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Heterogenität ist zur Normalität geworden - darauf müssen die Gymnasien reagieren

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Das Gymnasium gehört zu den liebsten Kindern der Deutschen. Weder die alliierten Sieger noch die Schulreformer unterschiedlicher Epochen und pädagogischer Lager konnten ihm etwas anhaben. Eine deutsche Erfolgsgeschichte! Denn erfolgreich ist diese Schulform ohne Zweifel – sowohl was ihre Beliebtheit als auch was ihre Leistungsfähigkeit angeht. Seit den 1950er-Jahren hat sich der Anteil der Gymnasiasten an den Schülern der Sekundarstufe von sechzehn auf 35 Prozent mehr als verdoppelt, ohne dass sich die durchschnittlichen Leistungen messbar verschlechtert hätten. Die soziale Durchlässigkeit lässt jedoch nach wie vor zu wünschen übrig. Empirische Studien zeigen immer wieder, dass es Kinder aus Akademikerfamilien wesentlich leichter haben, nach der Grundschule auf die Gymnasien zu wechseln, als Kinder aus bildungsfernen Schichten – unabhängig von ihrer Intelligenz und Leistungsfähigkeit.

Weil die Gymnasien sich in den vergangenen Jahrzehnten einer breiteren Schülerschaft geöffnet haben, ihre Leistungsstärke – trotz aller Kritik an vermeintlich weich gespülten Abiturprüfungen – einigermaßen gehalten haben und bei Eltern die beliebteste Schulform für ihre Kinder sind, gelten die Schlachten um die richtige Schulstruktur heute als geschlagen. Keine Landesregierung stellt das Gymnasium mehr infrage. Versuche, längeres gemeinsames Lernen mit einhergehender Verkürzung der Gymnasialzeit durchzusetzen, sind spätestens seit der durch Bürgerentscheid gescheiterten Hamburger Schulreform passé. Die Eltern und damit große Wählerschichten treibt alles, was an den Grundfesten des Gymnasiums zu rütteln scheint, auf die Barrikaden. Das hat die Politik offenkundig verstanden.

Daraus jedoch abzuleiten, das Gymnasium von heute bedürfe keiner Reformen, wäre ein Fehler. Das wird deutlich, wenn man sich die Ergebnisse der drei PISA-Tests seit dem Jahr 2000 anschaut. Diese belegen, dass sich in kaum einem anderen entwickelten Land der Welt das Schulsystem am unteren Ende der Leistungsskala so stark verbessert hat wie in Deutschland. Das Kompetenzniveau des unteren Viertels der Schüler ist im vergangenen Jahrzehnt erheblich angestiegen. Das war auch dringend notwendig, nur: Der Fahrstuhl geht nicht für alle gleichermaßen nach oben. Denn das obere Viertel der Schüler hat stagniert, sogar teilweise ein wenig nachgelassen in seinen Kompetenzwerten. Wenn man davon ausgeht, dass die besten Schüler sich in einem mehrgliedrigen Schulsystem in der höchsten Schulform versammeln, liegt ein Schluss nahe: Das Gymnasium bleibt unter seinen Möglichkeiten. Die Rezepte der Vergangenheit – Frontalunterricht, Wissensvermittlung für die gesamte Klasse im Gleichschritt, strenge Leistungskriterien mit Sanktionen wie Sitzenbleiben und Abschulen – mögen nicht mehr die richtigen sein.

 

Ansturm auf die Gymnasien

Diese Annahme ist durchaus plausibel, denn unsere Gesellschaft – und damit die Welt vor den Toren des Gymnasiums – hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Das wirkt sich auch auf die Bildungsinstitutionen selbst aus. In Teilen der Universitätsstädte Freiburg und Tübingen oder im teuren Hamburger Westen erreichen die Gymnasialquoten Werte von über siebzig Prozent. Das Gymnasium wird vielerorts zur neuen Gesamtschule der Mittelschicht – mit den entsprechenden Konsequenzen. Das Leistungsniveau fächert sich immer mehr auf: Die Vielfalt in den Klassen nimmt zu.

Deutschland ist auch nicht mehr die ethnisch relativ homogene Gesellschaft der 1950er-Jahre, sondern ist seit den 1960er-Jahren eine Einwanderungsgesellschaft geworden. Immer mehr Kinder in Deutschland kommen aus Familien mit ausländischen Wurzeln. Bundesweit hat ein Drittel aller Schulanfänger einen Migrationshintergrund, in Metropolen wie Köln oder Stuttgart gilt das schon für die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen unter fünfzehn Jahren. In Frankfurt am Main stammen sogar drei von vier Neugeborenen aus Zuwandererfamilien. So treffen vor allem in den Ballungsräumen Kinder unterschiedlichster Abstammung mit den unterschiedlichsten Wertvorstellungen und unterschiedlichsten Deutschkenntnissen aufeinander: Die Klassenzimmer werden bunter – auch in den Gymnasien.

Auf dem Land schlägt derweil die Demografie zu. Dort ist ein dramatischer Schülerschwund der wichtigste Grund für die neue Diversität an den Schulen. Bundesweit werden die Schülerzahlen bis zum Jahr 2025 um fünfzehn Prozent sinken, einzelne Landkreise verlieren über vierzig Prozent ihrer Schüler. Wenn es aber an Schülern mangelt, ist die Zusammenlegung von Schulen und Schultypen unvermeidbar: Die Heterogenität in den Klassen steigt.

Nicht zuletzt erhöht das immer häufigere gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung die Vielfalt in den Schulen. Auch dem können sich die Gymnasien auf Dauer nicht verschließen, denn als öffentlich getragene Einrichtungen können sie staatliche Vorgaben wie die inkludierende Umgestaltung des Schulwesens nicht dauerhaft ignorieren.

Der Ansturm auf die Gymnasien – nach aktuellen Umfragen wünschen sich zwei Drittel der Eltern diese Schulform für ihre Kinder – ist nicht zuletzt Ausdruck einer deutlich höheren Bildungsaspiration in der Gesellschaft. Das resultiert aus einer weiteren fundamentalen Veränderung in der Arbeitswelt: Die Industriegesellschaft der 1950er-Jahre wurde von einer Wissensgesellschaft abgelöst, in der immer höhere kognitive und soziale Anforderungen an Jobs und Dienstleistungen gestellt werden. Die äußerst geringe Akademikerarbeitslosigkeit von nur 2,4 Prozent in Deutschland zeigt, dass dieser Drang nach höherer Bildung durchaus auf rationalen Argumenten basiert. Diese Veränderungen und der damit einhergehende Bildungswille sind in einer freien Gesellschaft unaufhaltsam. Schon allein deshalb werden sich die Tore der Gymnasien weiter öffnen müssen, was auch dort die Klassen noch vielfältiger machen wird.

 

Keine Angst vor Weiterentwicklung

Ob durch unterschiedliche Herkunft oder durch unterschiedliches Leistungsvermögen – die Heterogenität in den Schulklassen nimmt zu. Und der starke Elternwille in Richtung Gymnasium würde jeden Versuch der Politik scheitern lassen, das Gymnasium zu dem zu machen, was es einmal war: eine elitäre Bildungsinstitution für eine kleine, leistungsstarke und homogene Schülergruppe. Die neue Vielfalt an den Gymnasien birgt Chancen und Risiken. Trotzdem müssen Schulen und Lehrer reagieren, denn in einer Klasse, die als homogene Lerngruppe unterrichtet wird, obwohl sie es weniger denn je ist, kann der Unterricht nur noch wenigen Schülern gerecht werden. Stattdessen sind immer mehr Kinder entweder unter- oder überfordert.

Natürlich gibt es Gymnasien, die sich mit dieser neuen Realität produktiv auseinandersetzen und ihre tradierte Lernkultur verändern. In der Breite aber setzen sie sich bisher nicht ausreichend mit der Frage auseinander, wie unterschiedlich Kinder lernen. Nur wenn die Gymnasien stärker auf die wachsende Vielfalt ihrer Schülerschaften eingehen, können sie ihren pädagogischen Auftrag erfüllen. Und nur dann werden sie ihre Erfolgsgeschichte fortschreiben können.

 

Schritte nach vorn

Dazu müssen sie erstens den Unterricht stärker individuell fördernd ausrichten. Frontalunterricht im Einheitstempo für alle ist, so zeigen es beispielsweise Schulinspektionen in Nordrhein-Westfalen, immer noch die dominante Lehrform in Gymnasien und wesentlich stärker ausgeprägt als bei anderen Schultypen. Nicht einmal eine (auch früher oft nur vermeintlich) homogene Klasse kann aber wirklich im Gleichschritt einem frontal dozierenden Lehrer folgen. Stattdessen muss Schule unterschiedlichen Begabungen und Leistungsständen Rechnung tragen – etwa mit variablen Lernformen und Lerngeschwindigkeiten. Das erlaubt, stärkere und schwächere Schüler gleichermaßen zu fördern.

Zweitens müssen auch die Gymnasien verstärkt in den Ausbau des Ganztagsangebotes einbezogen werden, um förderliche Rahmenbedingungen für das Lernen zu schaffen. Bisher hat nur knapp jeder vierte Schüler an Gymnasien Zugang zu Ganztagsangeboten, während beispielsweise in Gesamtschulen mehr als siebzig Prozent der Schüler auch nachmittags in der Schule gefördert werden. Insbesondere an Gymnasien wäre es wichtig, auf den gebundenen Ganztag zu setzen. So ließe sich die G8-Stofffülle sinnvoll über den ganzen Tag verteilen – mit sich abwechselnden Lern- und Übungsphasen für alle Schüler. Der Ganztag wird, wenn er gut gemacht ist, auch andere Professionen an die Gymnasien bringen: Musik-, Sport- und Sozialpädagogen – ja, und auch Sonderpädagogen.

Denn drittens müssen sich Gymnasien besser auf das gemeinsame Lernen von Schülern mit und ohne Behinderung einstellen. Bereits heute besuchen 5,5 Prozent der inklusiv beschulten Jugendlichen mit Förderbedarf ein Gymnasium. Diese Zahl wird infolge des verstärkten gemeinsamen Unterrichts an den Grundschulen und des Elternwillens weiter steigen. Eine besonders dringende Herausforderung ist viertens eine bessere, in den Unterricht integrierte Sprachförderung, gerade auch für den späteren wissenschaftlichen Gebrauch. Es ist Aufgabe auch jedes Fachlehrers, Lesekompetenz und Ausdrucksfähigkeit aller Schüler zu fördern – Probleme gibt es hier nicht nur bei Schülern mit Migrationshintergrund.

 

Vielfältige Exzellenz statt schmaler Elite

All diese Herausforderungen verlangen von den Gymnasien die Bereitschaft, sich zu verändern. Diese Veränderung muss und darf nicht revolutionär sein, sie muss vielmehr evolutionär erfolgen. Sie darf nicht von pädagogisch verbrämter Ideologie oder der Verklärung der Vergangenheit getrieben sein, sondern muss von der Frage ausgehen: Was brauchen unsere heutigen Schüler, um sich optimal entwickeln zu können?

Es ist eine verbreitete Sorge, dass das Gymnasium damit freiwillig seine Ansprüche reduziert. Eine individuelle Lernkultur fördert aber die Starken genauso wie die Schwachen. Kinder haben unterschiedliche Stärken, Talente, Interessen. Ihnen daran ausgerichtet einen persönlichen Lernpfad zu ermöglichen, muss Auftrag einer jeden Schulform sein.

Die Förderung eines jeden Schülers mit individuellen Lernplänen und regelmäßiger Überprüfung der Lernziele in den Gymnasien ist das Gegenteil von Anspruchslosigkeit und Vollkasko-Abitur. Vielfältige Exzellenz statt schmaler Elite sollte die Devise lauten. Der Weg dahin ist für die Unterrichtskultur in den Gymnasien steinig, aber dringend notwendig.

 

Jörg Dräger, geboren 1968 in Darmstadt, von 2001 bis 2008 Senator für Wissenschaft und Forschung der Freien und Hansestadt Hamburg, seit Juli 2008 Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung für den Bereich Bildung. Unter anderem Autor des Buches „Dichter, Denker, Schulversager“ (München, 2011).

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