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Der Kampf um Bildung in libanesischen Flüchtlingscamps

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Unser Verein www. Zeltschule.org baut Schulen in den Flüchtlingslagern im Libanon, in denen Hunderttausende syrische Flüchtlingskinder schon seit über einem Jahrzehnt in rudimentären Zelten ohne Strom und fließendes Wasser leben und keinen Zugang zu Bildung haben, sondern oftmals gezwungen sind, durch Kinderarbeit auf den umliegenden Feldern die Familie zu ernähren, weil ihre Eltern einem Arbeitsverbot unterliegen. Schon seit Beginn des Krieges dürfen die syrischen Geflüchteten zwar ins Land, sind dann jedoch völlig auf sich allein gestellt, weil es keinerlei staatliche Unterstützung gibt und gleichzeitig ein Arbeitsverbot für die Syrer besteht. Die Kinder hingegen sind gern gesehene, billige Erntehelfer auf den riesigen Anbauflächen in der Bekaa-Ebene. Morgens fahren große Laster in die Camps und nehmen alle Kinder, die neun Jahre und älter sind (in der Praxis habe ich aber auch schon mit Siebenjährigen gesprochen, die seit Monaten auf den Feldern arbeiteten), mit und bringen sie zu einem Feld, an dem an diesem Tag gearbeitet werden muss. Zehn bis zwölf Stunden arbeiten die Kinder dann in sengender Hitze und oft unter Aufsicht gewalttätiger Vorarbeiter – und bekommen umgerechnet drei US-Dollar dafür. Diese drei US-Dollar müssen dann die gesamte Familie ernähren – in einem Land, dessen Hyperinflationsrate gerade bei 500 Prozent liegt.

Nassir ist elf Jahre alt und besucht unsere „Igelschule“. Er lebt in einem Sechzehn-Quadratmeter-Zelt mit seiner Mutter und seinen beiden älteren Brüdern. Sie schlafen zusammen auf zwei Matratzen, weitere Möbel hat das Wohnzelt nicht. Wie die meisten Kinder hier kommt er ohne Frühstück in die Schule. Das Fladenbrot, das wir vormittags verteilen, wird seine erste Mahlzeit sein. In allen unseren Schulen erleben wir die Kinder als sehr fleißig und aufmerksam; wir merken sehr genau, dass sie lange ohne Schule auskommen mussten und am eigenen Leib erfahren haben, was für ein Privileg Bildung ist – doch Nassir ist noch ein wenig fleißiger als alle anderen Kinder. Seine Familie stammt aus Homs. Sein Vater war zu Hause Ingenieur, seine Mutter Krankenschwester. 2013 „verschwand“ sein Vater. Mäf quud bedeutet so viel wie verloren, vermisst, verschwunden, und ich höre es sehr oft in den Camps. Über 100.000 Syrer sind seit Kriegsbeginn „verschwunden“, ohne dass ihre Familien jemals erfahren haben, was aus ihnen geworden ist. Viele Kinder kämpfen mit traumatischen Erinnerungen.

Nassirs Vater Salim ist einer dieser „Verschwundenen“. Als die Proteste 2011 begannen, war er unter den friedlichen Demonstranten. Wenn Eltern hier in Deutschland demonstrieren, für Klimaschutz, gegen Rassismus, für die Schwulenehe, gegen Kernkraftwerke, dann posten sie Selfies auf Instagram, um zu zeigen, wie politisch engagiert sie sind. In Syrien ist eine Demonstration für freie Wahlen lebensgefährlich. Als es zu den ersten Gewaltakten des Regimes gegen die Demonstranten kam, hörte Salim sofort auf, als Vater von drei kleinen Söhnen konnte er so ein Risiko für seine Familie nicht eingehen. Im Stillen war er stolz auf seine Stadt, die sich wie keine andere in Syrien zu dieser Zeit gegen das diktatorische Regime erhob. Homs war die erste „Rebellenhochburg“, wie westliche Medien es nennen; für viele auch die einzige.

Am 2. Februar 2012 rollten Panzer in die Stadt, und zum ersten Mal wurde ihm klar, dass hier nicht mehr Proteste gewaltsam niedergeschlagen wurden, sondern dass Syrien mitten in einem Bürgerkrieg steckte. „Es ist lächerlich, aber so richtig haben wir das erst begriffen, als wir diese Panzer sahen. Ein Krieg in der eigenen Straße, mit der eigenen Regierung. Da wussten wir, dass wir fliehen müssen“, erzählt Nassirs Mutter Nashra.

Dennoch klammert man sich an Strohhalme, will die Heimat nicht verlassen: In der Wohnung waren die drei Söhne zur Welt gekommen, an den Wänden hängen Fotos und selbst gemalte Bilder der Kinder, eine Kommode von Nashras Großmutter haben sie gemeinsam aufgearbeitet und sie ist ihr ganzer Stolz; das Geschäft, das Salim über Jahre aufgebaut hat; die Kinder müssen zur Schule … Kann man das alles einfach zurücklassen, einen Rucksack packen und gehen? Ein ganzes Leben abstreifen, nicht nur die Gegenwart dieses Lebens, sondern auch die Zukunft, alle Ziele, Pläne, Hoffnungen? Am 22. Februar 2012 wurde ihnen die Entscheidung abgenommen: Bomben zerstörten das Nachbarhaus.

„Zwei Meter neben unserem Wohnzimmerfenster lag plötzlich ein dreistöckiges Haus in Schutt und Asche. Das hätten wir sein können. Aber es waren unsere Nachbarn, eine Familie, die wir seit Jahren kannten, einmal im Monat haben wir gemeinsam gekocht, ihr Sohn ging mit unseren Kindern morgens zur Schule. Da wussten wir, es zählt nur noch, am Leben zu bleiben.“

Am nächsten Morgen war Salim auf dem Weg zur Wohnung seiner Schwester, um sich von ihr zu verabschieden, denn er wollte mit seiner Familie am folgenden Tag in den Libanon fliehen – doch bei seiner Schwester kam er nie an, und er kam auch nicht mehr nach Hause. Nachbarn sahen, wie er in einen Militärwagen gezerrt wurde; das ist das letzte Mal, dass er gesehen wurde. Zwei Wochen lang suchte Nashra überall nach ihm, klapperte alle Gefängnisse, Polizeistationen und Krankenhäuser ab. Nichts. Gleichzeitig fielen immer mehr Bomben, und sie musste ihre Söhne in Sicherheit bringen. Sie dachte daran, im Haus Zettel zu hinterlassen, die ihm sagen, dass sie im Libanon sind, aber dann hatte sie doch zu viel Angst, die Information könnte in den falschen Händen zu großen Schaden anrichten. Wortlos machten sich Nashra und ihre drei Söhne (Nassir war vier Jahre alt, seine beiden älteren Brüder sechs und neun) zu Fuß auf den Weg. Sechzehn Tage waren sie unterwegs, haben im Freien geschlafen, gefroren.

„Es war so surreal“, sagt Nashra und schüttelt immer noch verständnislos den Kopf, „sechs Monate vorher hatten wir ein ganz normales Leben. Wir haben darüber gesprochen, uns ein neues Auto zu kaufen, Nassir wünschte sich einen Hund. Unser größtes Problem schienen schlechte Noten in Mathe bei den Jungs. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich in ein paar Monaten meinen Mann nicht mehr finde, ich mit meinen Kindern ins Ausland fliehen muss, wir uns vor Bomben verstecken müssen … ich hätte denjenigen für verrückt erklärt.“

Selbst während der Flucht gibt es immer wieder diese „Rückfälle“ in die alte Realität: „Ich erinnere mich, dass mein Sohn während eines Bombenangriffs, als wir uns im Keller eines verlassenen Hauses versteckten, plötzlich fragte, ob wir seinen neuen Zirkel eingepackt haben, den ich ihm erst eine Woche vorher für die Schule gekauft hatte. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass er vermutlich nie wieder in seinem Leben einen Zirkel brauchen wird, dass dieser Teil unseres Lebens, der normale Teil, für immer vorbei ist.“

„Ich habe auf dem Weg immer gehofft, dass wir irgendwo Papa treffen“, sagt Nassir mit gesenktem Blick. „Aber er war nirgendwo. Und er hat uns nie angerufen.“ An die Flucht hat Nassir deutlichere Erinnerungen, als ihm lieb ist. Endlose Wege, tagsüber verstecken und versuchen zu schlafen, nachts laufen, laufen, laufen. Und das Schlimmste: Alle Wege führten immer weiter weg von zu Hause. Heimweh hat er noch heute, obwohl er schon länger im Camp lebt, als er je in seinem eigenen Zuhause lebte, und obwohl er weiß, dass das Zimmer, in dem er einmal schlief, der Kühlschrank, der immer gefüllt war, die heiße Dusche, die immer zur Verfügung stand, vermutlich längst nicht mehr existieren. Bekannte, die nach ihnen geflohen sind, haben ihnen erzählt, dass die Straße, in der Nassirs Familie lebte, völlig zerstört wurde. An Lichtschalter, Supermärkte oder Schlafanzüge kann er sich kaum mehr erinnern. Es ist ein neues Leben, mit dem er immer noch täglich kämpft.

Noch heute ist Nashras Handy der Schrein der Familie. Noch heute warten sie jeden Tag auf einen Anruf. Salims Name stand bisher auf keiner der Todeslisten, die das Regime veröffentlicht hat, aber Nashra weiß so gut wie ich, dass das gar nichts heißt. Mäf quud.

Nassir und seine Brüder haben wenigstens die Schule, wenigstens dieses kleine Fenster, das sich in eine bessere Zukunft öffnet. Hunderttausende syrischer Kinder im Libanon können keine Schule besuchen. In seiner Freizeit arbeitet Nassir an Erfindungen. Alles Mögliche hat er schon aus Müll gebaut. Später möchte er Ingenieur werden wie sein Vater. Wir unterrichten die Kinder im „Schichtbetrieb“, in einer Vormittags-, Nachmittags- und Abendgruppe, nur so können wir auch jedes Kind jeden Tag mehrere Stunden unterrichten. Fast täglich fleht Nassir die Lehrer an, sich in mehreren Schichten in den Unterricht setzen zu dürfen, vormittags und nachmittags. „Teach me! Teach me!“ ruft er im Englischunterricht, wenn es nicht schnell genug geht.

Als ich 2016 die erste Schule in einem Flüchtlingslager im Libanon baute, sprach ich mit Hunderten Kindern. Was ihre Träume seien, habe ich sie gefragt, was sie sich von mir wünschten, wenn ich einen Zauberstab hätte, wenn alles möglich wäre. Antworten bekam ich keine, und es dauerte ein paar Tage, ehe mir klar wurde, dass Überleben in einem Zelt ohne Strom und fließendes Wasser, auf der Flucht, das Überwinden der erlebten Traumata so viel Kraft erfordert, dass für Träume nichts mehr übrig bleibt. Die Kinder waren völlig überfordert von meinen Fragen. Und das ist vielleicht die drastischste, kraftvollste und wunderschönste Folge unserer Arbeit: Die Kinder können wieder träumen. Wenn ich heute mit ihnen spreche, haben sie große Pläne: Sie wollen Lehrer werden, Krankenschwester, Künstler, Anwältin … Sie träumen von Häusern, die sie zu Hause in Syrien wieder aufbauen, von Familien, die wieder zusammenkommen … Durch unsere Schulen wird der Begriff „Zukunft“ weniger abstrakt. Nach allem, was sie durchgemacht haben, halten die Kinder wieder positive Dinge für möglich, und das ist unser großer Sieg, der uns weitermachen lässt.

„Es wäre Papa wichtig gewesen, dass ich so viel wie möglich lerne“, sagt Nassir mir später. Zum ersten Mal nutzt er mir gegenüber die Vergangenheitsform, wenn er von Salim spricht. Als ich ihn darauf aufmerksam mache, zuckt er mit den Schultern. „Papa war in unserem alten Leben. Aber das ist weg.“

Wie der Zirkel. Mäf quud.

 

Jacqueline Flory, geboren 1976 im Allgäu, Übersetzerin, Gründerin und Vorsitzende des Vorstands von Zeltschule e.V., im Mai 2022 ausgezeichnet mit dem Internationalen Bremer Friedenspreis.

 

 

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