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Die deutsch­-französische Freundschaft und die Zukunft Europas

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Das am 23. Mai 1949 erlassene Grundgesetz legte vor nunmehr siebzig Jahren den Grundstein für die Bundesrepublik Deutschland. Vier Jahre nach Kriegsende wurde damit eine Wende in der europäischen Geschichte eingeleitet. Die Verabschiedung des Grundgesetzes gab dem deutschen Staatsleben eine neue Ordnung, die auf Föderalismus, der Verteidigung liberaler Werte und des demokratischen Rechtsstaates fußt. Seither entwickelt sich die deutsch-französische Freundschaft auf der Grundlage dieser geteilten Werte weiter, die heute dem europäischen Aufbauwerk zugrunde liegen. Beeinflusst durch die amerikanische Verfassung und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, ist das Grundgesetz ein wichtiges und solides Fundament für die Verteidigung der Grundrechte, der Demokratie und des Rechtsstaates. Die bemerkenswerte Stabilität der Bundesrepublik Deutschland hat in kurzer Zeit die Kraft dieses Gesetzes untermauert und es zum Vorzeigebeispiel gemacht. So haben sich junge Demokratien, wie etwa 1975 Spanien, von ihm inspirieren lassen. In Deutschland diente es der Bonner Republik als Kompass, und die ihm entgegengebrachte Achtung hat zu seiner Aufrechterhaltung und zur Bewahrung des Erreichten auch nach der Wiedervereinigung geführt.

Das Grundgesetz wurde nicht einfach nur bewahrt, sondern immer wieder reformiert. Es hat dazu beigetragen, dass das Recht durch die Stärkung der Rolle der Judikative innerhalb der Verfassungsorgane mit Leben erfüllt wurde. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe spielt als wichtigster Garant für die Einhaltung der Verfassung eine Schlüsselrolle. Alle Gerichte haben zur Erarbeitung dieser Gesetzgebung durch die Aufhebung verfassungswidriger Gesetze und den Schutz des Einzelnen vor der Exekutive beigetragen. Ferner gewährleistet das Grundgesetz einen vereinfachten Zugang zum Rechtssystem, indem es jeden deutschen Bürger unter bestimmten Bedingungen dazu berechtigt, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, wenn er der Auffassung ist, dass ein Gesetz seine Grundrechte verletzt. Diesem Beispiel ist Frankreich gefolgt und hat 2008 die „vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit“ (Question prioritaire de constitutionnalité) eingeführt.

Bei anderen wichtigen Themen für unsere Gesellschaften bereichern sich unsere Verfassungstexte gegenseitig, so zum Beispiel im Hinblick auf die Rolle der Frau. Seit 1949 haben die „Mütter des Grundgesetzes“ – vier Frauen, darunter Helene Weber – dafür gekämpft, dass die Gleichstellung von Mann und Frau verfassungsrechtlich verankert wird. In Frankreich garantiert die Verfassung von 1958 die Gleichstellung von Mann und Frau und das Paritätsgesetz seit 1999 den gleichen Zugang von Frauen und Männern zu Wahlmandaten und Wahlämtern. Heute arbeiten Deutschland und Frankreich bei der Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen eng zusammen, insbesondere anlässlich des gemeinsamen Vorsitzes von Frankreich und Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im März und April 2019. Somit ist die Gleichstellung von Mann und Frau und allgemeiner formuliert der Schutz der Menschenrechte, ein wichtiger Bestandteil des Fundaments unserer Zusammenarbeit. Dies war auch ein wichtiges Element des Aachener Vertrages, der am 22. Januar 2019 von Deutschland und Frankreich unterzeichnet wurde.

Seite an Seite

Der Jahrestag der Bundesrepublik Deutschland und seines Grundgesetzes bietet die Gelegenheit, auch den Rechtsstaat und die unerlässliche Kraft einer Demokratie zu feiern, die auf der beständigen und fordernden Suche nach Konsens aufgebaut ist, ohne dabei jedoch Kontroversen oder Diskussionen aus dem Weg zu gehen oder die Meinung von Minderheiten zurückzuweisen, sofern sie sich an das Grundgesetz halten. Somit schloss Deutschland sehr schnell zur Gruppe der großen europäischen Demokratien auf und konnte die Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern besiegeln.

Während der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Frankreich und Deutschland Seite an Seite gewachsen. Zahlreiche gemeinsame Initiativen unserer beiden Länder prägen nunmehr die Geschichte: die Anfänge des europäischen Aufbauwerks und der Deutschland von Robert Schuman 1951 unterbreitete Vorschlag der Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl; der rege Austausch zwischen General Charles de Gaulle und dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer, der 1963 in der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages in Paris mündete. Dieser legte den Grundstein für die Schaffung des Deutsch-Französischen Jugendwerks, da der Jugend ein besonderer Stellenwert bei der Intensivierung der deutsch-französischen Beziehungen eingeräumt wurde.

Seither haben die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern viele Regierungswechsel und auch Unstimmigkeiten erlebt, ohne jedoch den Dialog jemals zu unterbrechen. Die Unterschiede zwischen unseren beiden politischen Systemen bereichern und stärken jeden Tag aufs Neue die deutsch-französische Freundschaft. Die deutsch-französische Kooperation ist heute in allen Bereichen gegenwärtig: in der Politik, der Wirtschaft, in Industrieunternehmen, in der Kultur, im sozialen Bereich und in der Verteidigung, wovon auch die seit 1963 regelmäßig stattfindenden deutsch-französischen Konsultationen, die Gründung von Airbus 1969, die Schaffung des deutsch-französischen Abiturs – Abibac – im Jahr 1972 und die Einrichtung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates 1988 zeugen. Ohne diesen beständigen Willen zur Annäherung hätte 1992 nie die Entscheidung getroffen werden können, den Euro einzuführen und somit einen Riesenschritt auf dem Weg zum Aufbau der Europäischen Union zu gehen, der ohne François Mitterrand und Helmut Kohl nie möglich gewesen wäre. Sie waren bestrebt, die Verheerungen der schrecklichen Kriege zu überwinden, die uns über Jahrzehnte auseinandergerissen hatten, und wurden dafür 1988 mit dem Karlspreis in Aachen geehrt.

Der Aachener Vertrag

Diese Verankerung im kollektiven Gedächtnis findet sich aktuell in der Unterzeichnung des Aachener Vertrages am 22. Januar 2019 wieder. Dieser Vertrag beweist, dass eine Kooperation immer wieder neu gestaltet und neue Lösungen für aktuelle Probleme hervorbringen kann. Nach der durch den Élysée-Vertrag besiegelten Aussöhnung wurde die rechtliche, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Konvergenz zum Leitgedanken dieses neuen Vertrages. In Ergänzung des seit 2003 durch die Einrichtung des Deutsch-Französischen Ministerrats stattfindenden Austauschs zwischen beiden Exekutiven wurde am 25. März 2019 zwischen dem Bundestag und der Nationalversammlung ein binationales Parlamentsabkommen unterzeichnet. Herzstück des Abkommens ist eine Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, die aus je fünfzig Bundestagsabgeordneten und fünfzig Mitgliedern der Nationalversammlung besteht und am 25. März 2019 zum ersten Mal tagte. Sie wird zur Annäherung unserer Parlaments- und Rechtskultur beitragen, um eine größtmögliche Übereinstimmung beider Länder in relevanten politischen Fragen zu erzielen, insbesondere in den Grenzregionen und bei der koordinierten Übertragung europäischer Richtlinien in einzelstaatliches Recht.

Der Aachener Vertrag zielt auf eine Intensivierung des Austauschs auf politischer Ebene ab: Mindestens einmal im Vierteljahr wird ein Mitglied der französischen beziehungsweise deutschen Regierung an der Kabinettssitzung des Partnerlandes teilnehmen.

Ein wichtiges Ziel des Aachener Vertrages ist es, unsere bilaterale Zusammenarbeit entschlossen in den Dienst eines stärkeren, geeinteren, wettbewerbsfähigeren und souveräneren Europas zu stellen, zum Beispiel durch unser gemeinsames Bestreben, die Wirtschafts- und Währungsunion zu stärken, neue Initiativen zu erarbeiten, um Europa auf einem soliden industriellen Fundament aufzubauen, oder unsere Jugend bestmöglich auszubilden, damit sie auch in Zukunft dieses außergewöhnliche politische Abenteuer fortführen kann. Denn die Herausforderung für unser Europa von morgen besteht darin, den Frieden und die Demokratie zu erhalten – diese seit über siebzig Jahren geduldig errungenen Kostbarkeiten, die nur dadurch erlangt werden konnten, weil unsere beiden Länder zunächst ihr eigenes demokratisches System aufgebaut haben. Das Grundgesetz ist dafür die solide und unerlässliche Basis, ebenso wie für uns unsere Verfassung.

Gestützt auf diese starken Vorteile, müssen unsere beiden Länder gemeinsam mit ihren europäischen Partnern die Werte schützen, auf denen diese Texte beruhen und die der europäischen Identität zugrunde liegen. Wenn wir uns bei der Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts an den Inhalt und den Geist dieser Gründungstexte halten wollen, müssen wir diese Werte schützen, wenn sie bedroht werden.

Anne-Marie Descôtes, geboren 1959 in Lyon (Frankreich), 2013 bis 2017 Leiterin der Generalabteilung Globalisierung, Kultur, Bildung und internationale Entwicklung im französischen Außenministerium, seit Juni 2017 Botschafterin der Französischen Republik in der Bundesrepublik Deutschland.

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