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Die politische Herausforderung religiöser Vielfalt

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Seit 2022 stellen Christen der beiden großen Konfessionen in Deutschland nicht mehr die absolute Mehrheit. Erstmals gehört weniger als die Hälfte der Deutschen (47,4 Prozent) einer der beiden großen Kirchen an. Als diese Nachricht im vergangenen Jahr die Runde machte, schrieben zwar viele von einer „historischen Zäsur“, wenige fragten aber nach den möglichen politischen Folgen. Tatsächlich sind diese erheblich. Jahrzehntelang hatten sich Staat und Kirchen in einem Verhältnis des Gebens und Nehmens eingerichtet. Man lebte unter demselben Himmel. Tempi passati!

Der Rückgang der Volkskirchen und ihr geringerer werdender Einfluss auf politische und gesellschaftliche Institutionen, Prozesse und Wertvorstellungen vollzieht sich seit Jahrzehnten und wird sich wohl fortsetzen. Die Säkularisierung, also die Abkehr von organisierten Formen der Religiosität, ist seit Langem eine Begleiterscheinung der Moderne. In nahezu allen westlichen Demokratien nimmt nicht nur die formale Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften ab, auch der Glaube an kirchliche Botschaften schwindet. Laut einer Erhebung des Allensbach-Instituts von 2021 bezeichneten sich nur noch 23 Prozent der Katholiken und zwölf Prozent der Protestanten als gläubige Mitglieder ihrer Kirche.

Etwas anders verhält es sich mit der allgemeinen Wertschätzung der christlichen Kulturtradition und ihrer Bedeutung für Gesellschaft und Politik. Diese Tradition genießt weiterhin hohe Zustimmungswerte; allerdings ist auch hier der Trend eindeutig. Immer weniger Menschen können mit christlichen Alltagstraditionen etwas anfangen oder die Bedeutung christlicher Feiertage einordnen.

 

Der Himmel wird divers

Die sich fortsetzende Säkularisierung wird in der Regel als Verlustanzeige und Krisenphänomen und somit als Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt beschrieben. Bei genauerem Hinsehen ist sie jedoch auch Ausdruck einer weitaus komplexeren Entwicklung, die sich im Rahmen der Spannungsfelder der drei religiösen Megatrends – Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung – vollzieht und deren Auswirkungen weitgehend offen sind. Während die formale Zugehörigkeit zu den beiden großen christlichen Konfessionen abnimmt, haben Pluralisierung und Individualisierung gleichzeitig neue religiöse und weltanschauliche Bezugssysteme auf den Markt gebracht.

Was wir seit Jahrzehnten erleben, ist also nicht das Absterben von Religiosität, sondern es sind vielmehr Veränderungen der Rollen religiöser Ideen und Autoritäten in Staat und Gesellschaft, die mit umfangreichen Wandlungsprozessen des Selbstverständnisses religiöser Institutionen einhergehen. So geht der Einfluss der Kirchen zwar zurück, für individuellen Glauben, praktizierte Spiritualität und das Bekenntnis zu weltanschaulichen Bezugssystemen gilt das allerdings nicht. Tatsächlich wird der Rückgang formaler Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft durch eine Zunahme säkularer Weltanschauungen und durch (hierzulande) neue Formen von Religiosität konterkariert. Mit anderen Worten: Auch der Himmel wird diverser.

Die Abkehr von einheitlich kirchlich geprägten Glaubensvorstellungen hat sich lange angedeutet. Seit Jahrhunderten beschäftigen sich Denker, Künstler und Philosophen mit den klassischen Himmelvorstellungen und stellen traditionelle Lehrmeinungen infrage. Im christlichen Abendland empfinden viele die Idee vom ewigen Leben in einem palmenbestandenen Luxusresort längst als wenig verheißungsvoll und verlegen den Himmel lieber auf Erden. Selbst aus muslimischer Perspektive stellen textkritische Denker die Frage, ob die himmlischen Verheißungen auf Übersetzungsfehlern beruhen könnten.

 

TikTok statt Kirche?

Die Kehrseite dieser Abkehr von traditionellen Glaubensvorstellungen ist eine Zunahme weltanschaulich geprägter Heilsangebote, spirituell grundierter Lebensstile und von Religionsgemeinschaften jenseits der etablierten Kirchen. Das von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 2021 herausgegebene ABC der Weltanschauungen listet eine Vielzahl dieser gesellschaftlich relevanten Gruppen und Strömungen auf: Das Spektrum reicht von „Achtsamkeit“ bis „Yoga“. Auch Homöopathie, Reichsbürgertum und Astrologie sind hier zu finden – Bewegungen also, deren Anhänger sich gegen den Verdacht des Religiösen verwahren würden, die aber geprägt sind von Sinnsuche, Heilsversprechen und dem Glauben an irgendwelche verborgenen Mächte. Kein Wunder (auch das ein Befund der Allensbach-Studie von 2021), dass auch der Glaube an Wunder beständig zunimmt. Mit kirchlich organisierter Religiosität hat das immer weniger zu tun. Glaube wird hier zur beliebig zusammengesetzten Individual-Spiritualität.

Die neue religiöse Diversität findet sich auch in der Populärkultur. Tod und Auferstehung sind hier seit Langem gängige Motive. Serienangebote der Streamingdienste greifen Jenseitsvorstellungen auf, aktuelle Bücher geben Tipps für das Leben nach dem Tod. Auch in den sozialen Medien boomen die Sinnangebote. Gerade junge Menschen suchen spirituelle Anleitung weniger in der Kirche, dafür jedoch auf YouTube, Instagram und TikTok. Hier finden sich die emotionalen Botschaften von „Sinnfluencern“, die mit zeitgeistigen Ansprachen die Eigenlogik sozialer Medien bedienen. Die zunehmenden Followerzahlen weltanschaulicher Onlineprediger offenbaren auch eine Neuverhandlung religiöser Autorität. Nicht mehr der Pfarrer mit Theologiestudium und Soutane öffnet die Tore zum Himmel, sondern die gut frisierte junge Frau von nebenan, die ihre gelebte Religiosität auf das Handy streamt.

Die Säkularisierungsthese steht daher seit einiger Zeit in der Kritik. Schon vor Jahren widersprachen Bücher wie Die Rückkehr der Religionen (Martin Riesebrodt, 2001) oder Die Wiederkehr der Götter (Friedrich Wilhelm Graf, 2007) der Annahme vom zunehmenden Bedeutungsverlust der Suche nach dem Göttlichen. Was aber bedeutet es, wenn der Himmel nicht abgeschafft, sondern in immer vielfältigeren Formen und Ausprägungen gedacht und geglaubt wird? Hier scheiden sich die Geister. Während Diversität in anderen gesellschaftlichen Fragen begrüßt, befördert und beworben wird, sorgt sie in Glaubensfragen für Verunsicherung. Laut Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung hält gut ein Drittel der Menschen in Deutschland die neue Pluralität der Bekenntnisse für eine Bedrohung. Nur 29 Prozent bezeichneten die Zunahme religiöser Vielfalt als Bereicherung. Skepsis überwiegt vor allem bei Menschen ohne Religionszugehörigkeit. Verglichen mit dem Religionsmonitor 2013 ist der Trend offensichtlich: Hatten damals noch 89 Prozent aller Befragten gesagt, man solle „gegenüber allen Religionen offen sein“, ist dieser Wert im aktuellen Religionsmonitor auf achtzig Prozent gesunken. Gleich um dreizehn Punkte auf 59 Prozent ging die Zustimmung zu der Aussage zurück, dass „jede Religion einen wahren Kern“ habe. Die grundsätzliche Zustimmung zu religiöser Vielfalt nimmt also ab.

Die wachsende Skepsis gegenüber religiöser Vielfalt und Religion insgesamt fällt nicht vom Himmel. Missbrauchsskandale in den Kirchen, der Eifer der christlichen Rechten in den USA, religiös begründete Menschenrechtsverletzungen und der islamistische Terror von IS und Hamas sind völlig unterschiedliche Phänomene und lassen sich nicht vergleichen. Aber sie verstärken insgesamt den Eindruck, dass zu viel Religion und damit auch zu viel Religionsvielfalt schädlich sind. Dieser Eindruck ist ernst zu nehmen. Religiöse Diversität und Multioptionalität sorgen in jeder Gesellschaft für Stress und Überforderung. Experten warnen spätestens seit der Corona-Pandemie vor einer Zunahme weltanschaulicher und religiöser Filterblasen. Die Pandemie, aber auch andere globale Krisen haben die Suche nach einfachen Wahrheiten und Schwarz-Weiß-Antworten beschleunigt. Gruppen aus dem esoterischen und islamistischen Spektrum, aber auch aus der Verschwörungsdenkerszene und aus Teilen der evangelikalen und radikal-katholischen Bewegung verzeichnen Zulauf. Angeblich seien dreißig Prozent der Bevölkerung solchen Paralleluniversen zugeneigt, die immer weniger Bezüge zu gesamtgesellschaftlichen Werten haben.

 

Politischer Handlungsauftrag

Den Verlust des gemeinsamen Himmels aber nur zu bejammern, ist allerdings genauso wenig erlösend, wie den Gewinn der neuen himmlischen Vielfalt ausschließlich zu bejubeln. Aus der religiösen und spirituellen Unübersichtlichkeit ergibt sich vielmehr ein politischer Handlungsauftrag. Wie bei allen Diversitätsfragen sollte es auch hier heißen: Pluralität muss gesellschaftlich verhandelt und politisch organisiert werden. Religiöse und weltanschauliche Vielfalt verlangt Demokratien einiges an Zumutungen ab und ist politische Schwerstarbeit. Fastenregeln und Feiertage müssen organisiert, Schulunterricht und Moscheebau geregelt und religiös konnotierte Bekleidungsformen im öffentlichen Raum verhandelt werden. Auch die Zukunft der gesellschaftlich immens wichtigen kirchlichen Trägerstrukturen in Betreuung, Bildung, Pflege und Seelsorge muss gesichert werden. Nicht weniger, sondern mehr Religionspolitik, verstanden als die aktive und reaktive Gestaltung der Beziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften, ist daher gefordert.

Dass die Vertreter der gegenwärtigen Bundesregierung kaum Interesse an einer gestaltenden Religionspolitik haben und viele von ihnen offenkundig mit dem Thema Religiosität fremdeln, ist daher keine gute Nachricht. Wolkige Bekenntnisse zu Religionsfreiheit, Pluralität und Toleranz werden nicht reichen, um religiöse und weltanschauliche Vielfalt politisch und gesellschaftlich zu organisieren und gleichzeitig die besorgniserregende Zunahme von religiöser Gewalt und religiös begründetem Antisemitismus zu bekämpfen. Die immer mühsamer werdenden Aushandlungsprozesse der Ansprüche und Erwartungen von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im säkularen Rechtsstaat setzen politischen Willen, verfassungsrechtlichen Sachverstand, theologische Offenheit und weltanschauliches Interesse voraus. Ein immer wichtiger werdendes Politikfeld liegt hier brach. Wollen Staat und Gesellschaft in vielen Himmeln schweben, benötigen sie gute irdische Konzepte und kundiges Bodenpersonal.

 

Andreas Jacobs, geboren 1969 in Kleve, seit 2020 Leiter Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

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