Wahlentscheidung am 4. Dezember 2016 keine aktuellen Umfragen gegeben hat und somit auch keine Umfragen falsch oder richtig sein konnten. Von daher ist auch in diesem Fall die Behauptung, dass die Demoskopen versagt hätten, unzutreffend.

Messung populistischer Strömungen

Als Zwischenfazit lässt sich feststellen: Soweit Umfragen vorlagen, waren diese objektiv gesehen gar nicht so falsch. Wenn die Umfrageergebnisse aber – anders als behauptet – nicht so falsch waren, dann stellt sich die Frage, ob populistische Strömungen mithilfe von Umfragen überhaupt angemessen ab gebildet werden können, nicht mehr so brisant.

Was aber können wir anhand der drei Beispiele Brexit, Präsidentenwahl in den USA und Bundespräsidentenwahl in Österreich feststellen? In erster Linie, dass zur Beurteilung eines Wahlausgangs nur seriös durchgeführte und aktuelle, also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Wahlentscheidung liegende Umfragen zur Interpretation infrage kommen. Umfragen, die Wochen vor einer Wahlentscheidung durchgeführt worden sind, können logischerweise bestenfalls die politische Stimmung zum Zeitpunkt der Durchführung dieser Umfragen wiedergeben. Ein prognostischer Charakter kann ihnen nicht zukommen.

Umfragen bedürfen zudem der fachkundigen Interpretation, und diese mündet eher in eine zurückhaltende als eine reißerische Schlagzeile. Aber ganz unabhängig davon gibt es keine internationale und interkulturelle Wahl und Meinungsforschung. Das heißt zum Beispiel: Erfahrungen aus den USA sind vor allem geeignet, um Umfragen im politischen System der USA zu verbessern. Wir müssen unsere Erfahrungen in Deutschland für die Verbesserung unserer Instrumente nutzen.

Weltformel der Meinungsforschung

Natürlich gibt es auch bei uns eine Reihe von Problemen und Baustellen, denen sich die seriöse Meinungsforschung stellen und für die sie Lösungen an bieten muss. Zunächst einmal gilt es festzustellen, dass es nicht darum geht, eine immer gültige Weltformel der Meinungsforschung zu finden. Meinungsforschung ist eine empirische Wissenschaft, bei der es gilt, sich immer wieder aufs Neue der sich kontinuierlich verändernden Realität anzunähern. Dabei geht es insbesondere auch darum, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sie als Erfahrungen konstruktiv zu nutzen.

In der Tat ist das Aufkommen populistischer Strömungen in der Anfangsphase ein Problem für eine erfahrungsbasierte Wissenschaft, da für die neu entstehenden Bewegungen zunächst keine Erfahrungswerte vorliegen. Das ist aber grundsätzlich kein Vorgang, der aktuell einmalig ist, sondern diese Probleme sind bereits in der Anfangsphase der Republikaner, der StattPartei und der Piraten aufgetreten.

So hat sich zum Beispiel bei den drei Landtagswahlen am 13. März 2016 gezeigt, dass die von uns (und anderen) angenommenen Dunkelziffern für die AfD zu niedrig waren. Aufgrund dieser Erfahrungen haben wir das korrigiert und gehen bei der AfD inzwischen von ähnlichen Werten aus, wie wir sie sonst bei der NPD benutzen. Das bedeutet nicht, dass es sich bei den Anhängern von AfD und NPD um die gleichen politischen Einstellungsmuster handelt, wohl aber, dass es bei beiden Parteien mittlerweile eine vergleichbare Systemopposition gibt, die zu einer fehlenden Bekenntnisbereitschaft beziehungsweise einer Teilnahmeverweigerung eines Teils dieser Wählerschichten führt. Mit diesem durch Erfahrung korrigierten Ansatz wurde die AfD bei den Wahlen im Herbst 2016 zutreffend wiedergegeben (letzte FGW-Umfrage Mecklenburg-Vorpommern am 1. September 2016: 22 Prozent; Ergebnis: 20,8 Prozent / Berlin am 15. September 2016: 14 Prozent;

Ergebnis: 14,2 Prozent).

Unentschiedenheit der Wähler

Jenseits aktueller populistischer Strömungen hat sich die politische Landschaft in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Durch die gewachsene Säkularisierung und Individualisierung in unserer Gesellschaft ebenso wie durch die Entideologisierung infolge des Wegfalls des Ost-West-Konflikts sind traditionelle Bindungen an bestimmte Parteien stark zurückgegangen. Dadurch entstand eine hohe Volatilität der Parteiorientierung und der Wahlabsicht, was zu immer häufigeren Meinungsänderungen in immer kürzerer Zeit auch im Hinblick auf Wahlen geführt hat.

Aufgrund der Tatsache, dass die politische Stimmung kurzfristig immer größeren Veränderungen ausgesetzt ist, muss die Meinungsforschung, wenn sie zeitnah einen realistischen Befund liefern will, immer häufiger entsprechende Umfragen durchführen. Außerdem muss der Zeitraum zwischen Datenerhebung und Datenveröffentlichung möglichst kurz gehalten werden. Im Hin blick auf eine realistische Wiedergabe der Größenordnung für die Parteien für eine Wahl bedeutet dies, dass die letzten Umfragen vor einer Wahlentscheidung in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dieser Wahl gemacht werden müssen, da sonst zwangsläufig die Gefahr besteht, aufgrund veralteter Daten ein bereits längst überholtes Stimmungsbild zu zeichnen.

Aus diesem Grund publiziert die Forschungsgruppe Wahlen seit der Bundestagswahl 2013 im ZDF ihre letzten Umfragen am Donnerstag vor der jeweiligen Wahl, was zu einer weiteren Verringerung der Differenzen zwischen Umfrageergebnis und Wahlergebnis geführt hat. Wir erheben dennoch ganz bewusst mit der Veröffentlichung dieses letzten Stimmungsbildes wenige Tage vor der Wahl nicht den Anspruch, damit eine Prognose für den Wahlausgang machen zu wollen. Auch in diesem Fall bleiben der wachsenden Zahl hochvolatiler Wähler noch einige Tage zwischen der letzten Umfrage und der Stimmabgabe an der Wahlurne. Vor der letzten Bundestagswahl konnten wir zum Beispiel ermitteln, dass wenige Tage vor der Wahl noch 72 Prozent der Befragten mit Wahlabsicht gesagt haben, dass für ihre Wahlentscheidung mehr als eine Partei infrage kommt.

Diese gewachsene Unentschiedenheit der Wähler müssen und können seriöse Umfragen abbilden. Aber daraus ergibt sich eben auch immer öfter eine Situation, aus der ein klarer Sieger selbst einige Tage vor einer Wahl nicht zweifelsfrei prognostizierbar ist.

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Matthias Jung, geboren 1956 in Speyer, Mitglied des Vorstands der Forschungsgruppe Wahlen e. V., Inhaber des Instituts für praxisorientierte Sozialforschung (i p o s), Geschäftsführender Gesellschafter der FGW Telefonfeld GmbH.

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