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Kinderarmut in Deutschland

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Noch vor zwanzig Jahren war Armut in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem: weiblich und alt. Rentnerinnen, die von ihrer Rente nicht leben konnten, prägten das Bild von Armut in der Debatte.

Armut heute sieht anders aus: Sie ist jung, weiblich, erwerbstätig und hat mindestens ein Kind. Mit einem Einkommen im unteren Segment, mit dem Mindestlohn gar, gelingt es Paaren noch, selbst über die Runden zu kommen. Sobald aber Kinder geboren werden, geht die Rechnung nicht mehr auf, und die Menschen sind auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Besonders dramatisch ist die Lage bei Alleinerziehenden, in der Regel Frauen. Je mehr Kinder in die Familie geboren werden, desto schwieriger wird die Lage.

Man muss also erstens konstatieren: Kinder sind in Deutschland ein Armutsrisiko. Und zweitens: Arme Kinder haben mehrheitlich erwerbstätige Eltern, deren Einkommen nicht zum Leben für die gesamte Familie reicht.

Kinderarmut in Deutschland bleibt den Blicken der Öffentlichkeit oft verborgen. Denn Eltern investieren unglaublich viel Mühe, ihre Kinder die finanziellen Nöte nicht spüren zu lassen und sie auch nach außen vor Stigmatisierung zu schützen. Armut ist schambehaftet. Die wenigsten Menschen würden sich selbst als arm bezeichnen, obwohl sie es statistisch sind. Die Eltern sparen lieber an sich und kaufen dem Kind die guten Gummistiefel. Und dennoch: Kinder sind sehr feinfühlig und wissen genau, wenn ihre Familie wenig Geld hat. Dieser Mangel beeinflusst ihr ganzes Leben. In Deutschland drückt sich Kinderarmut ganz besonders in fehlender Teilhabe und ungleichen Bildungschancen aus. Kinder werden etwa dann in der Schule krankgemeldet, wenn der teure Zoobesuch ansteht. Sie besuchen keinen Sportverein und lernen kein Musikinstrument. Von schulischer Förderung oder Nachhilfeunterricht gar nicht zu sprechen.

Die multiplen Krisen unserer Zeit verschärfen das Problem zusätzlich: Schon in der Corona-Pandemie waren arme Kinder abgehängt, weil ihnen zu Hause weder Laptop noch schnelles Internet zur Verfügung standen, um am Homeschooling teilzunehmen. Die Mehrkosten für die Betreuung zu Hause, für Masken und Selbsttests sind politisch nicht aufgefangen worden. Nun kommen die hohen Energiepreise und die verschärfte Inflation hinzu. Insbesondere die Kosten für Lebensmittel und Strom sind massiv angestiegen. Diese Kosten treffen arme Menschen mehr, denn sie nehmen einen größeren prozentualen Anteil des sowieso schon kleinen Haushaltsbudgets ein. In Familien ist die Situation dabei besonders prekär, denn es gibt mehr Menschen, die ernährt und mit Strom versorgt werden müssen. Die persönliche Inflationsrate von Paarfamilien mit niedrigen Einkommen lag beispielsweise bereits im Oktober 2022 bei stolzen 11,8 Prozent. Bei gut verdienenden Singles war die Quote mit acht Prozent jedoch deutlich niedriger.1 Zudem gibt es weniger Einsparpotenziale: Zum einen haben arme Familien beispielsweise oftmals veralte elektronische Geräte und können sich stromsparende Neuanschaffungen kaum leisten. Zum anderen ist das Familienbudget in aller Regel schon äußerst knapp kalkuliert und lässt keine Kosteneinsparungen an anderer Stelle mehr zu.

 

Vererbte Armut

 

Das aktuelle System der familien- und sozialpolitischen Leistungen will diese Nöte lindern, ist jedoch unzureichend. Es ist kompliziert, seine Elemente sind wenig aufeinander abgestimmt, es ist bürokratisch und in der Leistungshöhe nicht ausreichend. Eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind kann bei einem niedrigen Einkommen auf Kindergeld, den Kinderzuschlag, das Wohngeld und das Bildungs- und Teilhabepaket zurückgreifen. Alles auf Antrag, alles bei unterschiedlichen Stellen. Falls sie keinen Unterhalt bekommt, springt der Staat mit dem Unterhaltsvorschuss ein. Dieser wird als Einkommen berücksichtigt, sodass in vielen Fällen Kinderzuschlag, Wohngeld sowie Bildungs- und Teilhabepaket wegfallen. Die Familie hat am Ende weniger als vorher. Bei sehr niedrigen Einkommen kann mit Arbeitslosengeld II (bald Bürgergeld) aufgestockt werden. Das heißt, für ein Kind unter sechs Jahren steht ein Regelsatz von 285 Euro monatlich zur Verfügung. Unter anderem darin enthalten: knapp elf Euro für die gesamte Hygiene eines Kleinkindes, für Windeln, Puder, Cremes, Tücher und so weiter. Realistisch ist das nicht.

Eine weitere Gruppe ist von Armut in besonders hohem Maße betroffen: die Mehrkindfamilien, also Familien mit drei oder mehr Kindern. Über alle Familienformen hinweg steigt das Armutsrisiko mit der Kinderzahl. Deutschlandweit gelten 31,6 Prozent der Paarfamilien mit drei und mehr Kindern als einkommensarm, 17,7 Prozent beziehen SGB-II-Leistungen. Besonders hart trifft es Familien, bei denen mehrere Faktoren zusammenkommen. Spitzenreiter sind dabei alleinerziehende Familien mit drei und mehr Kindern: Traurige 86,2 Prozent von ihnen sind auf SGB-II-Leistungen angewiesen.

Aktuell sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche von Armut betroffen – das ist jedes fünfte Kind. Armut ist in Deutschland dabei bis heute ein hausgemachtes Problem, denn sie wird in den meisten Fällen vererbt. Nur die wenigsten Kinder, die in armen Familien geboren werden, schaffen es später aus der Armut, denn die Aufwärtsmobilität ist grundsätzlich sehr gering. In Deutschland braucht es statistisch sechs Generationen, bis ein Kind es aus einer einkommensschwachen Familie ein durchschnittliches Einkommen erreicht.2

 

Investitionen als wichtiges Instrument

 

Die langfristigen Folgen für Kinder und Jugendliche mit einem Aufwachsen in Armutslagen sind hinlänglich bekannt: Armut beschämt, Armut entmutigt, Armut grenzt aus, Armut raubt Entwicklungschancen. Daher gilt es, den Blick zu schärfen und sich mit den politischen und gesellschaftlichen Faktoren, die Armut begünstigen, ebenso auseinanderzusetzen wie mit Lösungen, die Armut von Kindern und Jugendlichen nachhaltig vermindern können.

Grundsätzlich haben alle jungen Menschen ein Recht darauf, nicht in Armut aufzuwachsen und zu leben. Maßstab hierfür ist die Umsetzung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Unabhängig vom individuellen Recht auf Chancengleichheit hat unsere Gesellschaft ein Interesse daran, Kinderarmut zu bekämpfen. Kinder in Armut machen häufiger keinen Schulabschluss, und sie bleiben häufiger ohne Ausbildungsplatz. Angesichts des Fachkräftemangels, aber auch der großen Herausforderungen in der Zukunft durch den demografischen Wandel kann die Gesellschaft sich diese Ungleichheit der Chancen schlicht nicht mehr leisten. Wir müssen Familien und insbesondere Frauen besserstellen, um ihnen einen Weg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Zudem ist eine Investition in Kinder immer auch eine langfristige Investition in unser gesamtgesellschaftliches System – denn Kinder sind die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler von morgen.

Investitionen in Bildung und Infrastruktur für Kinder und Familien sind ein wichtiges Instrument, Kindern gleiche Chancen und eine gute Teilhabe zu ermöglichen. Jedoch sehen wir, dass Investitionen in Bildung allein, so elementar sie auch sind, dieses Problem nicht lösen werden. Armut muss mit Geld bekämpft werden. Der Kinderschutzbund setzt sich deshalb schon seit mehr als zwanzig Jahren für die Einführung einer existenzsichernden, unbürokratischen Kindergrundsicherung ein. Wir wollen eine Familienleistung, die ohne Antragshürden auskommt und direkt an die Familien ausgezahlt wird, um eine hundertprozentige Inanspruchnahme sicherzustellen. Dabei muss der bestehende Dschungel aus zahlreichen Familienleistungen zusammengeführt und vereinfacht werden, damit die Unterstützung auch immer am Ziel ankommt. Denn heute werden viele bestehende Ansprüche kaum abgerufen. Der Kinderzuschlag etwa wird aktuell gerade einmal von schätzungsweise dreißig Prozent aller berechtigten Familien in Anspruch genommen. Die anderen siebzig Prozent der Familien leben unwissentlich oder aufgrund der hohen bürokratischen Hürden unter dem Existenzminimum – und das trotz Arbeit und Rechtsanspruch.

Daher fordern wir unbürokratische Unterstützung, die dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Allen Unkenrufen zum Trotz kommen auch direkte Geldleistungen an die Eltern unmittelbar bei den Kindern an. Die Bertelsmann Stiftung kam in einer empirischen Studie im Jahr 2018 genau zu diesem Ergebnis: „Dabei zeigt sich, dass Eltern finanzielle Leistungen wie das Kindergeld sinnvoll für Bildung, Betreuung und Freizeitaktivitäten ihrer Kinder sowie für das Wohnen einsetzen. Eine massive Zweckentfremdung der Mittel für eigene Zwecke ist nicht nachweisbar.“3

Neben der Kindergrundsicherung bedarf es einer qualitativ hochwertigen Betreuungsinfrastruktur und eines ausreichend ausgestatteten Bildungssystems, das allen Kindern und Jugendlichen faire Chancen ermöglicht. Flankiert werden muss dies durch Programme, die Eltern als Erziehungspartner begreifen – mit frühzeitigen Hilfen und kommunalen Präventionsketten.

Die Bekämpfung von Kinderarmut muss als Aufgabe der gesamten staatlichen Gemeinschaft betrachtet werden, die endlich angegangen werden muss.


Heinz Hilgers, geboren 1948 in Dormagen, 1985 bis 1994 Abgeordneter des Landtags Nordrhein-Westfalen, 1989 bis 1999 sowie von 2004 bis 2009 Bürgermeister der Stadt Dormagen, seit 1993 Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes.

 

1 Hans-Böckler-Stiftung / Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung: 11,4 Prozent Inflation für Familien mit niedrigem Einkommen, große soziale Spreizung bei Teuerung, Beruhigung in Sicht. Monitor liefert neue Daten für verschiedene Haushalte, Pressedienst, 18.10.2022, www.boeckler.de/pdf/pm_imk_2022_10_18.pdf [letzter Zugriff: 12.12.2022].
2 OECD: A Broken Social Elevator? How to Promote Social Mobility, 2018, https://read.oecdilibrary.org/social-issues-migration-health/broken-elevator-how-to-promote-social-mobility_9789264301085-en#page1 [letzter Zugriff: 02.12.2022].
Bertelsmann Stiftung: Kommt das Geld bei den Kindern an?, Gütersloh 2018,  www.bertelsmannstiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Kommt_das_Geld_bei_ den_Kindern_an_2018.pdf [letzter Zugriff: 02.12.2022].

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