Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wirkt der Westen geschlossen wie lange nicht. Doch zu glauben, die USA würden unsere Interessen wie in der guten alten Zeit des Kalten Krieges mitvertreten, ist die transatlantische Illusion. Denn die Weltmacht ist heute innenpolitisch angeschlagen und wird sich außenpolitisch auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren.
Beide Entwicklungen – die gravierenden inneren Probleme der Weltmacht USA und ihre damit zusammenhängende außenpolitische Umorientierung – sollten den Verantwortlichen in Deutschland und Europa gründlich zu denken geben. Damit ist nicht gemeint, die NATO zu verlassen oder das transatlantische Bündnis aufzukündigen. Beides wäre in der gegenwärtigen, seit Russlands Ukraine-Invasion umso unsicheren Lage sicherheitspolitisches Harakiri. Wohl aber geht es darum, den Weg in Richtung einer von den USA unabhängigen Verteidigungsfähigkeit Europas einzuschlagen, mit dem langfristigen Ziel eines Bündnisses auf Augenhöhe. Das ist kein einfacher Weg und auch kein kurzer. Und es ist auch nicht gesagt, dass wir dafür genügend Zeit bekommen. Denn niemand kann wissen, wann in Washington erneut jemand wie Donald Trump im Weißen Haus sitzt.
Ruhe vor dem nächsten Sturm
Die Republikanische Partei, die einst den Kampf gegen den „gottlosen Kommunismus“ führte, beugt sich jetzt einem Führer, der Putin ein „Genie“ nennt. Wo es gälte, sich der russischen Aggression entschieden zu widersetzen, belobigen Trumps Anhänger bewaffnete Aufständische, die das Kapitol der Vereinigten Staaten angegriffen haben. Zusätzlich schleifen die Republikaner das Wahlrecht, um Trump eine zweite Amtszeit zu ermöglichen.
Aufgrund der politischen Polarisierung in Washington wird die für das Weiterbestehen der US-Demokratie notwendige Aufarbeitung des Sturms auf das Kapitol vom 6. Januar 2021 von den Republikanern im Kongress blockiert. Die Mehrzahl der republikanischen Abgeordneten und Senatoren folgt weiterhin willfährig ihrem Volkstribun Donald Trump; nur wenige widersprechen Trumps Behauptung, dass die Wahl „gestohlen“ worden und Biden nicht der rechtmäßige Präsident der Vereinigten Staaten sei.1
Umfragen belegen, dass auch die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler der Republikaner glaubt, dass Präsident Joe Biden nicht rechtmäßig gewählt wurde und dass etwa ein Drittel auch Gewalt zur Erreichung politischer Ziele befürwortet.2 Wer diese Fakten ernst nimmt, sollte nicht überrascht sein, wenn es zu weiteren Gewaltexzessen wie am 6. Januar 2021 kommen sollte, als nach Trumps Anweisung, „zu kämpfen wie der Teufel“,3 ein bewaffneter Mob das Kapitol stürmte, um die parlamentarische Zertifizierung von Bidens Wahlsieg zu verhindern.
Aber selbst die Ruhe vor einem weiteren möglichen Sturm lässt für die Demokraten und die Regierungsfähigkeit der Weltmacht nichts Gutes erwarten: Obwohl bei den nächsten Zwischenwahlen im November 2022 nicht das Präsidentenamt, sondern nur die Mitglieder des Kongresses – also 435 Abgeordnete des Repräsentantenhauses und ein Drittel des 100-köpfigen Senats – zur Wahl anstehen, könnte dieses Votum die legislative Handlungsunfähigkeit des amtierenden Präsidenten Biden festigen.
Bis auf wenige Ausnahmen hat jeder Amtsinhaber bei den Zwischenwahlen Sitze im Kongress verloren, zumal wenn er – wie Biden – nur schwache Zustimmungswerte für seine Amtsführung hat. Bereits der Verlust eines weiteren Sitzes im Senat würde den Republikanern einen mächtigen Hebel an die Hand geben, um sämtliche Pläne der Demokraten blockieren zu können. Mit den Kongresswahlen im November 2022 wird Biden voraussichtlich den Rest seiner Fähigkeit verlieren, Gesetze zu erlassen. Wenn es der Biden-Regierung nicht mehr gelingt, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lindern, dürften Trumps Startchancen für dessen mögliche Rückkehr ins Weiße Haus steigen. Insbesondere könnte Bidens Unfähigkeit, das Wahlrecht zu reformieren, sich als problematisch für die amerikanische Demokratie erweisen und seinem Herausforderer Trump Chancen für eine zweite Amtszeit geben.
Ermächtigung zur Manipulation
Die Reform des Wahlrechts drängt, seitdem das Oberste Gericht am 25. Juni 2013 im Fall Shelby County versus Holder mit einer knappen Mehrheit von fünf gegen vier Stimmen urteilte, dass eine elementare Bestimmung des Voting Rights Act, ein Meilenstein der Emanzipation, der das gleiche Wahlrecht für schwarze Bürgerinnen und Bürger garantierte, überholt und damit verfassungswidrig sei. Hatten die bei Wahlen mit Diskriminierungspraktiken historisch vorbelasteten Südstaaten bis dahin der Bundesaufsicht unterstanden, so sind die Gesetzgeber seitdem aufgefordert, neue, an die heutige Zeit angepasste Kriterien zu finden, die weiterhin eine bundesstaatliche Aufsicht der von den Einzelstaaten organisierten Wahlen rechtfertigen würden.
Solange die Bundesregierung keine entsprechende Wahlrechtsreform verabschiedet, haben die Einzelstaaten freie Hand, wenn sie Minderheiten bei Wahlen wieder benachteiligen wollen. Ohne Aufsichtsrecht Washingtons müssen vor allem die den Demokraten näherstehenden afroamerikanischen Wählerinnen und Wähler damit rechnen, durch Auflagen der Einzelstaaten bei Wahlen diskriminiert zu werden, wenn sie etwa nicht die notwendigen Papiere zur Wählerregistrierung vorweisen können oder die Zeit für die Stimmabgabe beziehungsweise die Möglichkeit der Briefwahl eingeschränkt wird. Mittlerweile haben republikanische Gesetzgeber in 41 Bundesstaaten bereits Hunderte von Gesetzesvorlagen vorgeschlagen und fast drei Dutzend Gesetze verabschiedet, die die einzelstaatlichen Gesetzgeber ermächtigen, Wahlen zu ihren Gunsten zu manipulieren. Unter anderem sollten professionelle Wahlbeamte durch Parteiaktivisten ersetzt werden, die ein Interesse daran haben, dass ihr Kandidat gewinnt. Viele dieser Gesetze sind in entscheidenden battleground states wie Arizona, Wisconsin, Georgia und Pennsylvania vorgeschlagen und verabschiedet worden.4
„Wir sind nah am Bürgerkrieg“
Ohnehin war bei näherer Betrachtung Bidens Wahlsieg hauchdünn. Trump fehlten in Georgia, Arizona und Wisconsin, den Staaten mit den knappsten Wahlausgängen, zusammengenommen weniger als 44.000 Stimmen, um die Wahl doch noch für sich zu entscheiden.5
Bereits nach der Wahl 2020 hatte es die Trump-Kampagne auf diese Staaten abgesehen, indem sie Nachzählungen einklagte und Beamte einzuschüchtern versuchte, um „fehlende“ Stimmen zu finden. Dank der Integrität der Wahlbeamten scheiterten diese Bemühungen. Viele dieser Beamten wurden seitdem aus dem Amt gedrängt und durch Trump-Anhänger ersetzt, die offen behaupten, dass die letzte Wahl betrügerisch gewesen sei.6
Der Begriff „battleground states“ könnte künftig eine noch dramatischere Bedeutung im eigentlichen Wortsinn umschreiben: „Wir sind näher am Bürgerkrieg, als irgendjemand von uns glauben möchte“, heißt es in einer neuen Studie von Barbara F. Walter.7 Die Professorin für Politikwissenschaft an der University of California in San Diego ist nicht bekannt für Übertreibungen, sondern für nüchterne Lageanalysen. Sie ist Mitglied der Political Instability Task Force, eines Beratungsgremiums der Central Intelligence Agency, das weltweit Länder überwacht und prognostiziert, welche am stärksten von Gewalt bedroht sind.
Selbst wenn es nicht so weit kommen sollte, spricht derzeit vieles dafür, dass die USA künftig allzu viel mit sich selbst, also mit ihrer inneren Ordnung, zu tun haben werden, als dass sie die vom (noch) amtierenden Präsidenten Joe Biden beanspruchte Rolle des Hüters einer liberalen Weltordnung erfüllen könnten. Von ihr sind jedoch Europas Sicherheit und Wohlstand abhängig.
America first!
Die Sicherheit, der Wohlstand und der soziale Frieden in Deutschland und Europa werden in Zukunft umso mehr von den Defiziten und Defekten der amerikanischen Demokratie beeinträchtigt, wenn Europas Regierungsverantwortliche weiterhin tatenlos abwarten und sich der transatlantischen Illusion hingeben, dass die Vereinigten Staaten wieder zu ihren alten Tugenden zurückfinden und auch Europas Interessen wahrnehmen würden.
Das Gegenteil ist realistischer: Dass die USA wieder zu früherer Stärke und Dominanz gelangen, wäre in einer mittlerweile multipolaren Welt nur um einen Preis zu haben, den andere, vor allem auch Europa, zu zahlen hätten. Um den drohenden Kollaps abzuwenden und ihre dominante Weltmachtrolle zu bewahren, werden die Verantwortlichen in den USA alles daransetzen, ihre Interessen noch rücksichtsloser durchzusetzen und Lasten auf Freund und Feind abzuwälzen. Wieder könnte es heißen: America first!
Europas Chance
Für Europa, das der ehemalige und möglicherweise künftige US-Präsident Donald Trump und seine republikanische Partei sogar offen als Rivalen betrachten, bedeutet diese bedrohliche Entwicklung auch eine Chance – die Gelegenheit nämlich, die eigenen Interessen und Werte souveräner wahrzunehmen. Wir müssen selbstständiger werden: militärisch, politisch und wirtschaftlich. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber wenn wir jetzt nicht damit beginnen, dann werden wir zu den Verlierern der neuen Weltordnung gehören und die Grundlagen verspielen, auf denen unser Wohlstand beruht.
Wem die liberale, sprich regelbasierte Weltordnung am Herzen liegt, sollte nicht auf Washington oder den Weltgeist hoffen, sondern sein Schicksal mutig selbst in die Hand nehmen. Es ist das Gebot der Stunde, Europas politische Einheit und damit auch den Wirtschafts- und Währungsraum im globalen geoökonomischen Wettbewerb zu stärken. Um ihre politische Anfälligkeit zu überwinden und ihre Handlungsfähigkeit zu verbessern und „weltpolitikfähig“ zu werden, sollte die Europäische Union auch in der Außen- und Sicherheitspolitik von der Illusion der Einstimmigkeit hin zu einer realistischeren Konsensfindung in Form einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung finden. Denn nur dieser supranationale Rahmen gewährt europäischen Staaten die nötige Souveränität, um in der neuen Weltordnung selbstbestimmt wirtschaften und sicher leben zu können.
Josef Braml, geboren 1968 in Regen (Bayern), promovierter Politikwissenschaftler, Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Weitere Analysen des Autors auch unter https://usaexperte.com/.
Literaturempfehlung
Braml, Josef: Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können, Verlag C. H. Beck, München 2022.
1 Editorial Board: „Trump’s violent political rhetoric is metastasizing in the Republican Party“, in: Washington Post, 19.03.2022, www.washingtonpost. com/opinions/2022/03/19/trumps-violent-political-rhetoricis-metastasizing-republican-party/ [letzter Zugriff: 19.04.2022].
2 Dan Balz / Scott Clement / Emily Guskin: „Repub licans and Democrats divided over Jan. 6 in surrection and Trump’s culpability, PostUMD poll finds“, in: Washington Post, 01.01.2022, www.washingtonpost.com/politics/2022/01/01/post-poll-january-6/ [letzter Zugriff: 19.04.2022].
3 Brian Naylor: „Read Trump’s Jan. 6 Speech, A Key Part Of Impeachment Trial“, in: NPR, 10.02.2021, www.npr.org/2021/02/10/966396848/read-trumps-jan-6-speech-a-key-part-of-impeachmenttrial?t=1650190616024 [letzter Zugriff: 19.04.2022].
4 Editorial Board: „Every day is Jan. 6 now“, in: New York Times, 01.01.2022, www.nytimes.com/ 2022/01/01/opinion/January-6attack-committee.html?smid=twshare [letzter Zugriff: 19.04.2022].
5 Benjamin Swasey / Connie Hanzhang Jin: „Narrow Wins In These Key States Powered Biden To The Presidency“, in: NPR, 02.12.2020, www.npr.org/2020/12/02/940689086/narrow-wins-in-these-key-states-powered-biden-to-the-presidency [letzter Zugriff: 19.04.2022].
6 Editorial Board: „Every day is Jan. 6 now“, a. a. O. (En. 4).
7 Zitiert in Dana Milbank: „‚We are closer to civil war than any of us would like to believe‘, new study says“, in: Washington Post, 17.12.2021, www.washingtonpost.com/opinions/2021/12/17/ how-civil-wars-start-barbara-walter-research/ [letzter Zugriff: 19.04.2022]; siehe auch: Barbara F. Walter: How Civil Wars Start. And How to Stop Them, Verlag Crown, New York 2022.