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Vermächtnis eines Hauptstadtprofessors

Hans­-Peter Schwarz und die deutsche Außenpolitik

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Dominik Geppert / Hans Jörg Hennecke (Hrsg.): Interessen, Werte, Verantwortung. Deutsche Außenpolitik zwischen Nationalstaat, Europa und dem Westen. Zur Erinnerung an Hans-Peter Schwarz, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2019, 224 Seiten, 24,90 Euro.

 

Eine „Denkveranstaltung“, keine Gedenkveranstaltung, sollte an den am 13. Mai 1934 geborenen und am 14. Juni 2017 verstorbenen Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz erinnern. Zentralen Themen seines wissenschaftlichen und publizistischen Wirkens war eine von Dominik Geppert (Potsdam) und Hans Jörg Hennecke (Rostock) organisierte Tagung der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus zum ersten Todestag gewidmet. „Inwieweit war die deutsche Außenpolitik im europäischen und atlantischen Kontext eher idealistisch oder eher interessengeleitet angelegt? Und welche Ansprüche stellen sich an eine verantwortungsbewusste Außenpolitik für die Zentralmacht Europas – sowohl im historischen Längsschnitt als auch im aktuellen politischen Kontext?“ So lautet die Aufgabenstellung in der Einführung eines Aufsatzbandes mit teils erweiterten Vorträgen des Symposiums.

Fünf Historiker befassen sich mit dem Verhältnis von Interessen, Werten und Verantwortung in der deutschen Außenpolitik seit 1949. Horst Möller (München) hebt hervor, dass Bundeskanzler Helmut Kohl, über den Schwarz 2012 eine voluminöse Biographie vorlegte, 1989/90 „in einer meisterhaften Verbindung von West- und Ostpolitik mit ausschlaggebender Unterstützung des amerikanischen Präsidenten George H. W. Bush optimal reagierte“. Die meisten Nachbarstaaten betrachteten die Wiedervereinigung „zumindest mit Misstrauen“. Damals griffen Deutschland­, Außen- und Europapolitik ineinander: „Doch musste Kohl dazu nicht von Mitterand gedrängt werden, weil beide die fortschreitende europäische Integration wollten. Auch ist der Euro nicht der französische Preis für die Wiedervereinigung gewesen, wie häufig zu lesen ist: Vorbereitet schon Ende der 1970er Jahre mit der ‚Kunstwährung‘ Ecu, wurde bereits 1988 der Weg zur gemeinsamen Währung beschlossen.“

Michael Gehler (Hildesheim) stellt heraus, dass das Thema Wiedervereinigung Hans-Peter Schwarz lange Zeit nicht mehr aktuell erschienen sei. Bei der Zustimmung zu einer europäischen Einheitswährung sieht er Kohl dann als „zu vertrauensvoll“. Dazu merkt Gehler an: „Die politische Dimension des Euro hatte für Kohl stets absolute Priorität, was Schwarz richtig erkannte, aber entsprechend kritisierte.“ Demnach „stießen Kohl und Mitterrand ab 1989/90 nicht nur eine Europäisierung Deutschlands durch Selbsteinbindung, sondern auch der Gemeinschaften durch Währungsetablierung und einen innereuropäischen Währungsfrieden an, aber auch eine währungspolitische Emanzipation vom US-Dollar im Sinne einer Selbstbehauptung Europas. Im eigentlichen und tieferen Verständnis ging es auch um die Neutralisierung, Überwindung und Verabschiedung des vom System der D-Mark dominierten Europas, wie das Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer (1993–1999) einmal genannt hat.“ Dass „Adenauers Konstrukt der Bonner Republik Ende der 1990er­Jahre nicht mehr zu halten war und zwangsläufig in der neuen Berliner Republik aufgehen musste“, habe Schwarz nachdenklich gestimmt. Im „Krisen-Jahrzehnt der EU bis zum ‚Brexit‘-Chaos“ sah er sich in seiner kritischen Zeitdiagnose bestätigt.

Im Lichte des drohenden „Brexit“ schrieb er einem Londoner Korrespondenten im Juni 2016 einen „resignativ zur Europäischen Integration“ klingenden Brief, aus dem Gehler zitiert: „Momentan fürchte ich, dass die britischen Buchmacher und all jene recht haben, die darauf hinweisen, dass die Wähler schon oft Nein gesagt haben, wenn sie die Möglichkeit hatten, über die EU zu befinden. Das Projekt Europa ist von der Politik, den Juristen und der Wirtschaft hoffnungslos übersteigert worden – Modell babylonischer Turm. Doch die an und für sich fällige partielle Abwicklung würde ein Chaos produzieren, denn die Eliten, die heute dran sind, ermangeln der Härte und der historischen Erfahrung“. Gehler findet es erstaunlich, dass der Adenauer- und Kohl-Biograph wenig Zutrauen in den Bestand der EU hatte und „fast wie ein Untergangsprophet dazu neigte, quasi als letzte Rettung die Renationalisierung (‚partielle Abwicklung‘) der Union anzusprechen“, ohne an jene Fakten und Kräfte „zu denken, die für ihren Zusammenhalt sprachen und sprechen“.

Andreas Rödder (Mainz), assistiert von Bastian Knautz, nennt Deutschland im Anschluss an Hans Kundnani einen „geo-ökonomischen Hegemon“, der wirtschaftliche Dominanz zeige, jedoch „in erster Linie seine eigenen nationalen Interessen verfolge und durch geopolitische Schwäche gekennzeichnet sei“. Rödder arbeitet mit Rückblicken bis in das Kaiserreich von 1871 heraus, wie sich deutsche Selbstbilder immer klar von den Fremdbildern unterschieden: „Dabei zeigen sich zwei Muster: Die Deutschen nahmen sich stets als friedfertiger und ungefährlicher wahr, als sie von den europäischen Nachbarn wahrgenommen wurden. Und: Was die Deutschen als ihr gutes Recht und als Streben nach Gleichberechtigung sahen, interpretierten die Partner als deutsches Vormachtstreben.“ Daher müsse Deutschland „verstehen lernen, dass die politischen Öffentlichkeiten anderer Staaten Deutschland für stärker halten, als die Deutschen dies selbst tun“; moralisierendes Überlegenheitsgefühl sei fehl am Platz. Darüber hinaus solle Deutschland sein „Investment in Europa“ stärken, das sowohl in einem größeren Beitrag zu Gemeinschaftsaufgaben innerhalb der EU als auch „in bi- oder multilateralen Unterstützungen“ liegen könne. Rödder rät der Bundesrepublik, als „kooperative Führungsmacht“ zu agieren und „einen anderen Ton zu wählen, als dies in der Euro- und Flüchtlingskrise oftmals getan wurde“.

Ob Deutschland im Westen liege, fragt Peter Hoeres (Würzburg). Seine Antwort lautet: „Deutschland lag als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, als Deutscher Bund und als Kaiserreich lange Zeit in der Mitte des Abendlandes und Europas, ja der Welt zwischen West und Ost, es verortete sich nach 1945 dann zuerst hälftig, dann als Ganzes im Westen, und dort liegt es trotz aller idealisierten, teils (früher nationalistisch, heute postkolonial) perhorreszierten westlichen Wertegemeinschaft – einstweilen.“ Im Anschluss daran erklärt Herausgeber Dominik Geppert, warum sich Briten und Deutsche nicht verstehen. Während die Deutschen Europa „bis heute unauflöslich mit dem Wirtschaftswunder der 1950er und dem wachsenden Wohlstand der 1960er Jahre“ verbinden würden, habe sich in Großbritannien seit dem Eintritt in die Gemeinschaft am 1. Januar 1973 der Eindruck festgesetzt, „die europäische Integration sei eine Veranstaltung, von der die europäischen Partner mehr profitieren als Großbritannien“.

 

„Transatlantischer Laden“

 

Den Rahmenbedingungen, Zielsetzungen und Instrumenten deutscher Außen- und Europapolitik widmen sich sechs Politikwissenschaftlicher und ein ehemaliger Diplomat. Joachim Krause (Kiel) nimmt die für das Kaiserreich von 1871 typische und eigentlich schon unter Bismarck und unter Wilhelm II. vollkommen gescheiterte „Schaukelpolitik zwischen Ost und West“ ins Visier: „Heute feiert diese Politik besonders bei AfD, Linkspartei sowie in großen Teilen der SPD – und leider auch in Teilen der CSU – fröhliche Urständ.“ Die im 19. Jahrhundert aufgekommene Vorstellung, wonach es „eine besondere deutsche Sendung zur Heilung der Menschheit“ gebe, sei zurückgekehrt. Dieser „Weltverbesserungssinn“ entfalte sich zusammen mit Anti-Amerikanismus und mit Schaukelpolitik; außerdem wirke sich die planlose Verkleinerung der Bundeswehr aus. Angesagt sei jetzt eine „Politik des Multilateralismus, die die Nato und die EU, insbesondere die Eurozone, in den Mittelpunkt stellt“.

Auch für Botschafter a. D. Hans-Dieter Heumann (Bonn) haben die Euro- und Flüchtlingskrise gezeigt, „dass ein Führungsanspruch Deutschlands Gegenkräfte auf den Plan“ rufe. Trotz des Aufstiegs Chinas und trotz aller Kritik an Präsident Trumps Politik des „America First“ liege das „oberste nationale Interesse in der Verankerung Deutschlands in einem multilateralen System“, das von westlichen Werten getragen sei.

Für Stefan Fröhlich (Erlangen) scheint Trumps „Amerika eher Risiko als Sicherheitsgarant zu sein“. Dennoch müsse Deutschland aufpassen, nicht zwischen die Fronten zu geraten. Fröhlich sieht in einer „wie immer gearteten, europäischen Verteidigungsunion“ tatsächlich „so etwas wie ein neues Narrativ für Europa“. Auch Carlo Masala (München) übt Kritik daran, dass die Bundesregierung der Großen Koalition ihre strategischen Interessen nicht der eigenen Bevölkerung kommuniziere. Die Bundesrepublik fröne weiter einer „Ernstfallvergessenheit“, die Schwarz schon 1985 diagnostiziert habe, und sie trage „durch eine schlingernde und inkonsistente Außenpolitik ein Stück weit zur Unordnung der Welt bei“.

Laut Johannes Varwick (Halle-­Wittenberg) sind die Vereinigten Staaten „unentbehrlich“ für Europa, wenn auch ein – von Schwarz gern zitiertes – Diktum von Adenauer zum deutsch­amerikanischen Verhältnis zutreffend bleibe: „Wer sich versichern lassen will, muss eine Prämie zahlen. Wer da glaubt, Europa sei bei Amerika prämienfrei versichert, befindet sich in einem verhängnisvollen Irrtum.“ Europa müsse trotz Trump den „transatlantischen Laden“ zusammenhalten, zumal es in Amerika hohe innenpolitische „Selbstheilungskräfte“ gebe: „Nicht Abkoppelung, schon gar nicht Gegenmachtbildung, sondern Investition ist das Gebot der Stunde.“

 

„Sanfter demokratischer Hegemon“

 

Daniel Eisermann (Berlin) analysiert die Beziehungen der EU zu ihren Nachbarn. Beispielsweise sei die Türkei – seit 1996 mit der EU durch eine Zollunion, die Industriegüter und verarbeitete landwirtschaftliche Waren umfasst, verbunden – „unverkennbar benachteiligt“. Eine Reform dieser Zollunion wäre geboten, wenn für die Türkei keine Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft bestehe; sie bleibe „jedenfalls an der Südostflanke der EU ein relevanter Handelspartner und ein wichtiges Nato-Mitglied. Das kooperative Element überwiegt auch bei der Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik.“

Auch im Verhältnis zu den postsowjetischen Staaten Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, Ukraine und Weißrussland nehme die EU die Rolle der „wohlwollenden Hegemonialmacht“ ein, die mit Russland um Einfluss konkurriere. Eisermanns Resümee lautet: „Zugespitzt könnte man sagen, dass die EU eigentlich alle europäischen Nachbarn wie Länder mit Kandidatenstatus behandelt.“ Der Autor wünscht sich eine EU, die als „sanfter demokratischer Hegemon“ in Europa wirke.

Ob die europäische Integration noch im europäischen Interesse liege, untersucht Herausgeber Hans Jörg Hennecke. In der Bundesrepublik neige man von jeher zu einer moralischen Überhöhung der Integration. „Eine breite Phalanx von Christdemokraten in der Nachfolge Helmut Kohls bis hin zu weichgespülten Postnationalisten Frankfurter und Bielefelder Provenienz beschwört Europa in gerade zivilreligiöser Weise als immerwährend richtige Antwort auf nahezu alle Fragen des politischen Lebens.“ Dabei hätten die Europäer es „weder vermocht, die Destabilisierung vieler afrikanischer Staaten zu verhindern, noch waren sie in der Lage, die lange vorher absehbare Migration zu ihren Südgrenzen hin durch eine nachhaltige Ursachenbekämpfung einzudämmen. Die ‚Völkerwanderung‘, von der Hans-Peter Schwarz in seinem letzten Buch sprach, hat gravierende Interessenkonflikte zwischen den Europäern heraufbeschworen.“ Wenn es nicht gelinge, die Grenzen zu sichern, die Zuwanderung zu kontrollieren und die Nachbarregionen zu stabilisieren, sei es nur eine Frage der Zeit, bis sich einzelne Staaten dauernd aus „Schengen“ verabschiedeten. Die Vorstellung von der ökonomischen Integration als Vehikel der politischen Integration war bis 1999 tragfähig. Dann sei eine gemeinsame Währung geschaffen worden ohne vorherige Verständigung auf eine gemeinsame wirtschaftspolitische Philosophie. Diese kam auch in der Folgezeit nicht zustande, weil die Herangehensweisen an dieses Projekt, gegenüber dem Schwarz „immer skeptisch blieb“, zu unterschiedlich waren.

 

„Letztes wissenschaftliches Erbe“

 

Zwei umfangreichere Beiträge des Sammelbandes befassen sich ausschließlich mit Hans-Peter Schwarz. Das in mehreren Vorträgen während der Tagung bereits angesprochene Buch Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten vom Frühjahr 2017 erhebt Ludger Kühnhardt (Bonn) zu einem „Vermächtnis zur Neujustierung von Interessen und Idealen“. Eingangs zitiert der Autor aus einem Schreiben von Schwarz an ihn wenige Tage nach dem Ableben des Bonner Zeithistorikers Karl Dietrich Bracher im September 2016: „So begebe ich mich auf die alten Tage nochmals ins Schlachtgetümmel, wünschend, ich wäre ein Vierteljahrhundert jünger. Aber jemand muss doch die heißen Eisen anpacken. Auf seine Weise war schließlich auch Bracher der Meinung, dass Professoren der Politikwissenschaft – hochgestochen formuliert – so etwas wie ein öffentliches Wächteramt haben. Die Turmwächter sind zwar seit dem frühen 19. Jahrhundert funktionslos geworden. Man kann unser Tätigkeitsprofil eher mit dem der Stadtreinigung vergleichen, die auf den öffentlichen Plätzen den schlimmsten Unrat beseitigt oder das doch sollte.“

Aus dem Buch, das „durchaus kein nur geneigt-wohlwollendes Publikum“ gefunden habe, destilliert Kühnhardt Mahnungen als „letztes wissenschaftliches Erbe von Schwarz“, darunter der Ratschlag, europäische Zusammenhänge frühzeitig wahrzunehmen: Die nationale Betrachtung von Problemen hat laut Kühnhardt in Deutschland „viel zu lange die Gesamtaufgabe vernebelt, die sich seit eh und je der EU insgesamt gestellt hat – und diese Attitüde erklärt zugleich, warum die Deutschen auf wenig Begeisterung bei anderen Europäern stießen, als sie angesichts der über eine Million Asylbewerber 2015 plötzlich Solidarität erbaten, die sie anderen vorher ziemlich nonchalant versagt haben“. Zudem nütze konzeptionelle Selbstzufriedenheit nichts: „Schengenland ohne verlässliche Grenzsicherungen“, so zitiert Kühnhardt aus dem Schwarz-Buch, konnte niemals gut gehen, „solange die Welt so ist, wie sie ist“. Daneben sei eine Auslagerung von Problemen – wie beispielsweise der Einsatz des türkischen Staatschefs Erdoğan als „Deichgraf der EU-Außengrenzen“ – zu vermeiden. Ebenfalls sei Ehrlichkeit gegenüber der Funktion nationaler Fähigkeiten vonnöten, auch bei nur „eingeschränkter Wirkung“. Dies schloss für Schwarz „die Richtigkeit von Grenzzäunen ein. Was zur Niederschrift des Buches noch ein Tabubruch war, hat sich unterdessen entlang der Balkanroute als gängige Absicherung mit Erfolg etabliert.

Am meisten profitiert davon das Land, das weiterhin am stärksten so tut, als seien Grenzen und nationale Maßnahmen Teufelswerk: Deutschland“, stellt Kühnhardt leicht süffisant fest. Schließlich forderte Schwarz Redlichkeit gegenüber den Grenzen kultureller Möglichkeiten ein, zumal sich die europäischen „Einwanderungsgesellschaften“ bisher „überfordert und eher hilflos gegen die terroristischen Exzesse des militanten Dschihadismus“ zeigten, schreibt Kühnhardt. Die Schwarz-Studie zur „neuen Völkerwanderung“ verdeutliche, „wie sehr der Blick der Wissenschaft sich auf die Welt außerhalb Deutschlands, Europas und des Westens einlassen muss, um zu verstehen, was Deutschlands und Europas Schicksal künftig in erheblicher Weise bestimmen wird“.

 

Kein leidenschaftlicher Föderalist

 

„In der Werkstatt des Kanzler-Biographen“ sind schließlich Beobachtungen von Holger Löttel überschrieben, der als Archivar und Editor bei der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Rhöndorf tätig ist. Hier geht es um die Erschließung des Adenauer-Nachlasses und um die Edition der Rhöndorfer Ausgabe, die Schwarz von Beginn an mitverantwortete. Löttel lobt die 1986 und 1991 erschienenen Bände der Adenauer-Biographie von Schwarz, dessen Deutungen der Adenauer’schen Europapolitik durchaus übereinstimmten mit der eigenen, betont nüchtern akzentuierten Sicht „auf die Integration, die sich später, im Zeichen des Maastrichter Vertrags und der Währungsunion, in seiner Kritik am ‚europäischen Hyperaktionismus‘ Helmut Kohls niederschlagen sollte“. Ein „leidenschaftlicher Föderalist“ sei er nie gewesen, bekannte Schwarz in seinen posthum erschienenen Lebenserinnerungen Von Kohl zu Merkel. Die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung hatte ihn nie umgetrieben, sodass der Umbruch von 1989/90 auch für ihn überraschend kam. Erst im Frühjahr 1990 trat er für einen raschen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ein.

Den Vollzug der Einheit am 3. Oktober 1990 betrachtete er – so Löttel – als historische Bestätigung der „Magnettheorie“ Adenauers. Nach der Jahrtausendwende beurteilte der nimmermüde und sein Publikationstempo noch einmal kräftig steigernde Emeritus und Euro-Skeptiker die Perspektiven der internationalen Politik deutlich pessimistischer als unmittelbar nach der Wiedervereinigung. Auf welche Tradition der Politik Adenauers man sich nun „berufen konnte, auf die atlantische Phase der frühen und mittleren Kanzlerjahre oder die gaullistische Spätzeit, war für Schwarz aber nicht zu entscheiden. Ebenso wenig gab ihm Adenauer eine Orientierung hinsichtlich der europapolitischen Zukunftsfragen“, konstatiert Löttel. Denn Adenauer habe „als Föderalist begonnen und als Konföderalist“ geendet.

 

In „Halbdistanz“ zu den Mächtigen

 

Ganz allgemein könnten Abkehr von nationaler Großmannssucht, Praktizierung eines kooperativ-multilateralen Ansatzes, klare Ausrichtung der Politik gepaart mit undogmatischer Herangehensweise an die Probleme und ein nüchterner Realismus unter Verzicht auf utopische Entwürfe „vielleicht das außenpolitische Erbe Adenauers“ beinhalten, so formulierte Schwarz vorsichtig vor nunmehr zwanzig Jahren in der Zeitschrift Die Politische Meinung. Er nahm damit manche Einsichten für und Forderungen an die deutsche Außenpolitik, die 2018 auf dem Symposium zu seinem ersten Todestag artikuliert wurden, in gewisser Weise vorweg. Für Löttel steht fest: „Die Erschließung des intellektuellen Erbes, das Hans-Peter Schwarz der Bundesrepublik hinterlassen hat, stellt eine Aufgabe dar, die gerade erst begonnen hat.“ In diesem Zusammenhang wäre übrigens ebenfalls gründlich auszuloten, welchen Einfluss das CDU-Mitglied Schwarz auf die zeitgeschichtliche Beirats­, Herausgeber­, Geschichtsmuseums- und Stiftungsszene hatte, die er über mehr als ein Vierteljahrhundert so umfassend wie vor und nach ihm wohl niemand mehr beherrschte und aus der er sich nach der Jahrtausendwende – nicht ganz freiwillig – allmählich zurückzog.

Schwarz war ohne Zweifel der Meistererzähler der Ära Adenauer und der Chefzeithistoriker der Ära Kohl. Der leidenschaftliche Bonn-Befürworter und Berlin-Gegner wurde ausgerechnet im Jahr der Verlegung des Regierungssitzes vom Rhein an die Spree emeritiert, was den „Hauptstadtprofessor“ der Bonner Republik (so die eigene, durchaus nicht ironisch gemeinte Selbst-Charakterisierung), der immer „Halbdistanz“ zu den Mächtigen hielt und sich weder kaufen noch vereinnahmen ließ, zur Flucht nach vorn in den Süden vor die Tore Münchens trieb, um dort meinungsstark gegenüber der Berliner Republik zu bleiben und zu wirken – zu einer Zeit, als viele jüngere Kollegen, ob in der Politikwissenschaft oder in der Zeitgeschichte, immer mainstreamförmiger und opportunistischer zu werden drohten. Dass Schwarz auch als Vorbild (nach)wirkt, zeigt nicht zuletzt dieser rundum gelungene Aufsatzband zur Erinnerung an ihn.

 

Rainer Blasius, geboren 1952 in Langenfeld (Rheinland), Zeithistoriker, München. Honorarprofessor an der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität Bonn.

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