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Über die schädliche Vermischung von Einwanderungs- und Islamdebatten

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„Was schätzen Sie, wie viele der 81 Millionen Menschen in Deutschland sind Muslime?“ Diese Frage stellte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) Personen unterschiedlicher Herkunft. Nur zehn Prozent der Befragten konnten die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime ungefähr richtig angeben, siebzig Prozent der Befragten schätzten sie zu hoch ein und knapp zwanzig Prozent gaben sie zu niedrig an. In Deutschland leben zwischen 3,5 und 4,5 Millionen Muslime. Der Einfachheit halber wird häufig, aber bei Weitem nicht oft genug von vier Millionen gesprochen. Das sind fünf Prozent der Bevölkerung. Die islamische Religionszugehörigkeit wird nicht wie die Kirchenmitgliedschaft von Amts wegen erhoben. Die Vier-Millionen-Schätzung geht auf eine Untersuchung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahr 2009 zurück.

Befragte ohne Migrationshintergrund schätzten die Zahl der Muslime auf durchschnittlich elf Millionen, Aussiedler sogar auf dreizehn Millionen. Das ist das Dreifache des tatsächlichen Wertes. Auch aus der Türkei stammende Befragte gaben die Zahl der Muslime mit durchschnittlich neun Millionen etwa um das Doppelte zu hoch an. Je höher ihr Bildungsgrad war, umso näher lagen die Antworten der Befragten an der Realität. Frauen schätzten die Zahl der Muslime durchgängig höher ein als Männer. Vor allem Männer mit Abitur, die aus der Türkei oder einem europäischen Nicht-EU-Mitgliedsstaat stammten, konnten die Zahl richtig angeben.

Pegida in Dresden zeigte nicht nur eine Überschätzung der Bedeutung des Islams, sondern auch eine Vermischung von Zuwanderungs- und Islamdiskurs. Dass die Demonstrationen gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ an einem Ort auftraten, wo es kaum Muslime gibt, ist nicht verwunderlich: Die Medien berichteten im vergangenen Jahr über die brutale Gewalt des selbst ernannten Islamischen Staates in Syrien und im Irak, antisemitische Ausfälle während des israelisch-palästinensischen Krieges im Sommer und Ausschreitungen zwischen Kurden, Salafisten und Hooligans auf deutschen Straßen. Gewalt, Unruhe, Aggression. Wer diesen Bildern alltägliche Erfahrungen mit muslimischen Fre- unden, Nachbarn, Lehrerinnen, Busfahrern und Verkäuferinnen entgegensetzen konnte, musste sie nicht als Bild „des“ Islams und „der“ Muslime auffassen. Das haben übrigens auch viele Ostdeutsche nicht getan.

 

Kluft zwischen Mediendarstellung und Alltagserfahrung

Die mediale Berichterstattung beeinflusst die Wahrnehmung des Islam und der Muslime. Dabei spielt nicht nur der Islam in Deutschland und Europa eine Rolle, sondern auch die „Fernbilder“ der muslimisch geprägten Welt, wie eine Auswertung des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung ergibt.

„Dabei fällt auf, dass über reguläre politische, ökonomische und kulturelle Vorgänge in der islamischen Welt weitaus weniger berichtet wird als über Kriege, Gewalt und sonstige Konflikte“ (Kai Hafez/ Sabrina Schmidt: Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland, Gütersloh 2015, 2. Auflage). Dementsprechend werde der Islam als „überwiegend gewalttätig, intolerant und repressiv wahrgenommen“. Der Islam werde weniger als Religion oder Kultur denn als politische und extremistische Ideologie betrachtet (a. a. O., S. 64 f.). In dieser Einschätzung sind sich Islamisten und Islamkritiker oft einig. „Der Fundamentalist würde sagen: Das darf nicht sein, der Muslim ist so oder so, alle anderen sind keine Muslime. Und der deutsche Fernsehexperte sagt mir: Sie sind ja gar kein ‚echter‘, sondern zum Glück nur ein ‚gemäßigter‘ Muslim, denn ein echter Muslim lehnt die Demokratie ab, will die Einheit von Staat und Religion und nimmt den Koran als Gottes unverrückbares Gesetz. […] Man könnte die islamische Kultur, die Poesie, die Architektur, die Mystik gerade durch den Widerspruch definieren, in dem sie zur sogenannten reinen Lehre stehen – aber auch dadurch, dass dieser Widerspruch möglich ist und ausgehalten wird, genau wie in allen anderen Kulturen“ (so in Navid Kermani: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, München 2009).

Nun sind die gewaltsamen Ereignisse, deren Bilder die Medien in die Wohnzimmer tragen, echte Fakten, auch wenn, so der Religionssoziologe Detlef Pollack, „das mit der Rolle der Muslime in Deutschland nichts zu tun hat“. Sechs Prozent der Muslime in Deutschland (so eine Studie des BMI, allerdings aus dem Jahr 2007) befürworten religiös-politisch motivierte Gewalt. Dies ist real und birgt konkrete Gefahren, es ist jedoch für die restlichen 94 Prozent der Muslime ebenso bedrohlich wie für Nichtmuslime.

Auf diese Kluft zwischen der Darstellung von Muslimen in den Medien und den Alltagserfahrungen hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) 2013 ebenfalls hingewiesen. Laut seiner Untersuchung sind sich die Medienkonsumenten der Dissonanz zwischen den eigenen guten Erfahrungen im Zusammenleben und der Berichterstattung jedoch durchaus bewusst. Problematisch sei auch nicht die Thematisierung negativer Sachverhalte an sich, sondern das Fehlen von „good news“, um diese auszugleichen. Die zahlreichen Solidaritätskundgebungen von und mit Muslimen nach den Anschlägen von Paris oder die Medienberichte über engagierte und kreative Flüchtlingshelfer in der ganzen Republik zeigen jedoch auch eine Tendenz der Medien, das gute gesellschaftliche Klima durch positive Nachrichten zu verstärken.

 

Zuwanderer: Mehrheitlich christlich und gut gebildet

Der Islam ist längst kein Zuwanderungsthema mehr. Es kommen zwar weiterhin Muslime nach Deutschland, die meisten muslimischen Familien leben jedoch seit mehreren Generationen hier. Sie sind keine Zuwanderer, sondern Teil der deutschen Gesellschaft. Migration nach Deutschland ist aufgrund der EU-Freizügigkeit ein überwiegend europäisches Phänomen. Sechzig Prozent aller Zuwanderer kommen aus der EU und damit nicht aus muslimischen Ländern und sind mehrheitlich christlich geprägt. Erst auf Platz 9 der Herkunftsländer war 2013 mit Syrien ein mehrheitlich muslimisches Land. Betrachtet man nur die Flüchtlinge, zeigt sich ein etwas anderes Bild: Unter ihnen waren 2013 zwei Drittel Muslime. Gegenüber der Türkei hatte Deutschland alles in allem sogar eine negative Wanderungsbilanz. Insgesamt unterscheidet sich die gegenwärtige Zuwanderung nach Deutschland ganz erheblich von der in früheren Jahrzehnten. Heutige Zuwanderer sind größtenteils gut qualifiziert, sie haben sogar ein höheres Bildungsniveau als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung (Fortschrittsbericht 2014 zum Fachkräftekonzept der Bundesregierung).

 

Überschätzte Religionszugehörigkeit

Wie kam es zu der krassen Überschätzung der Zahl der Muslime? Hintergrund ist die Überschätzung der Religionszugehörigkeit für den gesamten Integrationsdiskurs. Der Islam hat sich – und zwar bereits vor dem 11. September 2001 – als zentrale Kategorie des Integrationsdiskurses etabliert (vgl. Dirk Halm: Der Islam als Diskursfeld, Wiesbaden 2008). Die Religion ist immer mehr zum Kriterium geworden, an dem sich die Integrierbarkeit von Zuwanderern zu entscheiden scheint. Dabei kann unter Umständen etwa christliche und muslimische Zuwanderer aus demselben Herkunftsland und derselben sozialen Schicht kulturell viel mehr verbinden als zwei Muslime aus verschiedenen Ländern oder verschiedenen Milieus. Die Wissenschaft unterscheidet die strukturelle Integration (Einkommen, Arbeitssituation, Bildung), die soziale Integration (Fre- undschaften, Eheschließungen), die identifikative Integration und die kulturelle Integration. Zur letzten zählt – neben Werten und Verhaltensweisen – auch die Religion (vgl. Friedrich Heckmann: Integration von Migranten, Wiesbaden 2015).

Während sich im Zeitverlauf und insbesondere von Generation zu Generation Zuwanderer kulturell der Aufnahmegesellschaft annähern (und auch umgekehrt Annäherung der Aufnahmegesellschaft stattfindet), bleibt die Religion stärker als Eigenes erhalten. „Religion erweist sich im Integrationsprozess als gegenüber den Einflüssen der Aufnahmegesellschaft am wenigsten beeinflussbare kulturelle Struktur“ (ebd., S. 171). Auch ist es nicht ungewöhnlich, dass sich die Religiosität der Einwanderer nach der Migration verstärkt. Religion bietet nicht nur Zuversicht in einer existenziell unsicheren Lebensphase, sie bietet auch eine emotionale Heimat durch die Gemeinschaft, in der die Kultur des Herkunftslandes unter anderem durch die Muttersprache lebendig gehalten wird. Religion kann so zu eben jenem Bereich werden, in dem Identität gegen die Integrationsnotwendigkeiten des Alltags behauptet wird (ebd.). Dies geschieht auch und gerade bei jungen Muslimen der zweiten, dritten, vierten Einwanderergeneration.

In Integrationsdebatten dringt immer wieder die Frage durch, ob sich Zuwanderer bestimmter Religionen besser oder schlechter integrieren. Auf der Ebene der strukturellen Integration kann sie empirisch bejaht werden. Personen mit muslimischer Herkunft haben in der Tat durchschnittlich niedrigere Bildungsabschlüsse und Einkommen. Ursächlich sind dafür aber auch strukturelle Kriterien wie der Bildungsstand und das Einkommen der Eltern. Schließlich waren die meisten muslimischen Zuwanderer gering gebildete „Gastarbeiter“, die ihren Kindern kaum bei der Bewältigung der Schullaufbahn helfen konnten. Auf der Ebene struktureller Integration ist das Ziel klar: Soziale Unterschiede sollen möglichst wenig mit ethnisch-religiösen Unterschieden zusammenfallen. So sollen Stigmata, Ausgrenzung und ethnische Spannungen verhindert werden.

Auf der Ebene kultureller Integration hingegen tobt die Debatte darüber, wie viel Differenz zum Selbstverständnis eines Einwanderungslandes wie Deutschland dazugehören soll und wo die Grenzen der Differenz verlaufen. Einen Common Sense findet man bei dieser Debatte weniger auf der religiösen, denn auf der politischen Ebene: mit der Anerkennung des demokratischen Systems, des Rechtsstaats, der individuellen Freiheitsrechte und der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen unabhängig von Geschlecht oder Glauben. Die Akzeptanz dieser Gleichheit ist eine Herausforderung für alle, nicht nur für Zuwanderer. Aus den genannten Punkten leiten sich vier Empfehlungen für die mediale Debatte ab.

 

Wie diskutieren?

Erstens: Wenn es um den Islam geht, dann sollte es auch um die Vielfalt islamischen Lebens, die Widersprüche und Spannungen islamischer Kultur- und Geistesgeschichte gehen. Die beste Waffe gegen Fundamentalisten mit ihrer totalitären Einheitsvorstellung des Islams und ihrer Schwarz-Weiß-Aufteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige ist ein breit verankertes, vielfältiges Bild islamischer Religion und Kultur. Das Wissen über islamische Geschichte, Kultur und Religion ist erschreckend gering. Und zwar nicht nur bei Nichtmuslimen, sondern ebenso bei jungen Muslimen, wie eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Viola Neu: Jugendliche und Islamismus in Deutschland, Sankt Augustin/ Berlin 2011) festgestellt hat.

Zweitens: mehr über politische Kultur reden. Wirklich besorgniserregend ist nicht der Glaube, sondern es sind Halbwissen, Überzeugungen und Einstellungen, die das Vertrauen in die Gesellschaft untergraben. Verschwörungstheorien sind weit verbreitet unter jungen Menschen. Wie kommt es dazu und was kann man dagegen tun? Ein weiteres wichtiges Thema ist, welche Erfahrungen mit Politik, mit Parteien, Wahlen und politischen Institutionen Menschen aus ihrem Heimatland mitbringen. Haben sie Vertrauen oder Misstrauen? Welche Vorstellungen und Erwartungen haben sie bezüglich der öffentlichen Meinungsfindung und der politischen Entscheidungen? Wie beeinflussen die Erfahrungen im Herkunftsland ihr politisches Engagement in Deutschland? Was erwarten sie von Politikern, was wissen sie über Möglichkeiten, sich selbst politisch zu engagieren?

Drittens: Muslime nicht nur in Debatten einbeziehen, wenn es um ihre Religion geht. Wenn man möchte, dass sich Zuwanderer und Muslime mit Deutschland identifizieren, stolz auf ihr Land sind und sich für das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft einsetzen, muss es auch ein Identifikationsangebot geben. Deutsch und muslimisch, das kann für den Einzelnen identisch sein und selbstverständlich. Die Zugehörigkeit zum Islam nicht zu wichtig zu nehmen, bedeutet an dieser Stelle auch, Muslime als Experten auf ihren Fachgebieten anzusprechen: als Wissenschaftler, Unternehmer, Eltern, Konsumenten, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Patienten. So schreibt Navid Kermani: „Ich bin Muslim, ja, aber ich bin auch vieles andere. […] Deshalb stört es mich auch, dass die gesamte Integrationsdebatte sich häufig auf ein Für und Wider des Islams reduziert – als ob die Einwanderer nichts anderes seien als Muslime. Damit werden alle anderen Eigenschaften und Faktoren ausgeblendet, die ebenfalls wichtig sind: woher sie stammen, wo sie aufgewachsen sind, wie sie erzogen wurden, was sie gelernt haben“ (Kermani: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, 2009). Es ließe sich ergänzen: wohin sie wollen, was ihnen wichtig ist, was sie zu ihrem Land beitragen, wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell.

Und viertens: Zuwanderung und Islam, Migration und Religion getrennt diskutieren. Zwar ist der Islam erst seit weniger als 100 Jahren durch Zuwanderung nach Deutschland gekommen. Viele muslimische Familien leben jedoch seit Generationen in Deutschland. Sie sind ein Teil Deutschlands und keine Zuwanderer mehr.

 

Katharina Senge, geboren 1982 in Erfurt, Koordinatorin für Zuwanderung und Integration, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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