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Vom gescheiterten Versuch, die Grenzen des Machbaren zu bestimmen

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Die Coronakrise stellt uns vor medizinische und ökonomische, vor allem aber vor ethische Herausforderungen. Das persönliche und gesellschaftliche Leben hat ungewohnte Einschränkungen erfahren. Die Freiheit, auszuwählen aus einer Vielfalt an Möglichkeiten der Lebensgestaltung, ist längst noch nicht wiederhergestellt. Das verlangt seelische Kraft. Es braucht Bewältigungsstrategien, um klarzukommen mit Angst, mit der Ungewissheit, die einem auch Fachleute wie die Virologen nicht nehmen können.

Manche, und nicht nur junge Leute, lebten in den schwierigen Wochen des Lockdowns nach der sprichwörtlich gewordenen Devise aus der Kinoadaption von Frederick Forsyths Spionageroman Der Schakal: „Crisis, what crisis?“ Krise, welche Krise? Sie saßen Seite an Seite auf Parkbänken, feierten abends Partys am See oder in Studentenwohnheimen und fanden Corona aufregend, weil sie irrtümlich glaubten, unbesiegbar zu sein. Währenddessen wurden in anderen Ländern Militärlastwagen mit Leichensäcken zu den Krematorien gefahren.

Andere kommen nicht klar mit Kontakteinschränkungen und übersetzen ihre Panik in Lautstärke und Aggression. Kriminologen und Psychologen erahnen einen Anstieg von Gewalt in Familien. Man muss noch hellhöriger sein als sonst, um gegebenenfalls einzuschreiten. Es ist erschreckend, welche Folgen Hilflosigkeit zeitigt, das Gefühl, sich nicht mehr frei bewegen zu können. Erschreckend auch, dass dieses Gewaltpotenzial nicht nur virulent, sondern auch latent immer schon da ist.

Wer spürt, dass er die Kontrolle über sein Leben verliert, dass es im Letzten unverfügbar ist, der kann das fröhlich leugnen oder mit Wut und Schlägen reagieren. Verschwörungsphantasien sind eine weitere Chance, sich und anderen den Blick auf Realitäten zu verstellen. Bill Gates, die Juden, eine dunkle Weltregierung – nichts ist absurd und blöd genug, um als hasserfüllte, antisemitische, rassistische Abwehr der eigenen irrationalen Ängste zu dienen. Manchmal sollen es die Tiere sein, die mit Corona zurückschlagen, weil wir sie so peinigen.

Die Versuchung ist groß, sofort alle Fakten herauszuziehen, um den Gegenbeweis anzutreten. Aber so wenig man junge Leute rational vom Feiern und manche Männer mit Druck von Gewaltausübung abhalten kann, so wenig leicht gelingt es, Anhänger unsinniger Verschwörungstheorien zu überzeugen. Sie sind verunsichert von der Situation, in der sie leben. Sie haben kein Vertrauen zu gesellschaftlichen Institutionen und können mit Widersprüchlichkeiten schlecht umgehen. Düstere, simple Erklärungen geben ihnen – leider – Sicherheit.

 

Versinken in geblümter Sinnstiftung

 

Niemand kann in dieser Welt alles erzwingen. Diese eigentlich vernünftige Einsicht produziert gelegentlich auch ein pseudo-intellektuelles Versinken in geblümter Sinnstiftung. Irgendwas wird man schon aus Corona lernen, vielleicht, dass die Welt untergeht und dafür Neues „aufblühen will“. Die Welt wird eine andere sein. Vielfach wird vermutet, dass alle zu besseren Menschen mutieren. Oder die Pandemie wird zu einem „Glücksfall der Geschichte“ erklärt, weil sie neben Schlimmem auch viel Gutes hervorgebracht habe.

Dieser Umgang mit Ängsten reklamiert die Deutungshoheit über die Lage für sich selbst und nimmt andere Menschen in ihrer Not überhaupt nicht ernst. Das ist unfassbar zynisch. Was tun? Es ist sinnfrei, die tatsächliche Krise zu leugnen, sie mit nicht vorhandenem Sinn zu verzieren oder aggressiv und albern zu werden. Es geht darum, wahrzunehmen, was ist. Nicht flüchten – standhalten. Dabeibleiben und aushalten. Schwer genug. Krisen wie Corona, eine Binsenweisheit, bringen Gutes und Schlechtes im Menschen zum Vorschein.

Da ist die Dame, die den Geschäftsführer sprechen will, weil sie nur ein Paket Toilettenpapier mitnehmen darf. Oder die Raubritter, die Atemschutzmasken so verteuern, dass man den Steigerungssatz kaum mehr ausrechnen kann. Der Mann, der die Verkäuferin im Bäckerladen als „lächerliche Person“ bezeichnet, weil sie auf zwei Meter Abstand besteht. Aber es geschieht auch Großes: Obdachlose bekommen Lebensmittel an zentralen Stellen ausgehändigt. Renommierte Köche bereiten Essen für Pflegepersonal zu. Kinos setzen Filme zum Preis einer Kinokarte ins Netz. Künstler geben Konzerte zum Streamen. Und da ist der Kampf in Forschung und Medizin um Menschenleben, die unfassbare Hingabe in der Pflege, freundliche Bedienung im Geschäft, tatkräftige Politik in unserem Land, präzise Berichterstattung, Menschen, die zupacken, die sich anrufen und schreiben, die füreinander beten und miteinander von Balkonen singen. Es bleibt dabei: Diese Krise braucht kein Mensch. Aber sie legt offen, dass wir selbst gebraucht werden. Beherzt, diszipliniert und mündig.

 

Dasein ist stets gefährdet

 

Dazu gehören nicht die Behauptungen, selbst die Welt endgültig zum Besseren hin verändern zu können. Damit erliegt man erneut der Täuschung, die Dinge vollständig kontrollieren und bestimmen zu können. Sie verführt letztlich nur zum oberflächlichen Ethisieren, statt sich ernsthaft mit der Unverfügbarkeit des Lebens auseinanderzusetzen. Man müsse nur global gerecht und verantwortlich denken, heißt es – als ob das helfen würde, alle Not und jedes Elend auszuschalten.

Natürlich ist ethisches Verhalten auch in der Krise gefordert. Aber durch das Nachplappern moralischer Allerweltsweisheiten wird kein einziges Menschenleben gerettet. „Seien wir ehrlich, Leben ist immer lebensgefährlich“, hat Erich Kästner gesagt. Das Dasein ist stets gefährdet. Erst auf der Basis dieses tiefen Wissens ist es sinnvoll, zu handeln – die Grenzen unserer Möglichkeiten und die Horizonte vor Augen, zu denen Menschen voller Leidenschaft zum Helfen aufbrechen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier formulierte: „Und ich würde mir wünschen, dass wir alle uns auch nach der Krise daran erinnern, was Sie für diese Gesellschaft tun.“ Das wiederum ist zu wenig. Das ist viel zu viel Konjunktiv, Abstraktion und Unbestimmtheit: würde wünschen … erinnern … nach der Krise. Da braucht es einen Imperativ, eine Forderung, ein Versprechen mit zeitlich definierten Konkretionen. Alles andere bleibt im zeitlos Richtigen stecken. Vertrauen auch in die Demokratie wird nur durch Klarheit gestärkt.

Zu solcher Klarheit gehört die Einsicht, dass die Freiheit, die wir bislang gelebt haben, immer auch Freiheit ist, zu verzichten. Auf das, was uns und anderen schadet. Ohne immer zu wissen, ob dieser Verzicht auf Schritt und Tritt zum gewünschten Erfolg führt. Die Politik in Deutschland war bislang erfolgreich mit ihren Überlegungen und Entscheidungen in Corona-Zeiten. Dennoch hat es viele Todesopfer gegeben – jedes von ihnen ein zu betrauernder Verweis darauf, dass wir selbst bei größter Klugheit nicht alles in Händen haben.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat Corona als „Charaktertest für die Gesellschaft“ beschrieben. Das ist treffsicherer, als wieder einmal von Chancen zur Entschleunigung oder Besinnung zu sprechen. Zum humanitären Charaktertest gehört, fürsorgliche und solidarische Distanz zu den Mitmenschen einzunehmen. Diese gelegentlich mühsame Übung hilft für die Zeiten „danach“, wann immer sie sich einstellen werden. Oberflächliche, distanzlose Nähe hat schon immer geschadet. Aufrichtige Nähe nie.

Bis Corona besiegt ist, wenn überhaupt, belegen öffentliche Debatte und privater Austausch latente Klärungsbedarfe und Tiefenschichten der Verunsicherung, die nicht ignoriert werden dürfen: Womit ist in der Krise weiterhin oder erneut zu rechnen? Worauf kann man sich verlassen? Woran kann man sich orientieren, auf welche Rahmenbedingungen des Lebens muss man sich einstellen? „Auf Sicht fahren“ ist ein treffliches Bild, wenn die Fahrbedingungen gleichsam durch Nebel oder Schneefall eingeschränkt sind.

 

Kommunikation im Akut-Modus

 

Wer auf Sicht fährt, braucht ein Navigationssystem. Wir müssen mit reduzierter Geschwindigkeit und erhöhter Vorsicht eine fremde Strecke zurücklegen, aber wir haben das Fahrziel adressiert und lassen uns davon leiten. Bewusst zu machen sind Ziel, Eckdaten und Reichweite der Roadmap. Je länger die Krise Wachsamkeit von Politik und Gesellschaft verlangt, desto weniger darf Kommunikation vom Akut-Modus dominiert werden, sondern muss Partizipation und Zusammenhalt in gemeinsamer Verantwortung nachhaltig fundieren.

Dafür sind Grundeinsichten ins Gedächtnis zu rufen: Kommunikation in der Krise muss Vertrauen stiften und stabilisieren. Sie begnügt sich deshalb nicht mit Dekretierung, sondern beantwortet aktuelle und perspektivische Fragen. Sie erklärt, welche Fragen noch nicht beantwortet werden können – und weshalb. Sie legt vollständig offen, wie und warum Entscheidungen getroffen werden. Sie widersteht der Versuchung, Solidität und Präzision zu opfern, um Informationsbeschleunigungstrends zu bedienen.

Niemand braucht inflationäre Informationsvermehrung und Korrekturen im Tagestakt – das schürt Ängste und Besorgnis, sorgt dafür, dass Verschwörungsmythen neue Nahrung bekommen. Seriosität wird gestärkt durch Selbstdisziplin, durch ehrliches Einräumen ungeklärter Zusammenhänge und Indizes – und dann belastbare Expertise. Wissenschaft nimmt faktisch teil am politischen Diskurs. Ihr ist neben dem Bemühen um Exaktheit auch kommunikative Sorgfalt zuzumuten.

Die Gesellschaft wird lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Das ist alles andere als einfach, weil es ein „Leben wie vorher“ nicht mehr geben wird. Es ist notwendig, zu klären: Gibt es Einschränkungen, die für lange Zeit hingenommen werden müssen, und zwar auch dann, wenn sonst eine Rückkehr in die ehedem gewohnte Normalität schrittweise ermöglicht wurde? Bedeutet das „Lernen“ die Einstellung auf einen Trial-and-Error-Prozess, in dem Einschränkungen gelockert oder Lockerungen zurückgefahren werden? Es muss darüber gesprochen werden, ob und wie es Einzelnen und der Gesellschaft möglich sein könnte, nur unter Vorbehalt verlässlich zu planen. Das Einüben in Frustrationsindolenz fällt zumal Kindern, Jugendlichen und jungen Leuten schwer, die bislang ein anderes, mit viel Rücksicht auf sie und enormer Empathie gestaltetes Leben gewohnt sind. Ist es denkbar, durch Verzicht auf risikoaffine Aktivitätsbereiche wie etwa Großveranstaltungen sicherzustellen, dass auf eine „andere“ Normalität langfristig Verlass ist?

 

Mit dem Virus leben?

 

Individual- und sozialpsychologisch ist entscheidend, dass das „Lernen, mit dem Virus zu leben“, nicht als Metapher der Ohnmacht, der Einschränkung und des Zwanges von außen, sondern als ermutigende Option rücksichtsvoller Lebensgestaltung erkennbar wird: Wir werden das Dasein zuversichtlich gestalten und wissen, was wir als junge, erwachsene und ältere Menschen dafür tun müssen und wollen. Es ist unverzichtbar, dass die Generationen aufeinander achthaben, um der Unverfügbarkeit des Lebens zu begegnen.

Mit dem Virus konstruktiv zu leben, benötigt behördliche Maßnahmen, die transparent und verlässlich Bevorratung betreiben – von Masken, Medizin und Schutzkleidung. Der Frohsinn, mit dem nach dem Ende des Kalten Krieges alle Lager für solche Vorsorge abgeschafft wurden, ist zu Ende. Die Abhängigkeit von Ländern wie China und Indien wird deutlich – und die fatale Lust, alles nur dort zu kaufen, wo es am billigsten ist. Eine Haltung, die die Gesellschaft schleunigst ablegen muss, wollen wir souverän global gerecht denken.

Nicht fehlen darf die permanente Verständigung darüber, was unter keinen Umständen aufgebbar ist: Der Schutz der Menschenwürde ist und bleibt Fundamentalnorm des Rechtsstaats. Das gesamte staatliche Handeln ist daran zu messen. Gerade in der Krise, in der die mit der Menschenwürde untrennbar verknüpfte Autonomie des Einzelnen eingeschränkt wird, muss in der Kommunikation dieser Einschränkungen die stete Erinnerung an den Kerngehalt der Menschenwürde wahrnehmbar sein.

 

Pandemie als Paradigma

 

Wir können in dieser Welt nicht alles erzwingen. Erschreckt und fassungslos steht meine nach dem Krieg geborene Generation mitsamt den nachfolgenden vor dieser Tatsache – abgesehen von denen, die durch schwere Krankheiten und Verluste schon immer wussten, dass kein Tag in Normalität selbstverständlich ist. Alle aber hätten es wissen können, hätten sie ihr Augenmerk auf die Mehrheit der Menschheit gerichtet, die Armut, Epidemien, Hunger, Kriege und Naturkatastrophen zu ihrem „täglich Brot“ zählen.

Die Pandemie ist Paradigma für globale Gefährdungen, die an keiner Grenze haltmachen. Todernst sollten wir nehmen, dass alle Menschen global aufeinander angewiesen sind. Und mit Zuversicht begreifen, dass Leben füreinander und miteinander möglich wird durch die Bereitschaft aller, die Unverfügbarkeit des Lebens auf sich zu nehmen und miteinander füreinander da zu sein. Gleich, was sonst geschlossen ist: Humanität hat durchgehend geöffnet.

 

Susanne Breit-Keßler, geboren 1954 in Heidenheim an der Brenz, Oberkirchenrätin und Regionalbischöfin für München und Oberbayern i. R., stellv. Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung, stellv. Vorsitzende Kammer für Öffentliche Verantwortung (EKD), Vorsitzende des Bayerischen Ethikrates.

Dieter Breit, geboren 1961 in Augsburg, evangelisch-lutherischer Theologe, Pfarrer, Kirchenrat und Beauftragter der Bayerischen Landeskirche für die Kontakte zu Staatsregierung und Landtag und für Europafragen.

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