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Multipolarität, Multilateralismus und Nationale Sicherheitsstrategie

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Der Verteidigungskrieg Israels gegen die Terrororganisation Hamas hat die Bundesregierung Ende des Jahres 2023 unvermittelt dazu gezwungen, sich mit dem schwierigen Begriff der Staatsräson auseinanderzusetzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete Israel als Teil deutscher Staatsräson, für Bundeskanzler Helmut Kohl bestand ihr Kern in der Zugehörigkeit zur NATO. Lange in Deutschland verschmäht, erfasst der Begriff den strategischen Zweck und damit das vitale Interesse des Überlebens eines Staates und die Strategien, die dieses gewährleisten. Auf das Engste damit verbunden ist der glaubwürdige Wille, für diese vitalen Interessen jederzeit militärisch kämpfen zu können und zu wollen. Staatsräson impliziert deshalb, den Staaten inhärenten Machtwillen argwöhnisch zu beobachten, während man mit seinen Verbündeten das internationale Umfeld strategisch durchmisst.

Die im Juni 2023 verabschiedete Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) hat es unterlassen, die deutsche Staatsräson und damit die heute bedrohten vitalen Interessen Deutschlands strategisch zu begründen. Die NSS ist deshalb auch keine „Grand Strategy“, in der die Strategien zur Gewährleistung der vitalen Interessen einer Nation für die Zukunft festgehalten sind. Gordon Craig und Felix Gilbert haben das hier zugrundeliegende Verständnis von Strategie hilfreicherweise so umrissen: „Strategie ist nicht nur die Kunst der Vorbereitung auf bewaffnete Konflikte, in die eine Nation verwickelt werden kann, und der Planung sowie des Einsatzes ihrer Ressourcen und der Dislozierung ihrer Streitkräfte in einer Weise, die einen erfolgreichen Ausgang ermöglicht. Sie ist auch, in einem weiter gefassten Sinne, die […] rationale Bestimmung der vitalen Interessen einer Nation, der Dinge, die für ihre Sicherheit wesentlich sind, der grundlegenden Zwecke in ihren Beziehungen zu anderen Nationen und der Prioritäten in Bezug auf ihre Ziele.“1

Das Vorwort des Bundeskanzlers zur Nationalen Sicherheitsstrategie spricht in dieser Hinsicht davon, dass es „ohne Sicherheit […] keine Freiheit, keine Stabilität, keinen Wohlstand“ gebe. Damit kommt es dem Kern des Schutzgutes „deutscher Staatsräson“ deskriptiv nahe. Das Überleben des Staates, der begründende Kern der Staatsräson, kann jedoch nicht gemeint sein, wenn im weiteren Verlauf der Strategie an entscheidender Stelle gesagt wird, bei der „Verteidigung unserer Werte und Durchsetzung unserer Interessen“ müsse man sich „Zielkonflikten stellen, die politische Abwägungen und Entscheidungen erfordern“. In Sachen Staatsräson gibt es keine Zielkonflikte.


Parameter der werdenden Ordnung

Zum internationalen Umfeld, zum Machtwillen anderer Staaten und der eigenen Weltsicht, die sämtlich für die Staatsräson eines Staates konstituierend sind, hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz 2023 bei dem Gipfeltreffen der Europäischen Union und bei der letzten Generalversammlung der Vereinten Nationen prägnant geäußert.2 Im Zentrum seiner Überlegungen zum Zustand der internationalen Politik steht seine Vorstellung von „Multipolarität“. Scholz versteht darunter „keine neue Ordnung“, sondern das Aufstreben „vieler unterschiedlicher Machtzentren“. Wer diese „Zustandsbeschreibung“ nicht akzeptiere, habe „keinen realistischen Blick auf die Welt, in der wir leben werden“. Das Ziel „vieler Länder“ in Asien, Südamerika und Afrika sei es längst, „ihr eigenes Gewicht zum Tragen [zu] bringen“. Dass diesen Staaten „mehr Gewicht gebührt“, sei zur „Prämisse“ geworden. Geschuldet sei diese „Neuausrichtung“ der deutschen Politik, wie der ehemalige Berater von Angela Merkel, Christoph Heusgen, kürzlich ausführte, nicht zuletzt dem amerikanischen Verlust an Glaubwürdigkeit aufgrund der doppelten Standards der USA in der internationalen Politik. Der letzte Irakkrieg vor zwanzig Jahren firmiert hier weiterhin als Referenzpunkt.

Der Bundeskanzler stellt mit dieser Beschreibung die seiner Ansicht nach entscheidenden Parameter der werdenden Ordnung heraus. Dem weltpolitischen Umbruch stellte er sich in seiner Rede vor den Vereinten Nationen im September 2023 mit dem Rückgriff auf „drei Ideale“, denen sich „Deutschland […] zutiefst verpflichtet“ fühle. Und zwar genauso „wie vor 50 Jahren“, als Willy Brandt diese angesichts der neuen Mitgliedschaft der Bundesrepublik (und der DDR) hervorhob. „Verzicht auf Gewalt als Mittel der Politik, […] Ablehnung jeglicher Form des Revisionismus und Bekenntnis zur Zusammenarbeit über Trennendes hinweg“ bilden damit den traditionellen Kern seines multilateral geprägten Ansatzes für das Heute.

Verkürzt bedeutet Scholz’ New Yorker Aussage: Der deutsche Grundansatz bleibt auch nach fünfzig Jahren und in Zeiten von Multipolarität unverändert. Prozeduraler Multilateralismus offeriert zweifellos eine grundlegende Herangehensweise an die internationale Politik in Zeiten geostrategischer Stabilität. Die größte Schwäche dieses Ansatzes besteht jedoch in der Fehlannahme, dass die Ausgestaltung der künftigen internationalen Ordnung ohne Machtkämpfe (verschiedener Intensität) auskommen werde. Denn dieser traditionelle prozedurale Multilateralismus lässt sich nicht unabhängig von Machtfragen und Machtentscheidungen denken – und operationalisieren.

 

Mantra vom Abstieg des Westens

Der Machtkampf um die Zukunftsordnung wird, entgegen den Annahmen des Bundeskanzlers, durch die Vereinten Nationen und internationales Recht weder geführt noch entschieden, geschweige denn moderiert. Machtpolitik bedeutet nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Notwendigkeit, die eigene Macht mit Verbündeten zur Sicherung jener Ordnung aufbieten zu wollen, die westliche Interessen und Werte langfristig gewährleistet. Die Annahme, dass die Prozeduren des Multilateralismus samt seiner drei deutschen Ideale das globale Verständnis der internationalen Politik von Staaten widerspiegeln und deren machtpolitische Kalküle verändern können, entbehrt strategischer Grundlagen. Solch multilateral geprägtes Denken kann angesichts des russischen Krieges, des chinesischen Machtanspruchs und des Hamas-Terrors in Israel einerseits sowie der mannigfachen Reden zur notwendigen Strategiefähigkeit und Kriegstüchtigkeit Deutschlands andererseits im Sinne der Zeitenwende nicht als Fortschritt überzeugen.

In dem von Scholz unterstrichenen traditionellen Bekenntnis zum Multilateralismus schwingt jedoch noch etwas anderes mit: Die von ihm als Realität dargestellte Multipolarität, wiewohl nicht machtpolitisch konfiguriert, insinuiert den Abstieg des Westens. Dass das Mantra dieses Abstiegs gleichzeitig integraler Bestandteil russischer, chinesischer sowie postkolonialer Propaganda ist, bleibt unerwähnt und möglicherweise sogar unverstanden. Unverstanden bleibt ebenfalls, dass dieses Mantra seit über 100 Jahren zum Rhetorikinstrumentarium revisionistischer Staaten gehört – und sich seit über 100 Jahren als ebenso falsch erwiesen hat.

Zwei weitere Faktoren scheinen überdies die ungute Leichtigkeit zu befördern, mit der Scholz’ „realistische“ Sichtweise auf Multipolarität den Westen nicht offen zur Disposition stellt, zumindest aber sein Fortbestehen nicht vehement unterstützt. Zum einen rührt dies aus der bundesrepublikanischen Tradition, kleineren Staaten stets auf Augenhöhe und dialogsuchend zu begegnen. Scholz’ Überzeugung, dass

„Respekt“ den Umgang in einer Gesellschaft formen soll, findet hier unausgesprochen Anwendung auf strategische Einschätzungen. Zum anderen leitet sich aus der Tradition des deutschen Verständnisses von Multilateralismus ab, dass Berlin in internationalen Angelegenheiten a priori nicht die Führung beanspruchen will. Deshalb folgt Scholz den Ereignissen und erblickt entsprechend einen ‚Zustand‘ (Multipolarität) der Weltpolitik. Dieses allenthalben bekannte, passive Beobachten und Herangehen Berlins bewirkt, dass die angenommenen globalen Veränderungen nicht im Interesse des Westens aktiv geprägt, sondern reaktiv im Sinne des geglaubten westlichen Abstiegs akzeptiert werden. Bemerkenswert ist dabei die Linearität, die dieser postkolonial inspirierten Entwicklung vorschnell beigemessen wird. Die frühe Festlegung und besonders ihre Implikationen für Deutschlands Verbündete wären aber mindestens, wie die Nationale Sicherheitsstrategie fordert, „offen anzugehen und transparent zu erörtern“ gewesen. Das ist bisher aber nicht geschehen.

 

Machtwille aufstrebender Staaten

Im Verständnis des Bundeskanzlers der für ihn bereits existierenden multipolaren Welt kommt schließlich auch die eigentümliche Vorstellung des ‚Aufstrebens‘ der benannten Mächte zum Tragen. Während der Bundeskanzler annimmt, sein Modell des Multilateralismus böte in Zukunft die Basis für internationale Kooperation, übersieht er den immanenten Machttrieb aufstrebender Staaten. Seine Annahme der multilateralen Kooperation als Modus Vivendi impliziert, dass diese Staaten, wenn sie ihr Wachstumspotenzial ausgeschöpft haben, weder einen Machtanspruch daraus ableiten noch eine bestimmte Werteorientierung durch ihren Machtgewinn beanspruchen. Zumindest bei den größeren dieser Staaten wird sich der deutsche Ansatz in dieser Form nicht bewahrheiten, dagegen spricht die historische Erfahrung. Das Innehaben neu gewonnener Macht bei den einen und der geglaubte Machtverlust bei den anderen haben stets zu verschiedentlich gefärbten Verdrängungsversuchen gegenüber Machtinhabern geführt, Krieg inklusive. Diese Einsicht ist uralt.

Bereits Thukydides, ein Klassiker der antiken Geschichtsschreibung, dessen Lektüre weit über die Verengung der Debatte auf die Thucydides Trap hinaus erhellt, hat im Melierdialog seines Werks Der Peloponnesische Krieg wertvolle Anmerkungen hierzu geliefert: „Wir [die Athener] glauben, daß der Mensch ganz sicher allezeit nach dem Zwang der Natur überall dort herrscht, wo er die Macht hat. Wir haben dieses Gesetz weder aufgestellt noch als bestehendes zuerst befolgt; wir haben es als gegeben übernommen und werden es als ewig gültiges hinterlassen. Wir befolgen es in dem Bewußtsein, daß auch ihr oder andere, die dieselbe Macht wie wir errungen haben, nach demselben Grundsatz verfahren würden.“

Das Vorhandensein eines machtpolitischen Willens bei aufstrebenden Staaten nicht ernst zu nehmen, ist vielleicht der deutlichste Beleg dafür, dass die ‚Zeitenwende in den Köpfen‘ nicht nur ‚noch‘ nicht angekommen ist, sondern von spezifisch deutschen Denkmustern der Vergangenheit daran gehindert wird, überhaupt anzukommen. Die von vielen Seiten und durch den Bundeskanzler selbst im Schock des 24. Februars 2022 geforderte strategisch-konzeptionelle Unterlegung der Zeitenwende wird auf diese Weise nicht befördert.

 

Ohne strategisches Ziel im Ukraine-Krieg

Das zentrale Kuriosum der Nationalen Sicherheitsstrategie, des „Kompasses“ deutscher Sicherheitspolitik, besteht jedoch in einem großen weißen Fleck, der im Vorwort des Bundeskanzlers aufscheint. Dass die Furcht vor einem Kabinett Trump 2 und vor dem Ende des transatlantischen Verhältnisses bereits die Feder der NSS-Verfasser geführt hat und somit der fest angenommene Abstieg des Westens, der USA, die nervöse (und naive) Suche nach ‚Partnern‘ unter den aufstrebenden Mächten ausgelöst hat, mag hergeholt klingen. Zumindest verwunderlich ist es dennoch, dass der Kanzler keinen als strategische Priorität formulierten Impuls zur Reform des transatlantischen Bündnisses anbietet. Stattdessen erwähnt er gleichsam rituell die „Einbettung [Deutschlands] in das transatlantische Bündnis“ als „Beitrag zur Sicherheit Europas.“

Die Zeit, in der Amerika mal mehr, mal weniger freundlich mahnend die Europäer und besonders die Deutschen zu erheblich mehr Engagement für das Bündnis aufgefordert hat, kann an Jahreszahlen festgemacht werden: Ob 2011 der Pivot to Asia von Präsident Barack Obama, 2014 der NATO-Gipfel von Wales oder 2017 bis 2021 die NATO-Austrittsdrohungen von Präsident Donald Trump, all diese Interventionen sind selbstverschuldet erst durch die – von außen erzwungene – Reaktion auf den Kriegsausbruch 2022 in mehr politischen Willen übersetzt worden.

Die Ampelregierung hat sich gleichwohl hinsichtlich der Option Trump 2 dadurch gegen Russland rückversichert, dass sie den Kurs eines aggressiven, mit allen Mitteln geführten Verteidigungskriegs Kiews gegen Moskau nicht in der Allianz propagiert hat. Vielmehr hat Berlin die phasenweise Zurückhaltung Joe Bidens in der Kriegsführung geschickt für seine Zwecke instrumentalisiert. Denn das Ziel aus Sicht des Kanzleramts war und ist, die Möglichkeit zu erhalten, 2024/25 Raum für eine realpolitische Absprache mit Putin besitzen zu können. Nicht zuletzt aus diesem Grund weicht die Bundesregierung bis heute konsequent der Beantwortung der Frage aus, was genau das strategische Ziel Deutschlands in diesem Krieg ist und wie es sich die Sicherheitsordnung Europas im Jahr 2030 vorstellt.

 

Der Westen in der künftigen Weltordnung

Die für eine transatlantische Reform verstrichene Zeit ist nicht wieder zurückzugewinnen. Ein Vorstoß soll hier dennoch gemacht werden. Erstens lautet die strategische Grundprämisse für eine solche Reform, dass der Westen nur dann den Machtkampf um die künftige Weltordnung bestehen und gewinnen kann, wenn er sich nicht selbst spaltet oder von außen spalten lässt. Nur als Einheit (in Vielfalt) kann er den Revisionismus Chinas und Russlands ausbalancieren. Der Westen besteht dabei aus NATO-, EU-, G7-Staaten sowie Australien und Staaten Südost- und Ostasiens sowie Israel. Zweitens muss die westliche Gemeinschaft den Kreis ihrer wichtigsten Mitglieder öffnen. Indien sollte unter Verweis auf und gegen die Bedrohung Chinas als volles Mitglied in die G7 mit Zugang zu modernster Technologie aufgenommen werden. Damit entstünde ein Zweifrontendilemma für China (im Osten die USA, im Westen Indien), das zu Containment-Zwecken wesentlich wäre. Organisationen wie die Vereinigung der Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (BRICS) und die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) würden damit wesentlich geschwächt. Drittens müssen die Europäer, einschließlich der Briten, die konventionelle und nukleare Abschreckung Europas glaubwürdig übernehmen. Auf diese Weise wäre die bisher nicht befriedigend beantwortete doppelte Abschreckungsnotwendigkeit (Chinas, Russlands) seitens der USA aufgelöst und die Spaltungsgefahren der innerwestlichen Debatten, ob „Asia first“ oder „Europe first“ die Priorität zu geben sei, gebannt. Damit sind sehr grob die Umrisse einer neuen innerwestlichen Arbeitsteilung skizziert.

Ob der politisch-strategische Wille zu einer solchen Vision besteht, wird sich – in trügerischer Verneinung des Satzes von Vegetius „Si vis pacem, para bellum“ – nicht unmittelbar, sondern erst unter deutlich prekäreren geopolitischen Vorzeichen zeigen müssen. Mit der Aussage, dass es „kein Lehrbuch“ gebe,3 in dem die Strategie für diesen Krieg mit seinen zentralen internationalen Implikationen bereits dargelegt ist, macht es sich der Kanzler jedoch zu leicht. Solch ein Buch kann es (noch) gar nicht geben. Vielmehr scheint er so die ausschließliche Gestaltungsmacht über seinen Kurs der ‚Besonnenheit‘ für das Kanzleramt reklamieren zu wollen.

Damit aber spielt er die erwiesenermaßen zentrale Relevanz historischer Analogien zum Begreifen der Zukunft herunter, anhand derer Staatschefs seit jeher ihre strategischen Planungen kalibriert haben. Die oben erwähnte Vision, die ihrer Natur nach analytisch wahrscheinlich vielen zunächst noch unerreichbar scheint, wird jedoch durch ein überzeugendes historisches Vorbild greifbar. Um es nutzbar zu machen, gilt es hier zunächst, die internationale Zeitenwende in Berlin von ihren stark deutsch geprägten, historischen Einengungen („Deutschland als Aggressor“) zu befreien, um damit die willensstarke Verteidigung der westlichen Weltordnung als internationale Verantwortung Deutschlands4 zu verinnerlichen.

Eine ähnliche Aufgabe wie die heutige zeitgleiche Herausforderung des Westens durch China und Russland stellte sich vor dem Zweiten Weltkrieg in den USA Visionären um Präsident Franklin D. Roosevelt sowie den Generälen George C. Marshall und Dwight D. Eisenhower. Diese hatten mit großem, strategischem Unbehagen Japans Überfall auf die Mandschurei, Italiens Überfall auf Abessinien und Deutschlands Annexionen im Rheinland, im Sudetenland und in Österreich beobachtet. Innenpolitisch jedoch bestand in diesen Jahren parteiübergreifender Konsens, dass die USA außenpolitisch strikt isolationistisch ausgerichtet waren. Roosevelt und Marshall, ganz ohne „Lehrbuch“, dafür aber mit viel Kreativität im Denken ausgestattet, waren es zunächst, die die aufkommenden Spannungen bei der geostrategischen Prioritätensetzung erkannten. Sollte die Herangehensweise wegen des Deutschen Reichs auf ein „Europe first“ oder wegen des kaiserlichen Japans auf ein „Asia first“ hinauslaufen? Oder konnte beides verbunden werden? Es sollte hier nochmals unterstrichen werden, dass Amerikas isolationistische Neutralität im Frühjahr 1939 noch sakrosankt war. Und dennoch entwarfen diese Spitzenakteure Pläne, wie mit den zumindest für sie erkennbaren Entwicklungen umgegangen werden sollte. So kam es, dass sie sich ab Frühjahr 1939 an die Ausarbeitung der sogenannten RAINBOW-Pläne5 setzten. Die Namensgebung sollte dabei bereits anzeigen, dass eine Verengung auf nur einen geostrategischen Raum der Komplexität der Herausforderung nicht gerecht werden würde. Mit dem von Deutschland im gleichen Jahr ausgehenden Krieg in Europa und Japans Aggression von 1941 (und dem dadurch ausgelösten Kriegseintritt der USA) verfestigte sich die Überzeugung, dass beide Räume nicht strategisch getrennt werden konnten. Der fünfte RAINBOW-Plan unterstrich dies.

Heute gibt es wieder zwei große revisionistische Mächte in Ostasien und Europa. Erneut ist die wechselseitige Bedingtheit beider Herausforderungen nicht voneinander trennbar, weil die Konzentration auf einen Raum konsequenterweise den Schutz des anderen schwächen würde. Und damit die Glaubwürdigkeit in einem Raum erschüttert würde und Nachwirkung auf die Glaubwürdigkeit im anderen hätte. Dass es damit heute – wie vor über achtzig Jahren – um nicht weniger als den Kampf um die Führung der Weltordnung geht, ist damit der Kern der Herausforderung, für den Deutschlands „Grand Strategy“ entworfen werden muss.

Dass es aufgrund Xi Jinpings historischer Mission nicht zu einem zweiten Krieg in Ostasien kommt, ist dabei nicht auszuschließen. Aber das militärische Erzwingen des russischen Rückzugs aus der Ukraine wäre ein Signal von Stärke, dessen Glaubwürdigkeit Xi in seiner Letztentscheidung nicht übersehen könnte. Verbunden mit konzertierter europäisch-amerikanischer Abschreckung gegenüber China, die das gesamte Instrumentarium westlicher Macht (wirtschaftlich, technologisch, militärisch) so nachdrücklich wie geschickt nutzt, kann dies die Kalküle Chinas überdies beeinflussen.

Es ist deshalb jetzt an der Zeit, dass mutige Staatslenker wie die Estin Kaja Kallas oder US-Präsident Joe Biden den Anstoß geben, dass das westliche Bündnis seinen sechsten RAINBOW-Plan in Angriff nimmt. Deutschlands Staatsräson wäre damit gedient. Trumpstarre hingegen ist keine Strategie.

Maximilian Terhalle geboren 1974 in Frankfurt am Main, Gastprofessor für Geopolitik, London School of Economics (LSE IDEAS), Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr, 2022 bis 2023 freier Kommentator bei „WELT TV“.

Der Autor gibt seine Privatmeinung wieder.

 

1 Gordon Craig / Felix Gilbert: Makers of Modern Strategy from Machiavelli to the Nuclear Age, Princeton (New Jersey) 1986, S. 869 [Übersetzung durch die Redaktion].
2 Abschluss Gipfeltreffen der Europäischen Union: Pressekonferenz mit Olaf Scholz, 30.06.2023, www.youtube.com/watch?v=fxWGAUyfwX8; Rede von Bundeskanzler Scholz zur 78. Generaldebatte der Generalversammlung der Vereinten Nationen, 19.09.2023, https://new-york-un.diplo.de/un-de/-/2619364 [letzter Zugriff: jeweils 07.12.2023].
3 Bundesregierung: „Werde mich nicht treiben lassen, etwas Unbesonnenes zu tun“. Interview des Bundeskanzlers Olaf Scholz mit Andreas Hoidn-Borchers, 05.05.2022, www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/interview-bundeskanzler-stern-2030338 [letzter Zugriff: 07.12.2023].
4 Maximilian Terhalle / Bastian Giegerich: The Responsibility to Defend: Re-thinking Germany’s Strategic Culture. IISS Adelphi Paper, London, Routledge 2021.

5 Mark A. Stoler: Allies and Adversaries: The Joint Chiefs of Staff, the Grand Alliance, and U.S. Strategy in World War II, University of North Carolina Press, Chapel Hill 2000.

 

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